Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Ruhe ist des Bürgers erste Pflicht", mahnte im Jahr 1806 der Gouverneur von Berlin die aufgebrachte Bevölkerung, als Friedrich Wilhelm III. eine empfindliche Niederlage gegen Napoleon erlitten hatte. „Ruhe ist des Bürgers erste Pflicht" - nach über zweihundert Jahren kommt diese preußische Tugend immer noch gern als geflügeltes Wort daher. Zwar wird sich kaum ein Politiker unserer Tage trauen, das noch wörtlich zu zitieren. Aber man ist schnell dabei, Demonstranten als „Wutbürger" zu titulieren und sich gegen den „Druck der Straße" zu verwahren. Dabei lernt man doch schon in der Grundschule, dass in der Demokratie das Volk nicht mehr der „Untertan" ist, sondern als „Souverän" das Sagen hat. Demokratie lebt und überlebt nur im Dialog! Eine Streitschrift unserer Tage fordert provokativ: „Empört euch!" Ihr Autor, der 94-jährige ehemalige französische Widerstandskämpfer Stéphane Hessel, ruft geradezu beschwörend den Menschen in der Welt zu, Widerstand zu leisten, denn nur im Widerstand werde „Neues geschaffen..." Und dann rechnet er ab mit der „Diktatur der Finanzmärkte", ergreift Partei für die Flüchtlinge und die Ärmsten in aller Welt und empört sich über die Zustände in Palästina. Seinen baldigen Tod vor Augen, ermutigt Stéphane Hessel zu einem gewaltfreien „Aufstand der Friedfertigen", denn stärker als Gewalt sei die Gewaltlosigkeit. Im Evangelium stoße ich auf eine ganz ähnliche Provokation. „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert..." (Matthäus 10,34). Klingt nicht sehr sympathisch, dieses Jesuswort. Natürlich ist es bildhaft gemeint und fordert die gewaltlose, aber konsequente Auseinandersetzung mit den brennenden Fragen der Gesellschaft. Christinnen und Christen leben nicht jenseits von Gut und Böse und können sich nicht neutral verhalten. Sie müssen heraus aus ihren Kuschelecken und in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung sozusagen eine scharfe Klinge führen, argumentieren, sich einsetzen, sich aussetzen - auch um den Preis, dass es sie selber entzweit. Ruhe ist nicht der Bürger und erst recht nicht der Christen erste Pflicht! Die dürfen gar  keine Ruhe geben, solange irgendwo auf der Welt Menschen bedroht, gedemütigt und in ihrer Würde gefährdet sind. Sie können auch in ihrer Kirche keine Ruhe geben. Denn auch sie lebt und entfaltet sich im Dialog.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=11136
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