Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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„Du, ich pfeife echt auf dem letzten Loch." Mein sonst so gewissenhafter Kollege entschuldigt sich mit diesem Satz. Er hatte zum dritten Mal eine einfache Terminanfrage falsch beantwortet. „Ich bin echt urlaubsreif!", stöhnt er und wir lachen gemeinsam darüber, was die Urlaubsreife mit unserer Konzentrationsfähigkeit macht.
Eine Auszeit muss her von der Arbeit, dem Stress, der Ruhelosigkeit. Auch ich freue mich auf die Ferien. Noch wenige Tage und dann geht es mit Sack und Pack und Mann und Maus an die Nordsee. Frische Luft. Atem holen.
Die Vorfreude ist groß. So groß, dass ich gestern Abend schon Mal die ersten Sachen rausgelegt habe. Auch für die Kinder. Denen komme ich immer zuvor und suche für den Urlaub eine kleine Kiste mit Spielzeug aus, damit der Kofferraum nicht aus den Nähten platzt.
Dabei fiel mir meine alte Flöte in die Hand. Ich hab´ ewig nicht mehr reingeblasen. Als Kind hatte ich eine Zeit lang Riesenspaß an ihr und habe geflötet, was das Zeug hält. Dann hab´ ich sie irgendwie vergessen. Jetzt hat sie gut 30 Jahre auf dem Buckel. An den Grifflöchern ist der Lack ist abgeplatzt. Einen Riss haben die Kinder im do-it-yourself-Verfahren geklebt. Sie sieht richtig fertig aus, meine alte Blockflöte.
Sie erinnert mich an meinen urlaubsreifen Kollegen. „Ich pfeif´ echt auf dem letzten Loch." Ob ich´s mal wieder probieren soll? Ich lege die Finger auf die Grifflöcher und blase vorsichtig in die Flöte. Und: Es kommt ein schöner Ton heraus.
So ähnlich muss das wohl Gott gemacht haben. Als er den ersten Menschen gemacht hat. Da hat er ihm den „Odem des Lebens" eingeblasen. „Odem des Lebens"- so nennen alte Bibelübersetzung poetisch den göttlichen Lebensatem.
Niemand kann sich das Leben selbst einhauchen. Das wird mir geschenkt- mitsamt seinem Atem. Dem kurzen und dem langen Atem.
 „Ich pfeife auf dem letzten Loch", hat mein Kollege gesagt. Vielleicht hilft´s ja, sich ein bisschen an die alte Geschichte zu erinnern. Und tief durchzuatmen. Bis es in den wohlverdienten Urlaub geht. Damit die Zeit bis dahin nicht atemlos wird, nehme ich mir heute Abend schon Mal meine alte Flöte vor. Wer weiß, wie viel power mein  Atem noch hat.

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