SWR2 Wort zum Tag

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In der Klosterkirche zu Vézelay, in Burgund, zeigt das Kapitell einer Säule zwei Darstellungen des Judas, also des Jüngers, der Jesus verriet.
Das erste Relief stellt das Ende des Verräters dar. Judas hängt am Strick.
So hat er nach Matthäus sein Leben beendet.
Das zweite Relief auf der Rückseite lässt mir den Atem stocken.
Da steht Jesus, unverkennbar. Er hat den Strick um Judas' Hals gelöst und trägt den toten Freund auf seinen Schultern. Den, der ihn verraten hat. Dabei entspricht die Armhaltung Jesu der eines Hirten, welcher ein Schaf auf seinen Schultern trägt. Damit wollte der Steinmetz an die Worte vom guten Hirten erinnern. Er lässt bekanntlich die 99 Schafe in der Wüste, um das eine verlorene Schaf zu suchen.
Zu der Zeit, als dieses Kunstwerk entstand, war die Gestalt des Judas zum Inbegriff des Bösen geworden. Judas ist schlimmer als Kain, der seinen Bruder erschlug und schlimmer als Ödipus, der seinen Vater tötete und seine Mutter heiratete. Judas war der Schlimmste. Und ausgerechnet den, dieses verhasste Subjekt trägt Jesus auf seinen Schultern.
Seinetwegen hat Jesus seine Herde, seine Kirche, allein gelassen und sich auf die Suche gemacht.
Das war nicht nur eine Sensation, sondern eine theologische Zumutung.
Sie wäre vergleichbar mit dem Gedanken, dass Jesus die großen Massenmörder wie Hitler oder Stalin auch auf seine Schultern nimmt.
Ich frage mich bei dieser Vorstellung: ist das wahr? Hätte Jesus seinen Verräter wie ein verlorenes Schaf gesucht und gerettet? Hat er es getan?
Es muss doch eine letzte Gerechtigkeit geben! Die Bösen müssen doch bestraft werden, wenigstens die Schlimmsten?
Erst jetzt merke ich, dass ich ja selber dazugehöre.
Wie alle anderen. Oder ist nicht jeder in der Lage; Jesus für ein paar Euro zu verraten?
Ist nicht jeder irgendwann einmal von Gott so enttäuscht, dass er sich völlig verrennt und schuldig wird?
Ja: Dieses Bild erzählt Wahrheit.
Judas, dieser Inbegriff des Bösen steckt in mir, und er steckt möglicherweise in jedem Menschen: schuldig geworden, gescheitert, innerlich zerbrochen.
Und trotzdem wird er von Jesus nicht zurück gelassen, nicht vergessen oder übersehen.
Selbst der tote Judas wird von Jesus mit Respekt und Ehrerbietung nach hause geholt.
Auch für Ihn hat er sein Leben gelassen.
So ist Jesus. Er trägt mich und er trägt alle, die Glücklichen und die Zerbrochenen.
Keine Schuld kann so schlimm, kein Leben so verkorkst sein.
Das ist der Grund, warum ich an ihn glaube.

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