Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Das erste, was ein gesunder Mensch nach der Geburt selbständig tut, ist atmen. Sobald das Kind da ist, kommt der spannende Moment, in dem es den ersten Atemzug machen muss. Und die Erleichterung ist ebenso groß wie die Rührung, wenn der erste Schrei diesen entscheidenden ersten Atemzug lautstark anzeigt. Ein Erwachsener atmet im Durchschnitt 18 Mal in der Minute, 1,3 Millionen Mal im Jahr! Ganz von selbst, ohne dass man es wahrnimmt.
Der Atem bringt Sauerstoff in den Körper und ermöglicht damit die Verbrennungsvorgänge, die wir Stoffwechsel nennen. Und das dauernde Aussetzen der Atmung ist eines der Anzeichen dafür, dass der Tod eingetreten ist. Der Atem verbindet mich mit meiner Umgebung. Wenn ich in einem Raum mit jemand zusammen bin, atme ich die Luft, die auch schon der andere in der Lunge hatte. Und er die meine. In allen Kulturen wird der Atem aber nicht nur als biologische Notwendigkeit gedeutet. Er gilt auch als Bild für das Göttliche, das im Menschen und in allem Lebendigen wirkt. Das Beten wird deshalb oft mit dem Atmen verglichen. Menschen, die etwas davon verstehen, sagen, das Beten sei für den Glauben, was das Atmen für das Leben ist.
Was mich an diesem Vergleich fasziniert, ist das Selbstverständliche. Das Atmen geschieht einfach in mir, wenn ich es geschehen lasse und nicht krampfhaft die Luft anhalte. Und das Beten? Oft meine ich, Gebet sei nur, was ich bewusst tue und in Worte fasse. Oder in den Worten sage, die andere vor langer Zeit formuliert haben. Aber ich wäre arm dran, wenn das die einzige Art zu beten wäre. Denn oft genug vergehen Tage, manchmal Wochen, ohne dass ich die Zeit, die Kraft, die Ruhe habe, mich aufs Beten zu konzentrieren. Dann ist es wie mit dem Atmen: dann betet es in mir, auch wenn mir das oft gar nicht bewusst ist.
Der Apostel Paulus sagt: Gott selbst nimmt sich unserer Unfähigkeit an. Er vertritt uns sozusagen beim Beten, wenn wir leer sind, oder bis oben angefüllt mit allem Möglichen. Wenn wir keine Kraft, keine Lust, keine Gedanken und Worte haben. In der Medizin würde man das Atemspende nennen, wenn ein anderer einem Luft in die Lunge blasen muss. Ich bitte oft um eine solche Atemspende: Ich kann's nicht, Gott, mach du - . Dafür bleibt eigentlich immer die Kraft, und meistens auch die Zeit. Zwischen zwei Atemzügen.

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