Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Die Fahrt über die Autobahn zieht sich öde hin. Aus dem Radio singt mir Konstantin Wecker Mut zu. Es ist eines meiner Lieblingslieder, und weil ich gerade allein unterwegs bin, singe ich mit: „Es sind nicht immer die Lauten stark, nur weil sie lautstark sind. Es gibt so viele, denen das Leben ganz leise viel besser gelingt." Das Lied geht zu Ende, und ich schalte ab. Irgendwann merke ich, dass mir diese Zeilen als Ohrwurm hängen geblieben sind, ich summe sie immer noch.
Auf der Straße sind mir die natürlich lieber, die die Stärke des Motors nicht mit der Stärke des Fahrers verwechseln. Aber auch im richtigen Leben beeindrucken mich Menschen, die ihre Stärke nicht von irgendwelchen Rollen oder Ämtern oder Statussymbolen leihen, sondern aus eigenen Quellen ziehen. Ich denke zum Beispiel an Emmi, die Köchin. Sie war fast 40 Jahre lang der gute Geist in einer großen Werkskantine, und sie sah jedem an, wenn er Kummer hatte oder Magenschmerzen. Dann machte sie Tee oder brachte eine Tablette. Ich denke an Jörg, der mehrfach behinderte Kinder unterrichtet und nebenbei auch noch so was wie ein Sozialarbeiter ist. Ich denke an die Anwältin, der es mehr um die Versöhnung der Parteien geht als um einen einträglichen Rechtsstreit. Ich denke an den Bankberater, der zuerst an die Bedürfnisse des Kunden denkt und dann an den Verkaufsdruck, unter dem er selbst steht. 
Ich glaube, dass solche leisen Kräfte am Ende mehr bewirken können als der lärmende Anspruch politischer oder wirtschaftlicher oder moralischer Macht. Ich weiß allerdings, dass ich an diese leise Stärke besonders dannherankomme, wenn ich auf meine Eitelkeit verzichte. Das geht nicht von jetzt auf gleich. Aber Schritt für Schritt, gleichsam milimeterweise, kann ich mich der Quelle meiner inneren Stärke nähern. So lange ich mich erinnern kann, sehne ich mich danach, mich nicht mehr fragen zu müssen, ob ich im Vergleich mit anderen auch gut genug bin und gut genug dastehe und mich gut genug darstelle. Auch heute bin ich nicht frei davon und werde es wohl nie werden. Aber es ist nicht mehr so wichtig für mich.
Christen haben gerade Pfingsten gefeiert, das Fest des Geistes, den man den Heiligen nennt. Für mich gilt ganz schlicht: Heiliger Geist ist, was mir leben hilft. Und wenn mir mal für einen Tag oder eine Stunde oder auch nur für einen Augenblick ‚das Leben ganz leise gelingt', dann ist das für mich eine Art Pfingsten. Auch wenn ich es nicht so nenne.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10864
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