Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Ein Wolf im Schafspelz - wer diesen Ruf hat, kann einpacken. Niemand wird ihm mehr glauben. Wer mit ihm zu tun bekommt, ist gewarnt und bleibt misstrauisch. Da kann man sich noch so viel Mühe geben, die Freundlichkeit wird immer als Fassade gedeutet. Der Wolf als solcher ist ein eher scheues Wildtier, und er kann nicht viel dafür, dass er in den Märchen und Mythen als der Böse gilt und zum Inbegriff für Aggression und Rücksichtslosigkeit geworden ist. Und mit den Märchen wird dieses Bild von Generation zu Generation weiter gegeben. Und auch, dass der Wolf sich gern verstellt und so tut, als sei er gar kein Raubtier, sondern ein friedlicher Zeitgenosse, der das Schaf spielt oder, noch hinterhältiger, die kranke Großmutter gibt, wie bei Rotkäppchen.
Natürlich habe ich auch schon hin und wieder mit Menschen zu tun gehabt, von denen es hieß, sie seien Wölfe im Schafspelz. Viel öfter aber habe ich mit einer anderen Sorte von Lebewesen zu tun, die auch solche Mischwesen sind. Nicht Wölfe im Schafspelz, sondern Schafe im Wolfspelz. Auch wenn es keine Märchen gibt, die sie unsterblich gemacht haben, ich bin sicher, es gibt sie, und sie leben unter uns, die Schafe im Wolfspelz. Eigentlich sind sie das Gegenteil von Wölfen. Und das ist eben ihr Problem. Sie finden, dass die Welt, in der sie sich behaupten müssen, nur Platz hat für Wölfe. Und deshalb tun sie so, wie wenn sie Wölfe wären, spielen die Starken, Aggressiven, die nie Angst haben und notfalls jeden wegbeißen, der ihnen quer kommt. Wie anstrengend das ist, immer etwas zeigen und durchziehen zu müssen, was man nicht ist! Ich spreche hier nicht von Fabelwesen, sondern von Menschen. Von ganz normalen Menschen, die einfach Angst haben, sie könnten nicht mithalten und kämen unter die Räder, wenn sie sich so zeigen, wie sie sind: durchschnittlich, keine Alpha-Tiere und keine Verlierertypen, keine Überflieger und auch keine Versager, irgendwo dazwischen eben. Und ich frage mich: Was würde passieren, wenn alle, wenn wir alle unseren Wolfspelz zu Hause im Schrank hängen ließen und im Schafskostüm durchs Leben gingen? Wenn wir den Mut hätten, aufs Imponieren und Drohen zu verzichten und einfach wir selber wären? Ich weiß es nicht, denn ich bin ja auch nicht mutig genug, konsequent ich selbst zu sein und nichts herzumachen, was ich nicht bin. Ich finde, es ist Zeit, dass sich mal jemand Das Märchen vom Schaf im Wolfspelz ausdenkt.

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