SWR2 Wort zum Tag

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Was brauche ich zum Leben? Zum glücklichen Leben? Für diesen neuen Tag. Ganz materiell gedacht: Über wie viel Geld muss ich verfügen, damit ich mich mit dem versorgen kann, was ich zum Leben brauche? Beim Nachdenken darüber hat mich ein Gedicht von Reiner Kunze inspiriert:
„Fast ein Gebet"* - schreibt Reiner Kunze über sein Gedicht. Und das geht so:

Wir haben ein Dach
und Brot im Fach
und Wasser im Haus,
da hält man's aus.

Und wir haben es warm
Und haben ein Bett.
O Gott, dass doch jeder
Das alles hätt'!

Brot und Wasser und ein Dach über dem Kopf:  Ist das wirklich a l l e s, was ich zum Glück brauche?
„Ach, dass doch jeder das alles hätt..." Ist das bloß ein Lebensgefühl aus längst vergangenen DDR-Zeiten, als Reiner Kunze noch nicht mit dem prallvollen Warenkorb der westsdeutschen Gesellschaft bekannt war? Nur ein Armutsideal? Oft beschworen gerade von denen, die sich alles kaufen können - mehr als Brot und Wasser und ein Dach über dem Kopf?
Mich berührt Reiner Kunzes Gedicht positiv. Ich möchte ich am liebsten
einziehen - in die Welt seines Gedichts. Seit meiner Kindheit. Da habe ich genau solche Phantasien im Kopf gehabt: Essen und Trinken und eine Wohnung, Kleider und Schuhe inklusive, das was ich im Alltag brauche, das wär´s doch. Mehr brauche ich nicht zum eigenständigen Leben.
Aber dann wurde es immer aufwendiger. Ein Gerätepark hat sich in mein Leben eingenistet - und scheinbar unverzichtbar gemacht. Anlässe und Verbindlichkeiten sind dazu gekommen, mit Erwartungen an Kleidung und Verköstigungen, die einen großen materiellen Aufwand bedeuten. Standards ohne Ende, die es zu erfüllen gilt - sonst gehöre ich nicht dazu.
Darum möchte ich lieber heute noch in Reiner Kunzes Gedichtwelt umziehen. Nicht allein.  „W i r  haben es warm und haben ein Bett", heißt es. Also mit allen Glücksversprechen, die in diesen knappen Worten liegen. Wie schön wäre das, wie satt wäre ich da. Diese Kargheit klagt nicht an - ich fühle mich frei.
 „O Gott, dass doch jeder - Das alles hätt'!" Diese Erinnerung ist nötig. Denn wie viele Menschen müssen gerade das entbehren. „Fast ein Gebet" nennt Reiner Kunze auch darum sein Gedicht. Fast wie ein Vaterunser - kommt es mir vor - wie eine Erklärung einer Bitte daraus: „Unser tägliches Brot gib uns heute..."  Mit Reiner Kunzes Gedicht im Hinterkopf fällt mir auf: Das ist eine Bitte nicht nur für die, die das Nötige entbehren, sondern auch für alle, die im Zuviel ihr Glück verlieren.
Gib uns, was wir heute um Leben brauchen - nicht weniger. 
Und mehr brauche ich nicht. Hilf mir dabei, genau das zu begreifen.
*Reiner Kunze, Gedichte, Frankfurt/M 2001, S.320

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10574
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