SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Die Welt hat sich in den ersten Monaten dieses Jahres so sehr verändert, wie kaum zuvor in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Hoffen und Bangen liegen dicht beieinander, sowohl im Nahen Osten wie auch in Japan.

Teil I
Ich kann mich noch gut entsinnen: Vor Jahrzehnten saß ich in einem Passagierflugzeug von Phnom Penh nach Saigon, den Hauptstädten Kambodschas und Südvietnams. Es war 1974, als der Vietnamkrieg dem allzu langsamen Ende zuging. Ich war seinerzeit Flüchtlingshelfer im Kriegsgebiet. Plötzlich gab es einen lauten Knall im Flugzeug. Unsere Maschine wackelte. Die Passagiere bekamen Angst: Rosenkränze wurden herausgeholt. Es wurde laut gebetet - in allen Sprachen und Religionen. Manche hielten die Hände nach oben. Andere weinten und hielten sich bei der Hand. Ein junges Mädchen versuchte die Mutter zu trösten. Mir selbst fiel ein die Zeile aus dem Psalm, der mein Kindergebet war: „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück".
Es dauerte nur wenige Minuten, da kam der chinesische Copilot von vorne und sagte zu uns Passagieren: „Ja, es war ein Raketensplitter, der unser Flugzeug berührt hat. Wir werden die Maschine sicher landen. Bitte haben Sie keine Angst". Der Copilot versuchte, uns zu beruhigen. Aber wir alle im Flugzeug, inzwischen eine Gemeinschaft zwischen Hoffen und Bangen, waren trotzdem sehr ängstlich. Heute weiß ich nur: ich durfte weiterleben. Seit dieser Zeit ist das Leben für mich ein ganz großes Geschenk, wie ich es vorher nie empfunden hatte.
Wenn ich auf die letzten Wochen schaue, dann denke ich wieder an damals. Die Welt hat sich binnen kurzer Zeit gewandelt. Nichts ist so wie vorher. Ich glaube, wir erleben eine Zeitenwende. Mein Erleben damals im Flugzeug war ja geprägt davon, dass ich aufatmen konnte: Gott sei Dank, ich lebe noch. Geblieben ist mir seit damals die Erfahrung, dass es hilft, in Angst und Not zusammenzurücken. Und dass es gut ist, im Gebet Gottes Nähe zu erfahren. So geht es mir auch, wenn ich den Aufbruch im Nahen Osten vor Augen habe. Ich bin ganz gewiss, dass Gott die Welt und unser Leben in seinen Händen hält. Ehrlich gesagt, kaum jemand wollte sich vor kurzem so viel hoffnungsvolle Demokratiebewegung mitten in der islamischen Welt vorstellen. Ich hoffe und bete, dass die Menschen dort einen guten Neuanfang finden.
So eine Zeitenwende ist dazu da, innezuhalten und danach zu fragen: Was kann ich tun, um mein Leben neu zu gestalten? Wie kann ich dazu beitragen, Lebenswichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden? Zum Beispiel: Wie kann es auch durch mich geschehen, dass unsere Welt und unser Zusammenleben friedlicher wird? Dass Feindschaften abgebaut und Vorurteile überwunden werden? Wie kann ich selbst als manchmal ziemlich tiefgekühlter Christ mich auftauen lassen zu leidenschaftlicher Liebe, die auch meine Umgebung spürt und verändert? Ansporn und Ermutigung ist mir dabei die Losung für diesen Passionssonntag aus Psalm 127. Sie lautet: „Wenn der Herr nicht das Haus baut, so arbeiten umsonst, die daran bauen".

Teil II
„Wenn der Herr nicht das Haus baut, so arbeiten umsonst, die daran bauen". Anscheinend hat auch der Psalmbeter Erfahrungen gemacht, die ihn skeptisch machen. Und seine Erkenntnis ist: Gott muss dabei sein, bei dem, was Menschen tun. Sonst läuft alles aus dem Ruder. Sonst gerät alles außer Kontrolle.
Dabei hält der Beter eine tröstliche Doppelbotschaft für uns bereit: Gott allein schafft und erhält unser Leben. All mein Mühen und Sorgen, mein Eifern und mein Ehrgeiz sind vergeblich, wenn es ohne Gott geschieht. Aber Gott lässt uns auch dann nicht allein, wenn - mit dem Psalm zu sprechen - das Haus gebaut ist, seine Schöpfung vollendet ist. Denn weiter heißt es im Psalm: „Wenn der Herr nicht die Stadt behütet, wacht der Wächter umsonst".
Deswegen ist es aber auch höchste Zeit, nach Gottes Willen zu fragen: ob unser Hausbau stimmt und ob wir einander so behüten, wie der Hüter unseres Lebens es gewollt hat. Die Erfahrungen in Fukushima sind eine bittere Lehre für die ganze Menschheit. Mir kommt es so vor, als ob Gott selber zu uns sagt: Kehrt um. Die Erde gehört Euch nicht. Sie ist nicht Euer Besitz. Sie ist Euch auf Zeit anvertraut, damit sie bewohnbar bleibt. Euer Drang nach Mehr und Billiger und Größer zieht Euch den Boden unter den Füßen weg. Die Technik ist außer Kontrolle. Sie wird zu einer tödlichen Falle. Die Natur wehrt sich. Die Welt gerät aus den Fugen.
Und mir kommt es so vor, dass dies die eigentliche Zeitenwende ist: dass ich das Geschenk meines Lebens neu ausrichte an Gott, dem guten Schöpfer und Hüter meines Lebens. Dass ich auch all das, was ich derzeit nicht verstehe, in seine Hand lege. Weil ich darauf vertraue, dass er alles und auch das Dunkle in Segen wandelt.
An Jesu Leben kann ich ablesen, wie der Segen für mich gemeint ist: Er heilt Kranke, er besucht Verlassene, er tröstet die Verzweifelten, er sättigt die Hungrigen, er bringt Verrückte zur Einsicht. Und selbst ein Wahnsinniger lässt ab von seiner Gewalt. Das ist die neue Welt, die mit Jesus anbricht, die neue Zeit, die mit ihm kommt: Das Grauen, das mich jetzt bedrückt, ist Morgengrauen. Die Verirrten werden behütet. Die Verzweifelten können wieder hoffen. Wer sich selbst aufgegeben hatte, fällt in seine liebenden Hände. Ja, die wunderbare Botschaft der Bibel in dieser Zeit zwischen Hoffen und Bangen lässt mich nicht los: „Und Gott wird abwischen alle Tränen von unseren Augen, und kein Leid wird mehr sein und kein Geschrei" (Offenbarung 21,4).
Ich wünsche mir, dass ich mich in die werdende Welt Gottes hinein ziehen lasse. Dass ich diese Zeitenwende erfahre als Gottes neue Zeit mit uns und für uns. Dass ich seine Gnade spüre und seine Güte erlebe. Dass ich in den Stürmen der Zeit fest daran glaube: Du, Gott, gibst mich nicht auf. Du verwandelst das Dunkel in Licht. Du lässt mich die Welt sehen, wie sie in deinen Augen gemeint ist - unendlich liebevoll und hoffnungsvoll. Und in der Not einander tröstend und voller Barmherzigkeit. Ja, der uns behütet, schläft nicht.
Ich wünsche Ihnen einen guten Sonntag.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10375
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