SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Manchmal habe ich das Nach-Sehen. Nach-Sehen heißt: Es ist zu spät, ich schaue einer verpassten Gelegentheit hinterher. Da haben die anderen wieder mal etwas geplant und beschlossen, ohne mich zu fragen. Es wäre so gut gewesen, wenn jemand angerufen hätte, noch besser, wenn jemand sich bei mir hätte sehen lassen. Ich hätte Klarheit gewonnen in dem Nebel aus Gerüchten und Meinungen, ich hätte reden können. Jetzt aber fühle ich mich übergangen und habe das Nachsehen.
Man kennt das, dass Menschen etwas klar sehen wollen - und dann das Nach-sehen haben.
Oder es zumindest so empfinden. Ein berühmtes Beispiel in der Bibel ist Mose.
Mose möchte Gott sehen.
Bisher hat er sich immer auf Gott verlassen. Aber jetzt kann er das nicht mehr. Das Vertrauen ist nicht mehr da.
Mose möchte in Gottes Pläne eingeweiht sein, er möchte ein Mitspracherecht haben.
Er möchte jetzt endlich mal ganz klar sehen, Sicherheit haben, ohne Risiko glauben.
Lass mich deine Herrlichkeit sehen, bittet Mose seinen Gott.
Und er meint damit: Laß mich teilhaben an deinen Plänen, dass ich weiß, wie es weitergehen soll.
Sag mir bitte, was du denkst, dass ich dir folgen, dich besser verstehen kann.
Lass mich dir ins Angesicht schauen, daß ich nie mehr an dir zweifeln muß.
Ja, manchmal wünsche ich mir das auch: Dass Gott sich blicken lässt.
Ich möchte mal direkt mit ihm reden, ein paar direkte Antworten von Ihm bekommen.
So vieles liegt im Zwielicht.
So viele schwierige Entscheidungen sind zu fällen.
Hilf mir, Gott! Mach der Ungewißheit ein Ende.
Schenk mir ein kleines göttliches Nicken, oder falle mir meinetwegen in den Arm.
Zeitraubende Umwege, quälendes Warten blieben mir erspart!
Gott erfüllt diese Wünsche nicht. Er sagt: „Mein unverhülltes Angesicht kannst du nicht sehen."
Aber dann heißt es: Du darfst hinter mir hersehen, wenn ich an dir vorübergehe.
Du wirst meine Spur sehen und wissen, dass ich da gewesen bin. Dass du nicht allein bist. Dass ich dich nicht übergangen habe, sondern lediglich vor dir hergehe.
Mose hat also, wenn man so will, das Nach-Sehen. Er schaut Gott hinterher, und das ist ein schönes, ein heilsames Hinterhersehen. Ich darf hinter Gott hersehen, darf Gottes Dasein an seinen Spuren ablesen.
Ja, Gott lässt sich blicken.
Aber nicht von vorne, nicht so direkt, wie man es sich manchmal wünscht.
Die Sehnsucht nach letzter Klarheit und Gewissheit - sie wird bleiben.
Aber immer wieder wird es dieses wunderbare, dieses tröstliche Nach-Sehen geben.
Und ich staune und erkenne: Hier ist Gott an mir vorübergegangen.

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