Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Er ist 89 Jahre alt und er tanzt und Hunderttausende schauen ihm zu. Im Internet, auf youtube habe ich ihn gesehen. Was Adolek Kohn zum Star im Internet macht, ist allerdings nicht seine Begabung zum Tanzen.
Als 18jähriger verlor er seine Brüder im Ghetto von Lodz. Seine Mutter wurde in Auschwitz im Gas ermordet. Er selbst überlebte das Konzentrationslager genauso wie seine spätere Frau. Nach dem Krieg gingen sie nach Australien - so weit weg wie nur möglich. Sie haben zwei Töchter, sechs Enkel und drei Urenkel. Jetzt - 89jährig - ist Adolek Kohn zurückgekehrt nach Europa.
Seine Tochter, eine Aktionskünstlerin, hatte die Idee, mit Ihrem Vater und ihren Kindern zu dem Ort zu fahren, an dem er die schlimmsten Verbrechen erleben musste. Und sie hatte die Idee, dort zu tanzen - auf das Lied einer schwarzen Sängerin[1] aus den USA. „I will survive" heißt das Lied: „Ich werde überleben".
Und so tanzen die fünf in Auschwitz - zuerst verhalten, als wäre ihnen bewusst, dass sie etwas Verbotenes tun. Dann immer entspannter und schließlich ausgelassen wie eine Amateur-Fußballmannschaft, die ein Turnier gewonnen hat. In einer Szene ist Adolek Kohn allein zu sehen wie er vor einem der Öfen steht, in dem die Leichen verbrannt wurden. Er trägt ein T-Shirt mit dem Aufdruck "Survivor"/Überlebender und macht das V-Zeichen - die Botschaft könnte eindeutiger nicht sein: „Schaut her, ich lebe".
Adoleks Tochter hat ein vierminütiges Video von seiner Reise zurück in die Vergangenheit gedreht, von seinem Tanz an den Stätten der menschlichen Grausamkeit. Als sie es auf dem Internetportal youtube[2] veröffentlichte, brach dort eine heftige Debatte los. Begeistert und hitzig. „Ergreifend und berührend", kommentieren die einen, „der Sieg des Menschlichen über das Unmenschliche". Es sei pietätlos, an einem Ort zu tanzen, wo Menschen solches Grauen erleben mussten, sagen die anderen.
Eine Zeitung hat Adolek Kohn gefragt, warum er denn unbedingt tanzen musste: „Wir tanzen immer", hat er gesagt, „das ist bei uns so üblich." Ja, aber warum in Auschwitz? „Weil sie nicht erfolgreich waren mit ihrer Vernichtung."
Wenn es Gott gibt, dann ist er in Auschwitz gestorben, sagen viele. Ja. Mit jedem einzelnen Opfer ist Gott dort und anderswo gestorben. Aber Gott ist nicht tot. Er lebt. Und deshalb tanzt Adolek Kohn den Tanz des Sieges über den Tod. Er tanzt für alle Opfer und alle Verfolgten. Weil Gott stärker ist als alles Unrecht und stärker als der Tod.


[1] Gloria Gayner, „I will survive"; www.youtube.com/watch?v=Tth-8wA3PdY.
[2] Video "I will survive Auschwitz"; www.youtube.com/watch?v=3AdB4TVZKNA.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10126
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