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SWR4 Sonntagsgedanken

07APR2024
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Ich erinnere mich an eine Kunstinstallation, die in den 70er Jahren eine große Unruhe ausgelöst hat. Der Künstler Joseph Beuys hat mitten in München in einem Fußgängertunnel folgende Szene gestaltet: Vor einer Betonwand stehen zwei Leichenbahren aus der Pathologie, an der Wand hängen zwei Tafeln mit der Aufschrift: „Zeige deine Wunde“. Joseph Beuys hat seine Aktion mit folgenden Worten erklärt: „Zeige die Wunde, weil man die Krankheit offenbaren muss, die man heilen will“.

Es ist ein ungewohntes Bild, mitten in einer belebten Fußgängerzone. Josef Beuys zeigt uns den Teil der Wirklichkeit, den wir gerne ausblenden. Er erinnert an Wunden und Verletzungen, an Krankheit und an Tod und weist auf die vielen äußerlich und innerlich angeschlagenen Menschen hin. Es gibt nicht nur die gesunden und fitten Menschen oder die schönen und erfolgreichen. Beuys entzaubert eine scheinbar heile Welt und erinnert daran, wie begrenzt unser Leben ist und wie verletzbar wir sind: Unsere Vorstellung entspricht nicht der Wirklichkeit. Keiner ist pausenlos einsetzbar, wir haben nicht alles im Griff und sind schon gar nicht nur die Macher und Könner. Unser Körper kann versagen, wir fühlen uns erschöpft und ausgebrannt, weil wir oft genug unsere Kräfte überschätzen. Und dann ist da die eine Grenze, über die wir nicht gerne reden. Ich meine den Tod. Die zwei Bahren von Josef Beuys sind unmissverständlich, sie signalisieren: An dieser Grenze unseres Lebens kommt niemand vorbei. Das ist die Wunde, die uns alle betrifft.

„Zeige deine Wunde“ – diese Kunstinstallation kann man heute in einem Museum in München anschauen. Auch nach so vielen Jahren regt sie zum Nachdenken an und provoziert.

Unsere Wunden zeigen – wo können wir das? Wo kommen unsere Ängste und Verletzungen ans Licht? Nach außen hin müssen wir funktionieren, wie es tatsächlich um einen steht, wird verschwiegen. Aber die Fassade trügt. Dahinter sitzt oft ein einsamer oder verzweifelter Mensch, der niemanden hat, dem er sich offen zeigen kann.

Eine biblische Geschichte erzählt von solch einer Situation: Es geht um Thomas, einen der Jünger von Jesus. Der ist nach dem Tod Jesu total verunsichert und zweifelt an dem, was die anderen ihm erzählt haben. Nämlich, dass Jesus auferstanden sei. Ich habe nie verstanden, dass man diesen Thomas den Ungläubigen nennt. Denn er will nicht bloß auf das hören, was die anderen sagen, er will selber sehen, selber erfahren, dass Jesus lebt und bei ihnen ist. Für mich ist er einer, der sucht, der zweifelt und der gleichzeitig ganz tief mit Jesus verbunden ist. Von wegen der Ungläubige! Das macht ihn mir so sympathisch.

Thomas sieht die verwundeten Hände und die verletzte Brust Jesu. Das ist der entscheidende Augenblick. Jetzt kann Thomas an ihn glauben. Erst die Wunden, die Verletzung, die Verletzlichkeit Jesu machen ihn für Thomas glaubwürdig. Da ist einer wirklich ganz menschlich, der sich nicht geschont, sondern sich für die anderen aufgeopfert hat. Da scheut sich einer nicht, auch seine Verwundung und seine Ohnmacht offen zu zeigen. So kann Thomas erkennen, dass Jesus nicht bloße Einbildung, nicht bloße Fantasie ist, sondern ein wirklicher Mensch, nahbar und berührbar. Er erfährt, wie menschlich Jesus mit ihm umgeht. Er versteht seine eigenen Zweifel, sieht seine Not und spürt seine große Sehnsucht.

Für mich ist diese Szene ein wunderbares Beispiel für Freundschaft und Nähe. Zwei Menschen trauen sich, einander ihre Schwäche zu zeigen. Sie müssen sich nicht gegenseitig behaupten und eine scheinbar heile Fassade aufrecht halten, sie brauchen sich nichts vormachen und können sich so zeigen, wie sie sind. Ein Philosoph sagt dazu: „Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren“. Das passt zu der Begegnung von Thomas und Jesus.

Vielleicht hat sich Josef Beuys bei seiner Installation „Zeige deine Wunden“ von dieser biblischen Geschichte berühren lassen. Jedenfalls wusste er, wie heilsam es ist, wenn wir unsere Schwächen zeigen können. Wenn jemand da ist, der uns mit ehrlichen und menschlichen Augen anschaut. Dann können Wunden heilen!

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SWR4 Feiertagsgedanken

26DEZ2023
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Jahr für Jahr faszinieren mich die verschiedensten Krippen, die es in der Advents- und Weihnachtszeit überall zu sehen gibt. In ihrer Grundausstattung sind sich alle ähnlich: Dazu gehören das Kind in der Krippe, daneben Maria und Josef, Ochs und Esel, ein paar Schafe und Hirten und über allem der Stern und sangesfrohe Engel. Und je nach Geschmack oder Tradition kann diese weihnachtliche Szene natürlich ergänzt und erweitert werden.

Ich habe kurz vor Weihnachten eine besondere Krippe entdeckt; in einer Kirche, direkt vor dem Altar. Dort ist nur ein Futtertrog gestanden mit einem Büschel Stroh. Eine leere Krippe also, die sagen will: Das Wichtigste fehlt noch.

Nicht zu übersehen war das Stroh, eine Menge Stroh! Natürlich hat das zunächst eine praktische Seite. Das Kind soll später weich liegen können und soll es in der kalten Nacht gut haben. Aber ich meine, Stroh hat auch eine tiefere Bedeutung.

Wir sprechen von einem Strohfeuer und denken dabei an eine kurzlebige und oberflächliche Begeisterung. Wir sagen, dass einer nur leeres Stroh drischt und hören nichtssagende Worte. Und wenn einer dummes Zeug macht, dann hat er nur Stroh im Hirn oder ist strohdumm. Stroh ist Mist und Abfall, gerade richtig für den Stall oder für die armen Menschen, die wie ihre Tiere auf dem Stroh schlafen.

Ich verstehe immer mehr, dass das Stroh an Weihnachten nicht nur eine kleine Requisite ist, die zu einer Krippe eben dazu gehört. Es ist vielmehr Teil der guten und frohen Botschaft, die Christen an Weihnachten feiern.

Rainer Maria Rilke schreibt:“Die Menschen schauen immer von Gott fort. Sie suchen ihn im Licht, das immer kälter und schärfer wird, oben. Und Gott wartet anderswo – wartet ganz am Grund von allem. Tief. Wo die Wurzeln sind. Wo es warm ist und dunkel.“

Gott kommt buchstäblich herunter. Von ganz weit oben nach tief unten! So kommt Licht in die Nacht, in die Leere, in die Armut von uns Menschen. Wir würden ihn nie im Stroh und in der Armseligkeit suchen. Aber eben dort will er entdeckt und gefunden werden.

Wie das gemeint ist, mit dem heruntergekommenen Gott, davon erzählt auf amüsante Weise diese Szene:

Ein kleiner Bub schaut sich die Kinderbibel an und ist bei der Weihnachtsgeschichte angekommen. Da ruft er aus voller Kehle den Ruf der Engel: “Ehre sei Gott in der Höhle!“ Scheinbar hat er etwas missverstanden. Die Engel singen in der Höhe und nicht in der Höhle. Und dennoch! Er hat damit wunderbar den Kern der Weihnachtsbotschaft erfasst.

Gott ist eben nicht nur in der Höhe, weit weg, hell leuchtend irgendwo im Himmel. Sondern er ist auch in der dunklen Höhle, in der Felsengrotte eines Stalls in Betlehem. Auf Heu und auf Stroh: Aus der goldenen Herrlichkeit des Himmels, auf das Strohlager der Ärmsten! Das ist sein Weg zu den Menschen. Ein wahrlich „heruntergekommener“ Gott.

Später, wenn dann das kleine Kind aus dem Stall als Jesus von Nazareth in die Öffentlichkeit tritt, wird dieser Weg Gottes von oben nach unten weithin sichtbar. Man trifft ihn am Tisch bei den Sündern, denen man lieber aus dem Weg geht. Er steht an der Seite von kranken und leidenden Menschen, die andere schon längst abgeschrieben haben, er hält sich nicht an Gesetze, die für ihn zu toten Buchstaben geworden sind und er spricht in wunderbarer Weise von der Güte Gottes, die gerade den armen und einfachen Menschen zukommen will. Für viele, die nichts mehr von ihrem Leben erwarten, wird Jesus so zum Lichtblick in ihrer Not, zum rettenden Strohhalm, an den sie sich voller Hoffnung klammern.

Ich glaube, dass wir diese Hoffnung, diese Sehnsucht gut verstehen und vielfach selber in uns verspüren. Ich halte es manchmal schier nicht aus. Hier die schönen Bilder und Klänge eines frohen Festes und dort die zerbombten Häuser und die geschundenen Menschen. Die Botschaft von Betlehem hat es dieses Jahr besonders schwer, weil vom „Frieden auf Erden“ so wenig zu spüren ist.

Aber gerade deswegen ist Weihnachten wichtig. Jesus will mehr sein als eine schöne Kulisse für ein stimmungsvolles Fest. Er zeigt uns einen Weg, wie der Friede auf Erden wahr werden kann. „Mach es wie Gott, werde Mensch!“Ohne Gewalt, klein und ohnmächtig wie ein Kind, wirbt er darum, dass wir ihn aufnehmen und seinem Frieden wirklich eine Chance geben.

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SWR4 Sonntagsgedanken

05NOV2023
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Viele werden die Bilder nicht mehr vergessen. Das entsetzliche, unmenschliche Massaker, das die Terrororganisation Hamas an unschuldigen Israelis angerichtet hat. Dazu Menschen, die das weltweit, auch in unserem Land, bejubeln und für gutheißen. Und jetzt sehen wir die Opfer des Krieges auf beiden Seiten; getötete, verletzte, flüchtende Menschen jeglichen Alters, die wahrscheinlich genauso in Frieden leben wollten wie jeder von uns. Aber wie soll das gehen?

Ein jüdischer Freund erzählt mir von seiner Trauer und seiner Wut, Wut auch auf die eigene Regierung, die sich mit anderen Dingen beschäftigt hatte als mit einer vernünftigen und entgegenkommenden Siedlungspolitik. Er sagt mir, es gibt nur einen Weg: „Wir müssen die Rechte jedes Menschen in unserem Land achten, niemand darf als Mensch zweiter Klasse behandelt werden und jeder hat ein Recht auf Heimat und Sicherheit.“ Und das sage er zu den Israelis genauso wie zu den Palästinensern.

Ich bin überzeugt, solche Stimme gibt es auch auf der anderen Seite. Nicht alle Palästinenser wollen die Juden ins Meer jagen, wie es die Hamas in ihrem Programm stehen hat, nicht jeder Palästinenser ruft „Allah ist groß“ und zündet dabei eine Rakete, nicht alle sind Feinde Israels. Aber offensichtlich finden diese versöhnlichen Stimmen kein Gehör. Sie gehen unter in einem festgefahrenen Freund-Feind-Denken. Da gibt es nur schwarz-weiß und entweder-oder. Aber so gibt es keinen Weg zur Verständigung.

Ich bin seit vielen Jahren regelmäßig in Israel. In diesen Tagen denke ich oft an einen Reiseleiter, der uns auf einer Pilgerreise begleitet hat. Er erzählte uns von einem Mann, der mit zwei Körben beladen vom Markt kam. Weil er müde war, setzte er sich auf die Treppe eines touristisch wichtigen Gebäudes. Und dann hört unser Reiseleiter wie ein Kollege zu seiner Gruppe folgendes sagt: „Seht ihr den Mann dort mit den zwei Körben? Schaut an ihm vorbei, und dann nach rechts auf diesen wunderbaren romanischen Bogen“. In diesem Augenblick, so sagte unser Reiseleiter, sei ihm deutlich geworden: „Die Erlösung kommt nur dann, wenn der antike Bogen nicht wichtiger ist als der Mann, der für seine Familie auf dem Markt eingekauft hat.“

Jeder einzelne Jude, Muslim, Christ ist ein Geschöpf Gottes, jeder will gesehen werden, mit seinem Namen anerkannt und geschätzt sein, jeder braucht einen Ort, wo er selbstbestimmt und frei leben kann. Das ist ein Grundbedürfnis, das nicht zu verhandeln ist und ohne das ein friedliches Zusammenleben nicht möglich ist.

 

Ich durfte im Sommer einen Monat lang bei den Benediktinern am See Genezareth wohnen, ganz in der Nähe, wo heute leider viele ihre Dörfer verlassen müssen, um sich vor den drohenden Angriffen der Hisbollah zu schützen.

Ich habe mich in dieser wunderbaren Landschaft noch einmal mit der Botschaft beschäftigt, die Jesus dort verkündet und den Menschen erlebbar nahegebracht hat. Und dabei ist mir deutlich geworden, wie sehr Jesus einzelne Menschen im Blick hatte und wie einfühlsam und konkret er auf ihre Bedürfnisse eingegangen ist.

Immer wieder wird erzählt, wie gelähmte, handlungsunfähige, blockierte Menschen zu Jesus gebracht werden. Er schaut sie an, gibt ihnen Mut und Vertrauen und löst sie aus ihrer Lähmung, so dass sie wieder gehen und auftreten und leben können. Anderen öffnet er den Weg zurück in die Gemeinschaft und beheimatet sie neu im Miteinander mit ihren Nachbarn und Glaubensgenossen. Bei Jesus gibt es keine Namenlosen und Abgeschriebenen und darum durchbricht er so oft gesellschaftliche und religiöse Barrieren. Er will den Menschen zeigen, dass sie bei Gott einen Namen haben und einzigartig geliebt sind. Er kämpft gegen Feindbilder und Vorurteile und wird richtig zornig, wenn Gott für eigene Interessen missbraucht und beansprucht wird.

Gott sei Dank treten immer wieder Menschen in seine Spur und versuchen sein großes Anliegen mitzutragen. Ich denke zum Beispiel an die deutschen Ordensfrauen in Jerusalem, die gastfreundlich Pilger aufnehmen und vor allem einen großen Kindergarten leiten, der besonders von christlichen und muslimischen Kindern besucht wird. So tragen sie von Anfang an dazu bei, dass die Kinder und ihre Familien einander kennenlernen und sich begegnen. Feindbilder können ja nur wachsen, wenn man nichts voneinander weiß und in seinen eignen Grenzen bleibt.

Auch die Benediktiner auf dem Berg Zion wollen für alle Menschen offen sein. Sie suchen den Dialog mit den anderen christlichen Kirchen aber genauso mit ihren muslimischen und jüdischen Nachbarn. Sie sehen und erleben jeden Tag den Reichtum dreier großer Religionen, merken aber auch, wie herausfordernd und anstrengend der Dialog untereinander sein kann. Und dennoch! Sie bleiben auf ihrem Posten. Und hoffen weiterhin, dass Feindbilder überwunden werden und Menschen sich jenseits aller Grenzen als Geschöpfe des einen Gottes erkennen, der ein Gott für alle ist.

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SWR4 Sonntagsgedanken

27AUG2023
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Immer wieder lese ich im Tagebuch des verstorbenen Tübinger Professors Fridolin Stier. Er war Professor für Altes Testament und ist unter anderem berühmt geworden, weil er verschiedene Biblische Bücher übersetzt hat. Ein sprachgewaltiger und leidenschaftlicher Mann, der zeitlebens nicht nur um das treffende Wort gerungen hat, sondern mehr noch: Er hat mit Gott gerungen und hat es sich in seinem Glauben nie leicht gemacht hat. Ich bin ihm einmal persönlich begegnet und mir bleibt eine seiner Aussagen unvergesslich: “Mein Problem“ sagte er, „ist nicht, ob Gott ist oder nicht, das meine beginnt damit, dass er Er ist.“ Fridolin Stier hatte große Not angesichts vieler leidvoller Erfahrungen, auch in seinem eigenen Leben, fraglos an Gott zu glauben. Er hat mit Gott gehadert und gestritten, gekämpft und hat ihn angefleht und dann oft wieder einfach nur geschwiegen. Aber Gott ist er in seinem ganzen Leben nie losgeworden. Ich glaube, dass eine kleine Notiz in seinem Tagebuch zeigt, wie er trotz aller Krisenerfahrungen in einem tiefen Vertrauen verwurzelt war.

Fridolin Stier erzählt von einem oberschwäbischen Bauern, der auf dem Sterbebett lag. Der Bauer sagte zu seinem studierten Landsmann: “Weißt du, wenn ich daran denke, Sommerfrühe, Sense auf dem Buckel, Mostkrug in der Hand, hinaus, Sonne, glitzernder Tau im Gras, singende Vögel, Himmel und Wald…“Do hätt i denn oft grad juzga kenna!“ Und: “Do hon e gmerkt, dass do no ebbes ischt.“-Stier überliefert diese beiden Sätze im Schwäbischen Dialekt, was auf gut deutsch einfach bedeutet: Da hätte ich oft einfach jauchzen können und da habe ich gemerkt, dass da noch etwas ist.

Das sind keine frömmelnden oder gar abgehobenen Worte. Sie spiegeln den nüchternen und oft beschwerlichen Alltag eines Bauern, der sich aber eine wunderbare Fähigkeit bewahrt hat. Er kann noch staunen. In aller Früh sieht er nicht nur seine Arbeit und was unbedingt erledigt werden muss. Er sieht mehr, vielmehr als das, was man mit den Augen erblicken kann. Er merkt, dass da noch etwas ist, was weit über unsere Möglichkeiten hinausgeht und was wir Menschen nicht machen und erfinden können.

Mich berührt sehr die Bescheidenheit des Bauern. Wie behutsam und zurückhaltend er von seinem Glauben spricht. Ich weiß nicht, wie er Gott und seine Religion erlebt und gelebt hat. Auf jeden Fall blieb für ihn der Himmel immer einen Spalt weit offen. „Da habe ich gemerkt, dass da noch etwas ist“. Vielleicht konnte er sogar manchmal sagen: “Da habe ich gemerkt, dass da noch jemand ist.“

Es gibt einen uralten biblischen Text, der entstanden ist, weil ein Mensch staunt und überwältigt ist: Er schaut zum Himmel, sieht die Sterne und den Mond und spürt: das ist wirklich nicht zu fassen. Der Theologe Fridolin Stier hat den Psalm aus der hebräischen Bibel auch übersetzt und bei ihm heißt es dann so: “Wenn deine Himmel ich schaue, das Werk deiner Finger, Mond und Sterne, die fest du gestellt, was ist der Mensch, dass seiner du denkst, der Adamsohn, dass seiner du achtest!

Natürlich kann man die Dinge ganz anders betrachten und weniger ergriffen und poetisch ausdrücken. Die Bibel ist kein naturwissenschaftliches Lehrbuch. Sie ist voll von Glaubenszeugnissen, die in Worten und Liedern hinter die Dinge schauen lassen. Und alle beginnen immer wieder mit dem Staunen. “Warum ist überhaupt etwas und nicht viel mehr nichts?, warum gibt es diese große und einzigartige Schöpfung, warum dieser grandiose Kosmos, in dem wir Menschen ja nur ein Staubkorn sind?“ Wenn ich so frage und dabei zum nächtlichen Sternhimmel aufblicke, komme ich an kein Ende. Mit dem Staunen und sich wundern fängt alles an. So entstehen Gebete und Lieder und aus dem „etwas“ wird ein jemand. So kommt Gott zum Vorschein, der alles geschaffen hat und am Leben hält

Wer staunt steht manchmal ganz dumm da. Sprachlos, mit offenem Mund. Und das ist gut so. Es ist der Moment, wo ich nichts mehr verstehe. Junge Menschen sagen manchmal in so einer Situation mit leuchtenden Augen einfach nur: „wow“

Für mich ist das längst nicht mehr Jargon sondern ein wichtiges theologische Wort, vielleicht könnte ich auch sagen, „Wow“ ist tatsächlicher einer der Namen Gottes. Ich denke, dass mit dem Staunen der Glaube beginnt und dadurch der Himmel immer ein Spalt weit offen bleibt. Wir könnten es ja einmal selber versuchen. Wo immer uns die nächsten Tage hinführen, es gibt sicher Situationen genug, wo wir das Stauen wieder lernen können. Vielleicht ist es das Gesicht eines lieben Menschen oder eine schöne Landschaft oder ein wunderbares Kunstwerk oder was auch immer. Wir stehen da mit offenen Augen und können nichts anderes sagen als einfach nur: wow!

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SWR4 Feiertagsgedanken

08JUN2023
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Die letzte Erzählung, die Franz Kafka zu seinen Lebzeiten veröffentlicht hat, heißt „Ein Hungerkünstler“. Am heutigen Fronleichnamstag kommt mir diese Erzählung in den Sinn. Weil sie uns etwas über den Hunger der Menschen auf das Leben erzählt. Und der spielt an Fronleichnam eine große Rolle. Dieser Hungerkünstler ist eine seltsame Gestalt. Auf Jahrmärkten hat er große Auftritte gehabt und große Zeiten erlebt. Die sind jetzt vorbei. Mit dem Hunger leben zu können, ist uninteressant geworden. Der Wohlstand ist ausgebrochen, die Massen rennen im Zirkus achtlos am Hungerkünstler vorbei. Der Mann mit seiner Kunst, den Hunger wachzuhalten, wird vergessen. Man entdeckt ihn eines Tages zufällig beim Aufräumen in seinem Hungerkäfig. Er hungert noch immer – und die Leute denken, er will sich nur interessant machen. Erst im Gespräch mit dem Aufseher kommt heraus, was hinter seiner eigentümlichen Kunst zu verzichten steckt: Nichts von Geltungssucht, nichts von Wichtigtuerei! Er hat gar keine andere Wahl: “Ich kann nicht anders!”, sagt der Hungerkünstler, „weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie Du und alle.“

Die Geschichte endet mit einem offenen Schluss. Es wird nicht gesagt, nach welcher Speise dieser Mensch hungert. Offensichtlich konnte er nicht finden, was er die ganze Zeit gesucht hatte. Sicher ging es ihm nicht nur um dieses oder jenes Brot oder nur um leibliche Nahrung. Sein Hunger scheint grundsätzlicher zu sein. Er bräuchte nicht nur etwas zwischen die Zähne und für den Magen. Er bräuchte Nahrung für seine Seele.

Wie alle übrigen Menschen lebt auch er nicht vom Brot allein. Er will anerkannt werden, respektiert sein und in dem, was er ist, wertgeschätzt werden. Ich glaube dieses Verlangen, dieser Hunger lebt in jedem Menschen. Jeder von uns kennt ihn.

“Hunger auf Leben“ habe ich einmal auf einem geschickten Werbeplakat einer Bäckerei gelesen. Hunger auf Leben ist mehr als Hunger auf Brot. Ich frage mich: In welcher Bäckerei sollte ich diesen Hunger auf Leben stillen können?

Es geht heute um ein kleines Stück Brot, das für die katholischen Gemeinden im Mittelpunkt steht. Sie glauben, dass in der Hostie, in diesem kleinen Brot, Jesus Christus bei ihnen da ist. Sie feiern deswegen ein buntes und fröhliches Fest. Gottesdienste und feierliche Prozessionen finden im Freien, in aller Öffentlichkeit statt. Menschen gehen buchstäblich auf die Straße, um vor aller Welt zu zeigen, was für sie das Wichtigste ihres Glaubens ist: Ein kleines Stück Brot. Sie nennen es Brot des Lebens und schauen ehrfürchtig auf die Monstranz, in deren Mitte das Brot aufbewahrt wird und für die Menschen sichtbar bleibt.

Fronleichnam ist ein traditionsreiches Fest. Die Augen bekommen viel zu sehen und manch einer mag fasziniert sein, andere wieder abgestoßen von einem scheinbar fremden Spektakel. Aber mit den Augen sieht man eben das Entscheidende nicht. Das kleine Brot hinter der Scheibe ist nicht alles. Viel wichtiger und zentraler ist, was dieses Brot beinhaltet und was es bedeutet. Es erinnert an das Abschiedsmahl Jesu vor seinem Tod. Damals nahm er Brot in seine Hände, segnete es, brach es, gab es seinen Jüngern mit den Worten: nehmt und esst das ist mein Leib. Damit hat er den Jüngern gezeigt, wie er sein Leben verstanden hat: Das bin ich für euch: ein Mensch, der sich für andere austeilt wie Brot, einer der sogar sein Leben für andere hingibt.

Jesus verteilt mehr als einen Bissen Brot. Er teilt mit den anderen sein Vertrauen in Gott, seine Liebe zu jedem, ohne Wenn und Aber, und er teilt mit ihnen seine große Hoffnung. Seine Hoffnung, dass teilen nicht ärmer macht, sondern unsere Welt zum Besseren verändert.

Das alles steckt in dem kleinen Brot in der Monstranz. Hier verkörpert sich das ganze Leben Jesu. Er hält den Hunger nach einem guten und gerechten Leben wach und setzt sein eigenes Leben ein und weiß wie kein anderer, was die Menschen brauchen: Natürlich das tägliche Brot aber auch die Nahrung für ihre Seele. Den Abgeschriebenen und Ausgestoßenen sagt er, dass sie bei Gott dazugehören. Den Ungeliebten und Unerwünschten zeigt er, wie willkommen sie sind und die Gescheiterten spüren, dass sie keine hoffnungslosen Fälle sind. Er kennt den vielfachen Hunger auf Leben und gibt jedem Menschen das richtige Brot. Wer nach einem erfüllten und guten Leben hungert, ist bei ihm an der richtigen Adresse.

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SWR4 Sonntagsgedanken

23APR2023
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Essen und Trinken hält Seele und Leib zusammen. Dieses Sprichwort sagt deutlich, Essen ist nicht nur Nahrungsaufnahme. Ich genieße es, wenn ich zu einem Essen eingeladen werde. Essen bestärkt die Gemeinschaft und ist darum in allen Kulturen ein vorzüglicher Ort, sich zu begegnen und gegenseitiges Wohlwollen auszudrücken. Kein Wunder, dass das Miteinander-Essen in der Bibel eine so große Rolle spielt. Jesus findet man immer wieder als Gast an einem Tisch und einmal wird er sogar selber zum Gastgeber, als er sich beim letzten Mahl von seinen Jüngern verabschiedet.

Diese biblischen Essen haben die Phantasie der Künstler herausgefordert und inspiriert, so auch den italienischen Barockmaler Caravaggio. Er malte einmal die abendliche Szene in der Herberge bei Emmaus, wo zwei Jünger Jesus erkannten, als er mit ihnen das Brot brach. Überaus üppig und detailreich zaubert er die köstlichsten Speisen und Getränke auf den Tisch. Von wegen einfaches Pilgermahl. Wir sehen eine schöne Tischdeck, die gläserne Weinkaraffe, Tongeschirr mit feinem Dekor, einen gebratenen Fasan und eine reich gefüllte Obstschale. Der Maler greift in die Vollen. Ich fühle mich beim Betrachten dieses Bildes an eine uralte Vision des Propheten Jesaia erinnert, wo es heißt:

„Der Herr der Heere wird auf diesem Berg für alle Völker ein Festmahl geben, ein Gelage mit den besten und feinsten Speisen, mit besten, erlesenen Weinen. Er zerreißt auf diesem Berg die Hülle, die alle Nationen verhüllt, und die Decke, die alle Völker bedeckt. Gott, der Herr, wischt die Tränen ab von jedem Gesicht“ (Jes 25,6-8).

Jesaia träumt von einem herrlichen Fest, zu dem alle Völker herbeiströmen. Von überall her: Niemand muss draußen bleiben. Der Tisch ist gedeckt und Gott wischt alle Tränen ab. Was für eine Freude, was für ein Glück. Wirklich himmlisch!

Ich würde gerne Caravaggio fragen, ob er bei seinem Emmaus Bild an diesen uralten Traum gedacht hatte, an das Festmahl, wo Gott und Mensch fröhlich und versöhnlich an einem Tisch zusammen sind. Ich weiß nicht, was er antworten würde, aber ich sehe in seinem Bild, dass dieser Traum schon Wirklichkeit wird. Wenn Jesus mit den Menschen am Tisch sitzt und mit ihnen das Brot bricht, dann blitzt das große Fest auf, zu dem alle geladen sind.

Wenn Jesus sich zum Essen einlädt oder selber der Gastgeber ist, geht es nie nur um Nahrungsaufnahme. Das gemeinsame Essen ist Ausdruck einer tiefen Verbundenheit und Freundschaft. Jesus macht damit deutlich, dass bei Gott keiner abgeschrieben ist. Es stört ihn nicht, wenn ausgerechnet fromme Kreise ihm vorwerfen, dass er mit Sündern und Ausgestoßenen am Tisch sitzt. Jesus schließt niemanden aus. Auch die nicht, die ihn verraten, verleugnen, verlassen werden. Und das sind nicht nur ein Petrus und ein Judas, sondern letztlich alle.

Mich berührt es sehr, dass auch Judas beim Abendmahl dabei sein darf und genauso wie die anderen hören kann, was Jesus als sein Vermächtnis hinterlässt, seinen Leib und sein Blut, also sich selbst. Seine Hingabe ist für alle. Und plötzlich befinde ich mich über alle Schranken hinweg in einem großen Kreis von Menschen, zu all denen Jesus sagt: „Nimm und iss“ Ich stelle mir vor, dass er dabei nicht fragt: „Katholisch?“ oder „Evangelisch?“ oder „Geschieden und wiederverheiratet?“ Ich denke mir, er schaut jede und jeden an und fragt: „Hast du Hunger?“

Viele können erzählen, wie sie sich bei der Eucharistie ausgegrenzt gefühlt haben oder ausdrücklich ausgeschlossen wurden. Wenn ich solche Geschichten höre, werde ich traurig. Weil sich die Kirchen offensichtlich von anderen Fragen leiten lassen und ihre theologischen Unterschiede höher bewerten als die Einladung Jesu.

Ich glaube daran, dass Christus der Einladende ist und wenn jemand dieser Einladung gewissenhaft folgen will, wer hat das Recht, sie oder ihn abzuweisen? Ich werde nicht vergessen, wie eines Tages ein Mann zur Kommunion nach vorne trat, von dem alle wussten, dass er aus der Kirche ausgetreten war. Er hätte also kein Recht gehabt, zur Kommunion zu gehen. Doch der Mann ist gekommen. Er trat mit ausgestreckter Hand vor mich hin. In seinen Augen hatte er Tränen.

Tränen, die mehr sagen als viele Worte. Sie lassen erahnen, wie viel Hunger, wie viel Sehnsucht in dem Mann lebt. Ich wünsche allen, die erklären, warum man diesem oder jenem nicht die Kommunion geben darf, dass sie selber einmal zu Tränen gerührt sind und erleben dürfen, was für ein großes Geschenk es ist, zum Fest des Glaubens eingeladen zu sein.

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SWR4 Sonntagsgedanken

29JAN2023
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Bei einem Besuch in Jerusalem habe ich Werke eines Künstlers kennengelernt, der mir bis dahin unbekannt war. Es ist der Maler und Kunstlehrer Jakob Pins, der vor den Nationalsozialisten nach Palästina geflohen ist. Pins ist vor allem durch seine Holzschnitte berühmt geworden. Eines seiner beeindruckenden Werke trägt den Titel „Die Anbetung“. Acht Menschen sind zu sehen, die im Kreis zusammenstehen und sich tief verneigen. Auf dem Boden befindet sich das Objekt ihrer Anbetung. Es ist eine kleine, ganz gewöhnliche Maus.

Diese Bild provoziert und das ist sicher auch die Absicht des Künstlers. Hier wird etwas ganz Unwesentliches in die Mitte gerückt. Buchstäblich vergöttert. Eine kleine Maus wird zum Mittelpunkt und sogar zum Gegenstand religiöser Anbetung. Das sitzt! Da hält jemand besonders den Frommen aller Glaubensrichtungen einen Spiegel vor. Schaut hin, was ihr tut, woran hängt ihr wirklich euer Herz?

Dieses Bild erinnert mich an ein Erlebnis auf dem Jakobusweg in Spanien. Ich war mit Studenten unterwegs. An einer uralten Kapelle machten wir Halt, um miteinander Gottesdienst zu feiern. Ich hatte keine Hostien dabei, darum fragte ich in dem benachbarten Bauernhof nach ein wenig Brot. Später wurde ich von der Kirchenleitung deutlich darauf hingewiesen, dass ich eine wichtige Vorschrift nicht eingehalten hätte Bei einer Eucharistiefeier werden nur geweihte Hostien verwendet. Leider hat niemand gefragt, warum ich das getan habe und was wir in diesem besonderen Gottesdienst erfahren haben. Klar, äußerlich war es ein Verstoß gegen die Vorschriften. Aber selten habe ich so tief erlebt, was Eucharistie ist. Wandlung! Wir hatten das Brot von einer Bäuerin, deren Sohn wenige Tage zuvor verunglückt war. So war es auch ein Brot voller Trauer und Not. Angefüllt mit den Sorgen und Mühen dieser Bäuerin. Das alles haben wir miteinander vor Gott getragen und für Wandlung gebetet. Wandlung des Brotes, Wandlung der Trauer und Wandlung unserer Welt hin zu Gott.

Ich bin nicht gegen Regeln und eine feste Ordnung, auch in der Liturgie und im Gottesdienst braucht es verlässliche Formen und Rituale, die nicht jedes Mal neu erfunden werden müssen. Aber sie sind nicht um ihrer selbst willen da. Sie helfen, dass wir das Wesentliche, die Mitte nicht verlieren.

Immer wieder begegnet uns in den Evangelien der spannende Konflikt zwischen Jesus und den Schriftgelehrten. Beide Seiten wissen, was im Gesetz steht, und beide Seiten können die über 600 Vorschriften, die ein frommer Jude einzuhalten hat, aufsagen. Für Jesus aber ist es wichtig, dass nicht auf die Buchstaben geschaut wird, sondern auf den Sinn der Vorschriften. Er bringt das Ganze auf den Punkt:

Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden. (Markus 12,29b-32)

Jesus verbindet die Liebe zu Gott mit der Liebe zum Nächsten und der Liebe zu einem selbst. Aber klingt das nicht zu abgegriffen, ist das Wort „Liebe“ nicht zu einem Allerweltswort geworden, tausendmal besungen und zitiert und am Ende doch leer und nichtsagend?

Ich verdanke dem jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber eine Geschichte, die ganz unsentimental und nüchtern erzählt, was Liebe sein kann. Er erzählt von einem Rabbi, der gefragt wurde, wie man einen Menschen lieben soll. Dieser Rabbi erzählt dann von zwei Bauern, die beieinandersaßen und einen Wein miteinander tranken. Da fragt der eine seinen Nachbarn: „Sag einmal, liebst du mich?“ „Klar liebe ich dich“, antwortete darauf dieser. Und plötzlich war es ganz still. Und dann sagte der eine von beiden: „Wie kannst du sagen, dass du mich liebst, wenn du nicht weißt, was mir fehlt?“

Gott und den Menschen und sich selbst lieben heißt: voneinander wissen, nach dem anderen fragen und anteilnehmen. Füreinander da sein und wissen, was jetzt zu tun ist. Lieben ist mehr als ein Gefühl oder nur Schwärmerei, lieben bedeutet: hören, ganz aufmerksam und offen. Offen für den Nächsten, offen für mich und offen für Gott. Das ist die Mitte, um die sich alles dreht.

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SWR4 Sonntagsgedanken

04DEZ2022
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Ich bin vor einigen Tagen aus Israel zurückgekommen, wo ich eine Pilgergruppe begleiten durfte. Auf unserem Programm stand natürlich auch ein Besuch an der sogenannten Klagemauer, das ist für die Juden das wichtigste Heiligtum. Die gewaltigen Steine dieser Mauer sind die Überreste des zerstörten Tempels. Für die gläubigen Juden bedeuten sie die Gegenwart Gottes. Hier ist er ansprechbar wie nirgends sonst, hier können sie klagen und jubeln, singen und tanzen. Ich finde, es ist ein Ort ganz großer Sehnsucht. Die einen legen ihren Kopf fast zärtlich an die Steine, andere schieben einen kleinen Zettel mit ihren Anliegen zwischen die Steine. Wieder andere beten offensichtlich mehr mit ihrem Körper als mit Worten und bewegen sich rhythmisch hin und her.

Wir sind gemeinsam mit sehr vielen Menschen an der Mauer gewesen: junge und alte, fromme und weniger fromme, gläubige und zweifelnde. Platz gibt es dort für alle. Ausgeschlossen wir keiner, auch nicht die sogenannten Goijm, das sind die Nichtjuden.

Hier habe ich gespürt: Bei Gott gibt es keine Einlassbedingungen, keine Türsteher, die aussortieren. Freier Eintritt für jeden! Ich bin dann auch an die uralte Mauer herangetreten und hatte trotz aller Fremdheit das Gefühl, dass wir betenden Menschen zusammengehören. Mag jeder Gott mit einem anderen Namen ansprechen oder um einen passenden Namen für ihn ringen, uns verbindet die Sehnsucht oder das Heimweh nach einer Welt, in der es gerecht und friedlich zugeht, in der endlich die Waffen schweigen und die Flüchtlinge eine Heimat finden.

An dieser Mauer empfinden die Juden eine besondere Nähe zu Gott und spüren doch gleichzeitig, wie fern und unnahbar er sein kann. Die Betenden wissen, dass sie noch nicht ganz daheim sind und diese Welt alles andere ist als das Paradies, das doch alle irgendwie in ihrem Herzen suchen. Nein, gerade vor der Klagemauer zeigt sich das Heimweh, das über dieser heiligen Stätte deutlich zu spüren ist.

Viele Texte und Lieder aus dem ersten Teil unserer Bibel, dem sogenannten Alten Testament, sind geprägt von einem ganz tiefen Heimweh. Die Menschen leiden und spüren, wie sehr das Leben gefährdet und bedroht ist. Die Bibel verschweigt weder die Kriege und Gewalttaten, die Krankheiten und Katastrophen noch alle menschlichen Niederträchtigkeiten, die es gibt. Und gleichzeitig durchzieht alle Texte eine unstillbare Hoffnung. Im Bild gesprochen: dass die Wüste zu blühen beginnt.

Das ist für mich Advent. Menschen sehnen sich nach Erlösung. Dass die Welt nicht bleibt, wie sie ist, sondern wirklich zur Heimat für alle werden kann. „Das ist doch Utopie“ werden jetzt mache denken. Mag sein, aber ohne solche Hoffnungsbilder bleibt alles beim Alten.

Am heutigen 2. Adventssonntag wird in den Gottesdiensten einer dieser utopischen Texte gelesen, er stammt von dem Propheten Jesaja, geschrieben als das Volk Israel in einer extremen Notlage war. Er lautet: “Man tut nichts Böses und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg, denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn“.

Jetzt gilt nicht mehr das Recht des Stärkeren, jetzt können die unterschiedlichsten Menschen miteinander leben, keiner wird mehr betrogen oder missbraucht und überall gilt die Ordnung Gottes, die er zum Wohl von allen Menschen geschaffen hat. Jesaja ist zutiefst überzeugt, dass sich die Zustände in der Welt ändern werden, dass es keinen Grund gibt, zu resignieren. Er schreibt und hofft gegen die scheinbar unverrückbaren Verhältnisse. Und er macht den Menschen Mut.

Das ist für mich Advent: dass wir die Sehnsucht nach Gottes gerechter Welt nicht aufgeben und uns nicht mit den Verhältnissen arrangieren. Dass wir uns den Mund, die Ohren und die Augen nicht zuzuhalten. Advent ist die Zeit, in der wir besonders wach sein können und bewusst sehen, woran Menschen leiden und sterben.

Das ist für mich Advent. Dass wir in den Liedern und Texten unser Heimweh nach Gottes Welt ausdrücken und immer wieder sehnsuchtsvoll beten und singen „O komm, du Heiland aller Welt!“

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SWR4 Sonntagsgedanken

16OKT2022
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Ihnen allen einen guten Morgen und einen schönen Sonntag. Es ist Herbst und vielerorts danken Menschen in diesen Wochen traditionell für die Ernte. Sie bringen damit zum Ausdruck, wie reich wir von der Natur beschenkt sind und dass wir dankbar sein dürfen für das, was wir tagtäglich zum Leben haben.

Allerdings: In der gegenwärtigen Krisenstimmung fällt Vielen das Danken schwer. Ich kann das gut verstehen. Die Angst, dass alles noch teurer wird sitzt uns im Nacken, genauso die Angst vor einem Krieg oder vor unkontrollierbarer Gewalt. Oder die Sorge wie unsere Gesellschaft mit den neuen Flüchtlingsströmen umgehen kann.

Ich habe mir vorgenommen, in diesen trüben Zeiten nach Hoffnungszeichen zu suchen, nach Geschichten, nach Erfahrungen, nach Personen, die mir Mut machen und mir helfen, nicht zu resignieren. Hoffnungsgeschichten, die wieder zur Hoffnung anstiften, die aufrichten, statt noch mehr zu beunruhigen und die wirklich trösten und stärken können Eine dieser hoffnungsvollen Geschichten möchte ich Ihnen heute erzählen.

Es geht um Äpfel oder genauer gesagt um den Korbiniansapfel. Dieser hat bis zum Jahr 1985 noch einen anderen Namen getragen, nämlich: KZ-3. Grund dafür ist die bewegte Geschichte des Apfels. Denn der wurde im Konzentrationslager Dachau vom bayerischen Pfarrer Korbinian Aigner gezüchtet.

Der auch als Apfelpfarrer“ bekannte Korbinian Aigner ist nicht nur ein leidenschaftlicher Priester gewesen, er hat sich auch für die Landwirtschaft begeistert – speziell für den Apfelanbau. Und er beschäftigte sich intensiv mit politischen Themen. Nachdem er eine Rede des aufstrebenden Adolf Hitler gehört hatte begann er, sich in seinen Predigten und im Religionsunterricht aktiv gegen diese Ideen des Nationalsozialismus auszusprechen. Er wurde verraten und ins KZ Dachau gebracht. Aber genau dort, wo das Verbrechen und das Grauen an der Tagesordnung waren, ließ er sich die Hoffnung nicht nehmen. Zwischen den Baracken pflanzte er Apfelbäume und schaffte es, vier vielversprechende Apfelsorten zu züchten. Er nannte sie KZ-1, KZ-2, KZ-3 und KZ-4. Die Sorte KZ-3 hat überlebt, es gibt sie bis heute. Und 1985 wurde sie zu Ehren von Korbinian Aigner in den Korbiniansapfel“ umbenannt. Dieser Pfarrer hat sich nicht unterkriegen lassen. Mit jeder Pflanze setzte er ein Zeichen der Hoffnung. Sein Wille, das Grauen zu bestehen war stärker als seine Angst.

Möglicherweise kommt Ihnen jetzt einer der bekanntesten und häufig zitierten Sätze in den Sinn, der Martin Luther zugeschrieben wird, „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen“. Das klingt nicht nach Weltuntergang und Bange machen. Es ist ein Trotziges “jetzt erst recht“. Es ist mir nicht wichtig, ob Martin Luther diesen Satz so gesagt hat oder nicht. Für mich ist entscheidend, dass immer wieder Menschen genau so leben: Entschlossen und furchtlos packen sie an - und fangen, wie Korbinian Aigner, dort an, wo alle Hoffnung verloren scheint. Leider wird von ihnen in den Tagesnachrichten wenig berichtet, weil die schlimmen, die verstörenden und schrecklichen Nachrichten scheinbar die interessanteren sind. Aber sie sind immer nur die halbe Wahrheit.

Gott sei Dank gibt es auch die andere Hälfte der Wahrheit. Menschen, die sich nicht zu schade sind, sich um einen kranken Nachbarn zu kümmern, andere, die ohne zu zögern, ihre Wohnung an eine ausländische Familie vermieten, Jugendliche, die sich für ihren farbigen Mannschaftskameraden stark machen, viele, die sich um den Zustand unseres Klimas sorgen und verantwortliches Handeln einfordern, und und und. Sie kennen sicher selbst solche hoffnungsvollen Zeitgenossen, lebendige Hoffnungszeichen, die sich nicht mit den Zuständen in der Welt oder in der Kirche einfach abfinden. Sie setzen sich redlich dafür ein, dass es in unserer Welt gerechter und menschlicher zugeht.

Mich stärkt es beispielsweise wenn ich höre, wie ein junger Mensch in dieser krisenhaften Zeit denkt. Gefragt was ihm Hoffnung mache, antwortet ein 11-jähriger Junge: „Wenn ich traurig oder frustriert bin, macht mir der Gedanke, eine tolle Familie, viele und gute Freunde zu haben, Hoffnung. Auch weil ich mit meinen Eltern über alle Probleme reden kann und wenn ich mit meinen Brüdern spiele und nicht alleine bin, habe ich Hoffnung.

Es tut gut, wenn man nicht allein ist. Wenn wir andere haben, die an einen denken, wenn wir für sie Zeit und ein offenes Ohr haben, wenn wir immer wieder kleine Zeichen der Zuwendung schenken. Wenn wir ermutigen oder trösten pflanzen wir immer ein wenig Hoffnung auf eine bessere und menschlichere Zeit.

Korbinian Aigner hat die schreckliche Zeit in Dachau überlebt. Ebenso wie sein Apfelbaum.

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SWR4 Feiertagsgedanken

01JAN2022
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Zu Beginn des Neuen Jahres grüße ich Sie sehr herzlich! Ich wünsche Ihnen ein gutes, gesegnetes und gesundes Jahr 2022! Das neue Jahr ist wie ein Buch, das noch unbeschrieben vor uns liegt. Heute wird die erste Seite aufgeschlagen, mit ersten Worten, ersten Sätzen aber auch mit vielen Fragezeichen, was dieses Jahr wohl alles bringen wird.

Auf die erste Seite meines Buchs klebe ich das Bild eines Engels.  Ich habe es von meinem Adventskalender für das Neue Jahr aufgehoben. Es ist das Bild eines Engels. Der Engel hat ein nachdenkliches und konzentriertes Gesicht. Seine Arme  sind auf der Brust gekreuzt, als wolle er etwas Kostbares aufbewahren.  Aber trotz seines Gewichts schwebt er leicht über der Erde. Er wird  von einer Kette gehalten, die oben im Kirchengewölbe festgemacht ist. Der Künstler Ernst Barlach schuf den schwebenden Engel 1927 als Mahnmal für die Toten des Ersten Weltkriegs. Das Original wurde von den Nationalsozialisten vernichtet, weil die Darstellung des Engels nicht in deren Verherrlichung von Gewalt und Rasse gepasst hat. Gott sei Dank ist es den Nazis nicht gelungen, dieses Kunstwerk aus der Welt zu schaffen. Sie haben zwar das Original vernichtet, aber konnten nicht verhindern, dass Freunde des Bildhauers noch rechtzeitig einen Abguss von dem Friedensengel gemacht haben. Und so finden sich heute sowohl in der Antoniterkirche in Köln wie im Dom zu Güstrow Kopien dieses eindringlichen Mahnmals. Ernst Barlach hat einmal über seinen Engel geschrieben, er plane „eine schwebende Figur, die ganz in sich geschlossen ist und das Höchste an Konzentration darstellt. Sie soll über den Alltag hinausführen in eine andere Welt.“

Für mich geht von dem Engel eine große Ruhe aus. Es ist kein Wunder, dass Menschen still werden, wenn sie den Schwebenden betrachten.  Niemand muss sie dazu anhalten. Auf mich wirkt es so: Nur in der Stille kann man seine Botschaft hören. Mir ist dieser Engel am Beginn des Neuen Jahres ein wichtiger Begleiter. Er strahlt eine wunderbare Gelassenheit aus und vermittelt das Versprechen, dass er bei allem, was kommen mag, dabei ist und nicht von meiner Seite weicht.

__________________________Musik____________________________

Ein Engel, der nicht von meiner Seite weicht, das ist heute mein Thema in den SWR 4 Feiertagsgedanken zum Neuen Jahr. Barlachs schwebender Engel ist nicht abgehoben und unberührt, von dem, was auf der Erde los ist. Im Gegenteil: Bis in seine Gesichtszüge hinein kann man die Spuren menschlicher Angst entdecken. Er ist kein Überflieger, sondern hält es aus, immer wieder zwischen die Fronten zu geraten. Ich stelle mir vor: Er hört das Stöhnen des Schwerkranken und vernimmt gleichzeitig seine große Hoffnung. Er spürt den riesigen Hunger eines jungen Menschen nach Leben und spürt gleichzeitig, wie enttäuscht er ist. Er sieht fröhliche und unbekümmerte Menschen und weiß doch wie verletzbar und gefährdet sie sind. Der Engel schwebt zwischen Himmel und Erde und kann in dieser Lage das tun, was seine Aufgabe ist. Er soll über den Alltag hinausführen in eine andere Welt, so wie es Ernst Barlach selber gesagt hat.

Mich bestärkt der schwebende Engel in dem Gedanken, dass über mir, über uns allen, kein dunkles und anonymes Schicksal schwebt, sondern ein Gott, der alles in seinen Händen träg. Hände, die nicht fesseln und zwingen, Händen, die nicht schlagen und verletzen. Sondern Hände, die heilen und segnen. Engel haben immer den Auftrag, diesen Gott vernehmbar zu machen und dadurch den Menschen ihre Angst zu nehmen. Darum heißt ihr erstes Wort, wo immer sie in der Bibel auftreten: “Fürchte dich nicht!

Barlachs Engel führt über den Alltag hinaus. Er zeigt mit seinem ganzen Gewicht, dass wir von oben her gehalten und getragen sind. Auch und gerade dann, wenn uns Angst und Sorgen niederdrücken. Er verkörpert buchstäblich, was Dietrich Bonhoeffer unnachahmlich ins Wort gebracht hat: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“

Ich wünsche Ihnen, dass sie behütet und gesegnet ins neue Jahr gehen. Dass Sie zwischen den Seiten in ihrem Jahrbuch immer wieder Engelsspuren entdecken. Und denken sie daran, Engel müssen nicht Männer mit Flügeln sein. Manchmal wohnen sie mit uns Wand an Wand, manchmal sagen sie uns ein gutes Wort, manchmal geben sie uns schweigend die Hand. Und manchmal schweben sie kurz vorbei, lächeln uns still an und verschwinden wieder.

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