Alle Beiträge

Die Texte unserer Sendungen in den SWR-Programmen können Sie nachlesen und für private Zwecke nutzen.
Klicken Sie unten die gewünschte Sendung an.

Filter
zurücksetzen

Filter

Datum

Autor*in

 

Archiv

SWR4 Abendgedanken BW

Neulich sagte jemand: Mich interessieren vor allem die Randfiguren. Deshalb lese ich die Zeitung von hinten.
Über so eine Randfigur möchte ich heute Abend berichten. Ich kenne sie nicht aus der Zeitung, sondern aus der Bibel: die Frau des Pilatus. Nur ein Vers erzählt von ihr, aber je länger ich darüber nachdenke, umso mehr bewegt er mich.
Ich stelle mir vor:
Sie weiß: ihr Mann, der römische Statthalter, sitzt heute wieder auf seinem Richterstuhl. Von einem Diener lässt sie sich berichten, worum es diesmal geht. Der erzählt: Die Hohenpriester und Ältesten hätten einen besonderen Gefangenen gebracht: Jesus. Pilatus solle ihn wegen Gotteslästerung und Aufruhr hinrichten lassen. Pilatus halte den Mann zwar für unschuldig, doch der politische Druck auf ihn sei sehr groß.
Da schreibt sie in großer Erregung ein paar Sätze auf und schickt den Diener zu Pilatus.
Lass die Hände von diesem Mann, er ist unschuldig. Ich hatte seinetwegen heute Nacht einen schrecklichen Traum.
Ob sie schon vorher einiges über Jesus gehört hatte, weiß ich nicht. Der Traum in der Nacht jedoch war so eindeutig, dass sie etwas unternehmen muss, um den Unschuldigen zu retten und um ihren Mann davor zu bewahren, schuldig zu werden am Tod eines Unschuldigen.
Aber sie hatte keinen Erfolg. Gegen seine Einsicht beugt sich Pilatus dem politischen Druck und lässt Jesus kreuzigen.
Was hat sie zu Pilatus gesagt, als er am Abend nach Hause kam? Und was hat er zu ihr gesagt?
Hat sie ihn angeschrien, dass alles Wasser der Welt nicht die Schuld und das Blut wegwaschen könne, das nun an seinen Händen klebt?
Hat er ihr vorgeworfen, deine Botschaft hat mich mitten in der Verhandlung gestört, deshalb habe ich die Situation falsch eingeschätzt und keine gute Lösung gefunden?
Oder sind beide verstummt, weil sie keine Worte fanden für die schreckliche Einsicht: wir haben den Tod eines Unschuldigen nicht verhindert?
Ich weiß nicht, wie die beiden für den Rest ihres Lebens damit fertig geworden sind.
Pilatus ist bald darauf wieder nach Rom zurückgekehrt. Seine Frau soll, so wird später erzählt, in Rom die Nähe zur christlichen Gemeinde gesucht haben.
In der griechischen Kirche wird sie sogar als Heilige verehrt, weil sie den Mut hatte, sich für einen Unschuldigen einzusetzen. Im ganzen Prozess gegen Jesus war sie der einzige Mensch, der für ihn eintrat.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10494
weiterlesen...

SWR4 Abendgedanken BW

Wenn es doch immer so klar wäre, wer die Bösen sind. Bei Pilatus bin ich mir unsicher.
Pilatus war der römische Statthalter, der damals über Jesus zu Gericht saß.
War er böse oder nur ängstlich und schwach? Hat er die Situation und die Machtverhältnisse falsch eingeschätzt?
Wir wissen nicht viel von ihm, aber das Wenige ist sprichwörtlich geworden und hat sich eingeprägt: Ich wasche meine Hände in Unschuld! Oder: Seht, das ist der Mensch! Und vor allem: Was ist Wahrheit?
Wenn Pilatus das prächtige Amtsgewand überzieht und sich dann auf den Richterstuhl setzt, geht es oft um Leben und Tod. So auch diesmal.
Die Mächtigen des jüdischen Volkes haben einen Gefangenen gebracht, dem sie Gotteslästerung und Aufruhr vorwerfen und nun soll Pilatus das Todesurteil sprechen.
Mit dem geschulten Blick des Politikers durchschaut Pilatus das Intrigenspiel der Ankläger, aber der Angeklagte, Jesus nämlich, bleibt ihm ein Rätsel.
Pilatus findet keine Schuld an ihm. Er weiß, Jesus ist kein Gewalttäter und kein Aufrührer.
Aber ist er ein Narr, ein politischer oder religiöser Schwärmer? Kann er Pilatus gefährlich werden? Einer, der sich nicht dagegen wehrt, dass man ihn „König der Wahrheit" nennt?
Pilatus ist beeindruckt und verunsichert zugleich, deshalb stellt er Jesus die berühmte Frage: Was ist Wahrheit?
Ich stelle mir vor: es ist eine echte Frage. In der Begegnung mit Jesus wird Pilatus dazu gezwungen, sich dieser Frage zu stellen und er muss über sein Leben nachdenken. Weit mehr, als er es sich sonst erlaubt.
Pilatus merkt, dass er bisher auf Wahrheit nicht viel Wert gelegt hat
Kämpfen, siegen, täuschen, Gefahren erkennen und die günstige Gelegenheit nutzen, das war seine Welt. Alles danach beurteilen, ob es nützlich und erfolgversprechend ist.
Aber Wahrheit? Was ist die Wahrheit über den Menschen?
Wenn Pilatus den Richterstuhl verlässt und sein prächtiges Amtsgewand ablegt, kommt nicht der große, nicht der mächtige Mensch zum Vorschein, sondern der unansehnliche, der ängstliche, der schwache, der schuldig gewordenene Mensch.
Ob Pilatus das kann: diese Wahrheit über sich aushalten - und doch nicht daran verzweifeln?
Ich glaube nicht, dass man das alleine kann. Ich glaube, dafür braucht es Menschen, die mir solidarisch verbunden sind, die zu mir stehen und bei mir bleiben, Menschen, die mich lieben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10493
weiterlesen...

SWR4 Abendgedanken BW

Wenn Sie ein Beispiel bräuchten für die Erfahrung: die Kleinen müssen dafür bluten, wenn die Großen ihre Machtspiele treiben, dann hätte ich eins, Malchus nämlich.
 Er spielt in den Ereignissen, die zur Verhaftung und Hinrichtung Jesu geführt haben, nur eine kleine Nebenrolle, aber er wird ausdrücklich erwähnt und bekommt im Johannes-Evangelium sogar einen Namen.
Und mit dem Namen bekommt er für mich, in meiner Phantasie auch ein Gesicht und eine Geschichte. So stelle ich es mir vor:
Bisher war es eigentlich sein Glück gewesen, dass Malchus zu einem Knecht des Hohenpriesters geworden war. Damit waren die Jahre, in denen er sich als Bettler durchgeschlagen hatte, zu Ende. Es bedeutete zwar harte Arbeit, oft auch Schläge und Fußtritte von den Aufsehern. Aber jetzt hatte Malchus nachts ein Dach über dem Kopf und - was das Wichtigste war - genug zu essen.
Die Tage ums Passahfest waren immer besonders anstrengend und lang. Malchus hatte sich gerade erschöpft auf seine Pritsche fallen lassen, da ging die Tür auf. Ein neuer Befehl: Alle mitkommen, es gibt Arbeit! Am Ölberg müssen wir einen festnehmen. Wahrscheinlich ist er nicht allein ist und hat Leute bei sich, die kämpfen werden.
Und so bekam Malchus einen Knüppel in die Hand gedrückt, auch wenn ihm das überhaupt nicht passte. Er war kein Schlägertyp und außerdem hundemüde. Und er dachte bitter: Und das in dieser Nacht, wo wir uns daran erinnern sollen, wie unser Volk aus der Gefangenschaft in Ägypten befreit wurde.
Aber es half nichts, jetzt musste er mit den anderen Knechten den Ölberg hinauf.
Und gleich vorne, am Eingang des Gartens stand eine kleine Gruppe von Menschen. Der Mann in der Mitte schien sie erwartet zu haben.
Malchus sah, wie einer auf diesen Mann in der Mitte zuging, kurz mit ihm sprach und ihn küsste. Und dann hörte er den Befehl: Angreifen und festnehmen!
Unversehenes fand sich Malchus mitten im Kampf wieder. Einer aus der Gruppe des Festgenommenen stürzte mit einem Schwert auf ihn zu. Dem ersten Schlag konnte er noch ausweichen, der zweite traf ihn am Kopf.
Malchus griff mit der Hand an sein rechtes Ohr, aber das war nicht mehr da. Stattdessen war Blut in seiner Hand.

Und er hörte, wie der Mann, den sie verhaftet hatten, seinen Leuten zurief:
Hört auf! Es reicht!
Im Lukas-Evangelium wird erzählt, dass Jesus das Ohr des Malchus heilt. Denn für Lukas war klar: es darf nicht sein, dass die Kleinen für die Interessen der Großen bluten müssen. In der Nähe Jesu müssen die Wunden geheilt werden.
Ich wüsste allerdings gerne, ob Malchus von nun an anders gehört hat, ob er neu überlegt, wem er sein Ohr leiht und wessen Worte er ernst nimmt.

 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10492
weiterlesen...

SWR4 Abendgedanken BW

Es müssen mehr gewesen sein als die drei Könige, die sich auf den Weg gemacht haben und dem Stern gefolgt sind. Da bin ich mir eigentlich sicher.
Die Bibel lässt es offen. Da heißt es ganz allgemein: da kamen Weise aus dem Morgenlande. Die hatten einen besonderen Stern gesehen und wollen den neugeborenen König der Juden anbeten und ihm ihre Schätze schenken. Gold, Weihrauch und Myrrhe - diese Geschenke legen es nahe, an drei Könige zu denken. Viele fromme Geschichten sind um sie herum entstanden, man hat sich ihren weiteren Weg ausgemalt, denn das Knien vor dem Kind in der Krippe muss die Drei ja wohl verändert haben.
Aber sind nur die drei aufgebrochen? Waren nicht noch mehr unterwegs und auf der Suche?
Sehr bald wird auch von einem vierten König erzählt. Er eilt den dreien hinterher, aber er wird immer wieder aufgehalten - oder besser gesagt - er lässt sich immer wieder aufhalten. In der Gosse sieht er ein nacktes Kind, das aus Wunden blutet und dem Tode nahe ist. Er hebt es auf, bringt es ins nächste Dorf, sucht er eine Frau, die es pflegen kann und gibt ihr einen Edelstein dafür. In einem andern Dorf kauft er Bauern, die als Geiseln festgehalten werden, mit den Edelsteinen frei, die er eigentlich dem neugeborenen König schenken wollte.
Manche Dichter erzählen so von diesem vierten König, dass wir selber in die Geschichte hineingezogen werden. Er, der den Heiligen Drei Königen folgen will, wird insgeheim zum Vorbild für uns und zur Frage:
Wie hättest du dich verhalten? Und: Gibt es Menschen, denen du zutraust, dass sie die Zeichen der Zeit richtig deuten? Warum sind sie für dich vertrauenswürdig?
Ich bin sicher, es waren noch mehr unterwegs als diese drei oder vier Könige. Manche haben sich vielleicht verirrt oder den Mut verloren auf dem langen Weg.
Manche haben sich vielleicht in einen Wettlauf verstricken lassen und die Kräfte vergeudet im Bemühen, schneller zu sein als die anderen. Manche sind vielleicht zu spät gekommen und haben nur den leeren Stall vorgefunden. Einige sind dem Kind in der Krippe vielleicht erst viel später begegnet, als es erwachsen war und so überzeugend davon erzählt hat, wie Gott diejenigen sucht, die sich verirren und die ihr Lebensziel aus den Augen verloren haben.
Und vor allem: Jesus hat ja nicht nur davon erzählt. Er hat es selber getan, und er steht mit seinem Leben und Sterben dafür ein, dass Gott sie alle finden wird.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9623
weiterlesen...

SWR4 Abendgedanken BW

Wenn sie rechtzeitig ankommen wollen beim Kind in der Krippe, dann müssten sie jetzt schon einige Zeit unterwegs gewesen sein, die Heiligen Drei Könige.

Sind sie eigentlich gemeinsam aufgebrochen oder zunächst jeder für sich? Erstaunlich, wie wenig ich bisher darüber nachgedacht habe. Und wie wenig die Geschichten darüber erzählen.

Aber vor einigen Tagen habe ich ein Büchlein aus dem 14. Jahrhundert gefunden. Darin erzählt der Mönch Johannes von Hildesheim auch vom Beginn ihrer Reise.
Er erzählt, dass es im Orient einen hohen Berg gab, auf dem die Wächter Tag und Nacht Ausschau hielten, ob sich Feinde näherten. Das änderte sich, als die Verheißung der Propheten bekannt wurde: Es wird ein Stern aus Jakob aufgehen und ein Königszepter aufkommen aus Israel.

Jetzt wurden die Wächter angewiesen, nicht mehr nach Feinden auszuschauen, sondern nach diesem Stern.
Als nun der Stern erschien, so erzählt der Mönch Johannes, rüsteten sich die drei Könige zur Reise. Jeder in seinem Reich. Mit großem Gefolge und vielen Kostbarkeiten. Aber sie wussten nicht voneinander, und sie kannten sich nicht.

Jeder von ihnen wurde von dem Stern geführt. Er wanderte mit ihnen, wenn sie ritten, er stand still, wenn sie Rast machten. So zog jeder seinen Weg über Flüsse und Berge, durch Wüsten und schreckliche Sümpfe - doch die schwierigen Wege wurden ihnen leicht und eben.
Schließlich näherten sie sich bis auf zwei Meilen der Stadt Jerusalem. Da bedeckte plötzlich dichter Nebel und Finsternis das ganze Land. Und sie verloren den Stern und den Weg. Erst als der Nebel sich lichtete, konnten sie weiterziehen, und an einer Wegkreuzung kamen sie zusammen.

Zuerst fingen die Diener an, miteinander zu reden, woher sie kämen und wohin sie wollten. Die Verwunderung über das gemeinsame Ziel war groß, und die Freude teilte sich den Königen mit.
Sie machten sich miteinander bekannt, und obwohl sie in verschiedenen Sprachen redeten, verstanden sie sich. Sie umarmten sich und waren froh, aus gleicher Ursache hierher gekommen zu sein. Und keiner wollte die anderen überlisten und vor ihnen am Ziel sein.

So hat Johannes von Hildesheim es sich ausgedacht. Gerade die Sache mit dem Nebel gefällt mir.
Ich verstehe das so: der plötzliche Nebel, die Unklarheit, war hilfreich, vielleicht sogar nötig, damit sich die Könige als Suchende erkannten und zu erkennen gaben. Und so und mit Hilfe der Diener entdeckten sie ihre Gemeinsamkeiten. Und so kamen sie rechtzeitig an ihr Ziel.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9627
weiterlesen...

SWR4 Abendgedanken BW

Im Dezember 1773 wurde den Eheleuten Johann und Christine Steeb wieder ein Kind geboren, ein Sohn, den sie Karl nannten und in der Tübinger Stiftskirche taufen ließen. Die Steebs waren fromme Leute, dem Pietismus zugetan. Sie besaßen das Hotel Lamm am Marktplatz und einen erfolgreichen Wollhandel. Der Vater wird als streng beschrieben, die Mutter als warmherzig und feinfühlig. Unter ihrem Einfluss entwickelte sich Karl zu einem verständnisvollen jungen Mann.

Als er sechzehn war, schickte ihn der Vater ins Ausland, um das Geschäftsleben kennenzulernen. Zunächst nach Paris, und dann nach Oberitalien, nach Verona.

Die Mutter hatte große Bedenken und nahm ihrem Sohn das Versprechen ab, unbedingt seinem protestantischen Glauben treu zu bleiben. Aber in Verona lernte Karl einen Katholizismus kennen, der so ganz anders war, als ihn seine Mutter geschildert hatte, und der ihn faszinierte, und bald trat Karl zum katholischen Glauben über. Was er befürchtet hatte, trat ein, seine Eltern brachen jeden Kontakt mit ihm ab und enterbten ihn.

Von da an nannte er sich ‚Carlo', studierte Theologie und wurde mit 23 zum Priester geweiht.
Verona wurde damals mehrfach von Napoleon besetzt und geplündert. Verona war ein riesiges Lazarett - und Carlo lernte als Dolmetscher und Beichtvater das Elend der verwundeten jungen Soldaten kennen, die unter unmenschlichen Bedingungen dahinsiechten.

Da tat er etwas, was für einen katholischen Priester jener Zeit höchst ungewöhnlich war: Er übernahm selbst die Aufgabe, die Schwerkranken zu pflegen. Und hier kamen seine protestantischen Wurzeln und der Geist seiner Erziehung zum Vorschein. So sieht es jedenfalls der Orden der „Schwestern der Barmherzigkeit", den er später gründete. Was er von seiner Mutter und ihrer praktischen Liebe erfahren hatte, brachte ihn dazu, die Grenzen des Priesterberufes zu sprengen.

In Italien wurde Carlo Steeb als „Samariter von Verona' hoch verehrt, aber in seiner Heimatstadt war er lange unbekannt. Heute allerdings arbeiten die Schwestern der Barmherzigkeit auch in Tübingen und leiten ein Kinderhaus, das nach ihm benannt ist.

Und am evangelischen Gemeindehaus Lamm am Marktplatz weist eine Gedenktafel auf ihn hin und sagt, dass ein ökumenischer Impuls von ihm ausgeht.

Ich verstehe das so: wenn jemand die Konfession wechselt - und er nimmt das Beste der alten Konfession mit - dann kann daraus etwas Neues und Gutes entstehen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9626
weiterlesen...

SWR4 Abendgedanken BW

Staunen und Glauben gehören für mich zusammen, an Weihnachten erst recht. Wer kann sich schon dem Stauen entziehen, wenn er ein Neugeborenes sieht.
Wir erleben es gerade als Großeltern wieder, das beglückende Staunen, wenn man in einem neugeborenen Kind dem Wunder des Lebens begegnet, wenn man erlebt, wie es wächst und wie sich sein Wesen entfaltet. Und aus dem Staunen wird tiefe Dankbarkeit.
Ich war dann aber doch erstaunt, als mir keine Bibelstelle einfiel und ich auch keine gefunden habe, in der das Wort ‚staunen' vorkommt. In einem Wörterbuch fand ich dann die verblüffende Erklärung: das Wort „staunen" hat gewissermaßen einen Migrations-Hintergrund. Es ist erst im 18. Jahrhundert aus der Schweiz in die deutsche Hochsprache eingewandert.
Natürlich gibt es viele andere Worte, die dasselbe meinen, und eine ganze Reihe von Redewendungen, die eindrücklich beschreiben, wie es einem geht, wenn man staunt:
Man wundert sich, ist überrascht, sprachlos, kann es nicht fassen, man traut seinen Augen oder Ohren nicht, man fällt aus allen Wolken oder guckt dumm aus der Wäsche. Es haut einen um.
Da wird deutlich: staunen kann sehr unterschiedlich sein und nicht unbedingt immer angenehm.
Staunen kann uns ergreifen, über uns hereinbrechen und man möchte sich dagegen wehren. Es kann innere Verwirrung stiften und uns lächerlich aussehen lassen.
Wenn es heftig kommt, sind wir hin und her gerissen zwischen Entzücken und Entsetzen, zwischen Bewunderung und Befremden.
So haben die Menschen auf die Wunder Jesu ja auch ganz unterschiedlich reagiert: mal heißt es: sie verwunderten sich, und ein anderes Mal: sie entsetzen sich über alle Maßen.
Ich kann verstehen, dass sich Menschen innerlich schützen wollen gegen solche Erfahrungen, die sie erschüttern oder verwirren. Und dann sagt man: Staunen ist was für Kinder und für solche, die noch nicht wissen, wie es in der Welt wirklich zugeht!
Allerdings ist Albert Einstein der Meinung: Wer nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen schon tot.
Dann käme es an Weihnachten darauf an, dass wir es so feiern und gestalten, dass wir nicht nur die Kinder zum Staunen bringen und ihnen gerne dabei zuschauen. Es käme auch darauf an, ob wir selber noch staunen können.
Ich bin sicher: Lieder können uns dabei helfen. In einem neuen Weihnachtslied aus Polen heißt es:
Zu dem heilgen Kinde / eilten sie geschwinde,
konnten staunend sehen / was da war geschehen:
Gott im Himmel schenkt uns allen / mit dem Kind sein Wohlgefallen.
Gloria in excelsis deo.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9620
weiterlesen...

SWR4 Abendgedanken BW

Ich war sicher noch keine vier Jahre alt, da ist mir ein Engel erschienen. Kurz vor Weihnachten, da sah ich ihn draußen im Dunkeln vor dem Küchenfenster stehen.
Natürlich hat mir keiner geglaubt. Er war ja auch nicht mehr da, als ich ihn meiner Mutter zeigen wollte. Aber ich hatte ihn ganz deutlich gesehen.
Bei manchen Erinnerungen aus meiner Kindheit bin ich mir nicht so sicher, ob ich das selber erlebt habe, oder es so oft erzählt wurde, dass ich es zu meiner eigenen Erfahrung gemacht habe?
Aber bei dem Engel bin ich mir sicher. Er sah aus, wie eben Weihnachtsengel so aussehen. Er war nicht sehr groß, hatte langes blondes Haar und ausgebreitete Flügel, und er war von einem besonderen Licht umgeben. Vielleicht war es auch das Christkind, das ich mir damals so vorgestellt habe wie einen besonders schönen Engel, der die besonders wichtige Aufgabe hat, die Wünsche für Weihnachten in Empfang zu nehmen und für die Geschenke zu sorgen.
Irgendwie gehörten sie zur Familie:
Die Engel, die nachts unsichtbar um mein Bett standen, der Weihnachtsmann, das Christkind und auch der Osterhase und das Geburtstagsmännchen. Das übrigens hatte im Krieg ein Bein verloren und konnte deshalb nicht so sehr viel in seinem Rucksack transportieren.
Aber wie das so geht mit dem Älterwerden: irgendwann sind sie dann alle verschwunden, zumindest aus meinem Innern. Einige sind dann - verändert - wieder gekommen, wie Nikolaus, der Bischof von Myra. Und vor allem: Das Jesuskind in der Krippe und im erbärmlichen Stall hat das Christkind verdrängt und ist an seine Stelle getreten.
Und die Engel meiner Kindheit? Sie waren ein paar Jahre einfach da und schön, ihre Nähe war beruhigend, aber sie hatten mir nichts zu sagen.
Die Engel, die mir später begegnet sind, waren nicht immer auf den ersten Blick als Engel, als Boten Gottes zu erkennen, aber sie hatten eine Botschaft für mich. Oft, ohne dass sie selbst sich dessen bewusst waren.
„Willst du etwa Pfarrer werden?" Diese verwunderte Frage eines Klassenkameraden war so eine Botschaft, die meinem Leben eine entscheidende Richtung gegeben hat.
Andere Botschaften steckten in Fragen wie: „Willst du das wirklich? Ich an deiner Stellewürde mir das noch einmal überlegen!" oder auch: „Wär' das nichts für Sie?"
Einige dieser Botschaften habe ich bedacht und sie haben mich zu wichtigen Entscheidungen herausgefordert oder vor Dummheiten bewahrt. Andere habe ich vermutlich überhört.
Manche Engel, die mir solche Botschaften gebracht haben, wären wahrscheinlich ganz überrascht, wenn ich ihnen im Rückblick sagen würde: Da hat dich der Himmel geschickt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9619
weiterlesen...

SWR4 Abendgedanken BW

Umkehren ist kein Scheitern, sagt die Extrembergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner. Alle Zeitungen hatten gemeldet: Kaltenbrunner scheitert schon wieder am K 2 im Himalaya". Aber sie sagt: Vermeintliches Scheitern ist immer auch ein Sieg über die Versuchung, das Schicksal herauszufordern.

Als ich das las, dachte ich, was für das Umkehren beim Bergsteigen gilt, könnte auch bei einem Rücktritt in der Politik richtig sein.
Ein Rücktritt muss kein Scheitern sein. Ein Rücktritt kann auch ein Sieg des Gewissens sein über die eigene Machtversessenheit.

Das zeigt mir zum Beispiel der erste Rücktritt, den es in der Bundesrepublik gegeben hat. Mein Kalender hat mich nämlich daran erinnert, dass morgen vor 60 Jahren, also am 9. Oktober 1950, als die Bundesrepublik noch ganz jung war, der erste Bundesminister zurückgetreten ist.
Das hat seinem weitern Aufstieg wohl nicht geschadet. 16 Jahre später wurde er Bundesjustizminister und 1969 Bundespräsident: Gustav Heinemann.

Mit seinem Rücktritt war es so:
Konrad Adenauer hatte Gustav Heinemann in sein Kabinett geholt. Er brauchte einen prominenten Evangelischen. Heinemann war damals Präsident der Synode der Evangelischen Kirche von Deutschland, und er war in der Nazizeit ein wichtiges Mitglied der Bekennenden Kirche gewesen. Aber als Adenauer heimlich die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik betrieb und dabei das Kabinett austrickste, folgte Heinemann der Stimme seines Gewissens und trat aus Protest zurück.
So war er: mit großem Ernst Politiker, aber er wusste, dass Politik nicht das Wichtigste ist.
An ihm kann man sehen: Ein Rücktritt muss kein Scheitern sein. Ein Rücktritt kann auch ein Sieg des Gewissens sein oder ein Sieg der Vernunft, die weiß, dass es gefährlich sein kann, wenn man ein Ziel um jeden Preis erreichen will. Oder ein Sieg der Einsicht, dass man nicht unentbehrlich ist.

Das hat mich an Gustav Heinemann besonders beeindruckt:
er blieb immer kritisch gegenüber der Macht und der eigenen Wichtigkeit.
Und er blieb kritisch auch gegenüber der eigenen Empörung, wenn man erfüllt ist von dem guten Gefühl, im Recht zu sein und sich berechtigt fühlt, ein Urteil über die anderen zu fällen. Er hat ein eindrückliches Bild geprägt:
Wer mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf andere zeigt, der deutet mit drei Fingern seiner Hand auf sich selbst.

Ich bin sicher, Gustav Heinemann hatte dabei Jesu Mahnung im Ohr:
Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem eigenen Auge?

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9173
weiterlesen...

SWR4 Abendgedanken BW

Dass Dinge, Tiere oder Pflanzen mit uns reden, das kommt eigentlich nur im Märchen vor. Bei Frau Holle zum Beispiel bettelt ein vollbehangener Apfelbaum: Schüttel mich, wir Äpfel sind alle miteinander reif!
Die Goldmarie kommt diesem Wunsche nach. Ihre Schwester aber ist zu faul und bekommt zur Strafe die Pechdusche.

Vermutlich haben Katharina Frosch und Kai Gildhorn dieses alte Märchen gekannt. Sie haben sich jedenfalls angesprochen gefühlt.

Und wir? Was ist mit uns?
- so könnten die Mirabellen und Zwetschgen gerufen haben, die keiner pflücken wollte und die deshalb überreif einfach in den Fluss fielen.

Von ihrem Boot aus hatten Katharina und Kai die reifen Früchte gesehen und waren sich komisch vorgekommen mit ihren Äpfeln aus dem Supermarkt.
Als sie wieder zuhause in Berlin waren, stellten sie eine Landkarte ins Internet, auf der herrenlose, vergessene Obstbäume eingetragen waren und eingetragen werden konnten.

Jeder kann an dieser Landkarte mitarbeiten und solche herrenlosen Bäume eintragen. Birnbäume sind gelb markiert, Apfelbäume rot. Und wer will, kann sich dann die Früchte holen.
Selbstverständlich muss vorher überprüft werden, ob die Bäume wirklich niemandem gehören. Bei jedem einzelnen Baum muss geprüft werden, ob nicht hinter einem vermeintlich herrenlosen Baum vielleicht doch ein Eigentümer steckt, der lieber sein Obst verrotten lässt, als dass es anderen zugute kommt.

Und wir, was ist mit uns?

Seit ich diese Geschichte gelesen habe, bilde ich mir ein, diese vorwurfsvolle Frage auch zu hören. Zum Beispiel wenn ich morgens vor dem Kleiderschrank stehe, und doch wieder zu einem meiner drei Lieblingshemden greife und zu der bequemen Hose, in der ich mich am wohlsten fühle.
Und wir, was ist mit uns? fragen die Hemden und Hosen, die ich nie oder nur selten anziehe. Wir sind doch nicht dafür gemacht, hier in deinem Schrank rum zu liegen.

Mancher wird vielleicht jetzt denken, der spinnt ja. Mag ja sein, aber ich merke:
Tief in mir steckt die Überzeugung, dass in den Dingen, in den Früchten und in den Produkten, die Menschen herstellen, ein Sinn steckt, dass sie eine Aufgabe haben, einen Zweck erfüllen sollen.
Wenn ich in diesen Tagen meinen Kleiderschrank umräume, werde ich deshalb strenger fragen, was ziehst du wirklich an und welche Sachen könnten zum Beispiel in der Kleiderkammer der Diakonie jemanden finden, der sie braucht.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9172
weiterlesen...