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SWR1 Begegnungen

03MRZ2024
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Kerstin Söderblom Copyright: Gustav Kuhweide

Am Bildschirm bin ich mit Kerstin Söderblom verabredet. Ihr Buch „Queersensible Seelsorge“ hab‘ ich gerne gelesen und frage die Mainzer Hochschulpfarrerin erst mal, woher das Wort „queer“ eigentlich kommt.

Es heißt auf deutsch so was wie komisch, seltsam, verrückt, pervers. Es ist ein englisches Wort und ist eigentlich ein Schimpfwort für Lesben, Schwule, Trans- und Inter-Personen. Dieses Wort hat eine interessante Wendung gemacht. In den 80er/90er Jahren ist aus diesem Wort eine stolze Selbstbezeichnung geworden

„Queer“ – das klingt für manche ganz selbstverständlich. Anderen bleibt das Wort fremd und sie fragen sich, ob es keine wichtigeren Themen gibt. -  Kerstin Söderblom hat ihr Buch nun deshalb geschrieben, weil sie als Seelsorgerin herausgefunden hat: Es gibt gerade bei vielen jungen Menschen große Themen und Fragen rund um ihre sexuelle, geschlechtliche und religiöse Identität.

Mein Ziel war es, meine ersten drei Jahre als Hochschulpfarrerin auszuwerten, weil mir dort von meiner ersten Minute an sehr, sehr viele queere Personen begegnet sind, die bei mir Seelsorge und Beratung gesucht haben. Das war zunächst nicht zufällig. Ich bin selber offen lesbisch und das ist bekannt. Trotzdem war es für mich bemerkenswert, wie viele junge Studierende, Anfang zwanzig, im Grunde gekämpft haben mit ihrem Coming-out oder mit Fragen der Transition, also geschlechtsangleichenden Maßnahmen - und immer in Kombination mit Religion.

In diesen Begegnungen wird Kerstin Söderblom klar, wie wenig sich eigentlich geändert hat. Und das ist sehr auffällig, denn schließlich stimmt es doch auch, wenn die 60-jährige feststellt, was sich den letzten 30 Jahren verändert hat.

Kirchenrechtlich sind wir in den evangelischen Kirchen in Deutschland sehr viel weiter gekommen. Es gibt keine wirklich starke Form der Diskriminierung mehr, sondern Gleichberechtigung bis hin zur Trauung. Transpersonen müssen vielleicht die Gemeinde wechseln, aber es gibt absolut Anerkennung, dass selbstverständlich Transpersonen existieren und genau wie alle anderen Gottes geliebte Kinder sind.

Was theologisch richtig ist, ist eben noch lange keine selbstverständliche kirchliche Kultur. Was jahrhundertelang gelehrt wurde, lässt sich wohl auch nicht in einer Generation verändern. Und manchmal erleben queere Menschen Kirche auch als unglaubwürdig, weil zwar gesagt wird, dass „alle“ willkommen sind, aber sie dann doch ganz schnell spüren, dass sie gemieden oder ausgegrenzt werden. Oft ist ja auch vorausgegangen, dass

queere Personen sehr schlechte Erfahrungen in Kirchenräumen gemacht haben, in Gruppen, die gesagt haben, dass queere Personen sündig sind oder nicht gottgewollt sind oder Christ*innen zweiter Klasse.

Und deshalb gibt es immer noch einen hohen Bedarf an queersensibler Seelsorge – und es braucht eine Brückenbauerin zwischen schlechten und besseren Erfahrungen, zwischen gestern und heute, zwischen queerer und kirchlicher Welt.  Die Mainzer Hochschulpfarrerin wandert gerne zwischen Welten, die auf den ersten Blick nicht zusammen gehören.

Ich bin zwar Theologin und Pfarrerin, gleichzeitig auch lesbische und queere Aktivistin und setze mich sehr mit Fragen von sozialer Gerechtigkeit und Menschenrechten auseinander. Da sehe ich mich als Brückenbauerin zwischen denen, die häufig gesellschaftspolitisch unterwegs sind und die zum Teil mit Kirche oder religiösen Kreisen überhaupt nichts zu tun haben. Und umgekehrt religiöse Kreise, die nicht so viel mit säkularen Menschenrechtsaktivisti*innen zu tun haben.  

Brückenbauen zwischen Menschen und Gruppen. Schon im römischen Reich eine priesterliche Aufgabe – und auch der Papst hat ja den Titel Pontifex Maximus, größter Brückenbauer. Kerstin Söderblom sieht ihre Begabung zum Brückenbauen vor allem seelsorglich. Sie erzählt mir davon, wie

ein schwuler Mann, der mit seinem Partner schon viele Jahre zusammen lebte  … aus dem Nichts an einem Herzinfarkt gestorben ist. Und das Problem war, dass die Eltern dieses schwulen Mannes nicht wussten, dass der Mann schwul ist und auch den Partner nicht kannten. Und nun ging es darum, wo wird der Mann beerdigt und wie wird diese Traueransprache gehalten, ohne dass da immer nur die Hälfte der Geschichte erzählt wird.

Und dann baut Kerstin Söderblom tragende Brücken: Sie bringt Partner und Eltern zusammen – und sie gestaltet eine für beide Seiten stimmige Beerdigung. Sie macht sensibel dafür, dass alles auch ganz anders sein kann. Sie lädt ein, die verborgenen Seiten des Lebens zu erahnen, zu würdigen und freizulegen. Ihre starke Motivation zum Brückenbauen schöpft sie aus der Erfahrung,

dass queere Menschen, die sich selbst als gläubig oder religiös bezeichnen, häufig solche sind, die zwischen allen Stühlen sind. Nämlich in der queeren Community häufig schräg angeguckt werden, weil sie noch was mit Religion und Kirche zu tun haben. Und in der … kirchlichen Welt, weil sie queer sind – und deshalb finde ich es gerade wichtig, dass kirchliche Orte da 'ne Sensibilität dafür haben, dass gerade diese Personen auch in religiösen Kreisen respektiert und angenommen werden.

Und in dieser Willkommenskultur geht es in meinen Augen nicht darum, die Interessen einer queeren Minderheit oder Lobbygruppe zu berücksichtigen. Es geht darum, eine Gemeinschaft zu sein, in der es sich erübrigt, in Kategorien von richtig und falsch, von stark und schwach, von Vielen oder Wenigen einzuteilen. Es geht um die ganze Kirche und um die Herzensmitte des Glaubens.

Das ist doch der christliche Auftrag, zu sagen: Du bist Gottes geliebtes Kind, in Gottes Ebenbild gemacht. Herzlich willkommen!

 

Mehr von Kerstin Söderblom:

https://kerstin-soederblom.de

 

Buchtipp: Kerstin Söderblom, Queersensible Seelsorge, Göttingen 2023

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39445
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SWR1 Begegnungen

25DEZ2023
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Peter Annweiler trifft Ingo Bracke, Lichtkünstler und Chefbeleuchter

Teil 1: Urstoff Licht

Er kennt sich aus mit Licht: Ingo Bracke ist seit langem Licht-Künstler und seit kurzem Beleuchtungschef des Nürnberger Staatstheaters. Und weil ich heute das weihnachtliche Licht „beleuchten“ möchte, besuche ich den 51-Jährigen in seinem Atelier in der Westpfalz.

Kabel und Scheinwerfer von seinem letzten Projekt sind noch nicht weggeräumt – da sprudelt es schon aus dem flinken und feinfühligen Mann heraus.

Das unglaubliche Tolle, mit Licht zu arbeiten, ist, dass es ein Medium ist, das sehr, sehr stark ist – also was ich einsetze. Und plötzlich ist der Raum ganz anders. Und gleichzeitig ist es aber auch sehr zart.

Das hab‘ ich auch schon bei einem Weihnachtsprojekt mit ihm erlebt: Ganz zart und doch sehr kräftig ist der Kirchenraum da in eine ganz andere Farbe, Temperatur und Schwingung geraten. Ein anderes Licht legt sich durch Ingo Brackes Schaffen über vertraute Konturen und Räume, sogar über Landschaften: Ins Ahrtal, wo er geboren ist, hat er nach der Flut künstlerische „LichtBlicke“ gelegt. Und der Loreley im Mittelrheintal hat er die Schroffheit genommen und nachts mit geheimnisvollen Lichtzeichen überkleidet. 

Um überhaupt mit Licht arbeiten zu können, braucht man die Dunkelheit. Das  heißt, ich sag dann gern ein bisschen flapsig: Ich bin ein Verdunklungskünstler, ein Nachtkünstler, ein Verdunklungskünstler  und ich modelliere dann aus der Dunkelheit wieder etwas heraus.

Ohne die Erfahrung von Dunkelheit keine Wertschätzung des Lichts. Und gerade weil es durch das Kunstlicht für uns selbst im Winter immer weniger Dunkelheit gibt, ist uns womöglich auch das Erstaunliche und Geheimnisvolle des „Urstoffs“ Licht verloren gegangen.

Wenn man sich‘s aus der Physik anschaut, dann merkt man: Das ist so gar nicht greifbar: Es gibt ne Teilchentheorie – das ist also irgendwie ein Ding – und dann gibt es eine Wellentheorie – da verhält es sich ganz anders. Das ist nicht zu vereinbaren. Und eigentlich dürfte es so was gar nicht geben in unserer Welt und trotzdem ist es da.

Zumindest können wir eben Licht naturwissenschaftlich nicht vollends erfassen. Und das ist für mich auch eine weihnachtliche Einsicht: Licht und Leben sind eben nicht gänzlich zu ergründen, dafür aber wunder-bar und gott-gewollt.

Das Licht bricht sich Bahn in diese Welt und Gott Vater, der dann so was gebärendes ist, also nicht nur männliche Qualitäten, sondern auch weibliche hat, ist der, der dann diesen abstrakten Mega-Geist umbiegt, da sind wir wieder bei der Teilchentheorie mit dem Licht: Licht ist Welle und gleichzeitig Teilchen. Irgendwie schafft es dann dieser Gottvater aus der Welle ein Teilchen zu machen. Und das Teilchen ist dann – der Sohn. Oder sichtbar für uns Menschen.

Zuerst komme ich bei diesen Gedanken kaum mit. Doch dann staune ich über die Weihnachtsbotschaft des Künstlers so ganz ohne Maria, Josef und das Krippenkind:  So wie Licht beides ist - Welle und Teilchen - so ist Christus Gott und Mensch. So wie Licht wirkt – ohne dass wir genau sagen können, wie – so wirkt der mensch-gewordene Gott. Durch ihn wird es hell in der dunklen Welt. Das feiern wir an Weihnachten.

Teil 2: Weihnachten – erhellend und liebevoll

Ingo Bracke arbeitet künstlerisch mit Licht. Seit Anfang Dezember ist der 51jährige auch Chefbeleuchter am Staatstheater Nürnberg.

Ich bin als Quereinsteiger ans Theater gerutscht –… und da geht es ums Geschichtenerzählen mit Licht. Und genau das ist, was sich immer weiter durch mein Leben zieht:  Ich erzähle Geschichten mit Licht an besonderen Orten.

Und dabei kommt es ja immer drauf an, wie man eine Geschichte erzählt. Oder im Fall des Lichtkünstlers: Wie man eine Geschichte inszeniert und beleuchtet.

Schon in der Bibel ist das so: Die Evangelisten Lukas und Matthäus erzählen ganz anders von Weihnachten als Johannes. Die einen mit Darstellern, Handlung und „Story“, mit einer dramatischen Geburtsgeschichte, mit Hirten, Engeln und Königen. Der andere mit philosophischen Begriffen und mit der Wirksamkeit des Lichts. „Das Licht scheint in der Finsternis und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.“ heißt der Weihnachtssatz des Johannesevangeliums. Ingo Bracke sagt das eine Menge:

Das Bild von Johannes ist ja genau das: Es ist erst mal eine Welt, die dunkel ist. Und das Tolle ist, dass das Licht aus irgendeinem Grunde diese Dunkelheit erhellt – und wenn man jetzt wieder in die Physik geht – das sind ja alles ungeklärte Sachen: Es ist irgendwie dunkle Materie, das heißt: rein faktisch ist es so: Wir haben ein dunkles Universum und das Licht geht da durch und es wird nicht geschluckt. 

Dass Licht wirkt und sich nicht die Dunkelheit durchsetzt – das ist also gar nicht selbstverständlich. Für mich heißt das: Weihnachten wird es, wenn ich neu staune über die Kraft und Dynamik des Lichts - eben auch in „finsteren“ Zeiten wie der unseren mit ihren Kriegen und Krisen.

Kreative und Kunstschaffende wie Ingo Bracke regen genau dieses erhellende Staunen an, indem sie altbekannte Symbole und Zeichen neu inszenieren und kombinieren.

Also das stärkste Symbol ist das Herz. Und das taucht ja nicht ganz umsonst ganz oft auf. Es gibt diese Christusdarstellungen, wo dieses Herz leuchtet. Schlussendlich ist es ein megastarkes Symbol und wenn man es schafft, es aus der Verkitschung  zu holen, dann ist es unglaublich!

Und weil der Lichtkünstler offen für die Verbindung von Kunst und Religion ist, findet sich in seiner Kunst auch eine geistliche „Herzensspur“.

Es ist halt nicht nur physisch das Herz, sondern es ist auch metaphysisch - und Liebe ist auch das stärkste metaphysische Instrument, was wir in der Zwischenmenschlichkeit haben. Deshalb sind ja auch die meisten Religionen extrem auf Herz, auf die Nächstenliebe und die Liebe fokussiert.

Eigentlich kenne ich diese Bilder ja schon lange: Licht und Herz. Aber Ingo Bracke hat sie mir bei unserem Ateliergespräch wieder frisch zum Leuchten gebracht. Deshalb kann ich heute neu sagen: Weihnachten ist das Fest der Liebe und des Lichts.

Und so wünsche ich Ihnen heute einen er-hellenden und liebe-vollen Weihnachtstag!

Mehr zur Kunst von Ingo Bracke:
https://ingobracke.de

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38972
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SWR1 Begegnungen

15OKT2023
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Gerd Humbert Foto: privat

Peter Annweiler trifft Gerd Humbert, Referent für Männerarbeit

Teil 1: was die da machen

Der Mann brennt für seine Arbeit. Das spüre ich sofort, als ich Gerd Humbert besuche. Der Referent für Männerarbeit zeigt mir gleich ein Foto mit lachenden und begeisterten Männern aus seiner letzten Gruppe. 

Das ist für sie ein Ort,.. ein Schutzraum, in dem sie sich zeigen können wie sie sind. In der Gesellschaft gibt’s eher so ein traditionelles Männerbild: wie Karriere, schnell, net zum Arzt, keine Schmerzen und auf keinen Fall Gefühle zeigen – und in diesem Schutzraum konnten die Männer auch grad ihre Gefühle zeigen, sie konnten ihre Verletzungen, ihre Schwächen, ihre Niederlagen zeigen – sie konnten aber auch ihre Erfolge zeigen.

Ich gebe zu: Zuerst denke ich an Klischées der 90er Jahre: Männer lernen Gefühle zeigen. Der bewegte Mann. Schwitzhütte und Lagerfeuer. Männergruppen als Antwort auf die Frauenbewegung. Und irgendwie dachte ich, in der Kirche gäbe es so was gar nicht mehr. Doch Gerd Humbert beweist mir das Gegenteil. Seit 15 Jahren macht der 62jährige Pfälzer Männerarbeit in der evangelischen Kirche. Und sein Feld „brummt“.  Vielleicht gerade durch die Krisen der vergangenen Jahre:  Vier Männergruppen leitet er in Baden und der Pfalz und dazu noch drei Onlinegruppen. Mittlerweile hat er 60 Männer zu Leitern von Männergruppen ausgebildet.

Ich merke, dass die Krisen auch Fragen, Irritationen auslöst und die Männer auch so Schutzräume suchen wo sie auch mal ihre Fragen und Ängste besprechen können ohne gleich immer den Starken spielen zu müssen. Und je mehr Krisen es gibt, desto größer ist das Bedürfnis nach kleinen Gemeinschaften, die sich gegenseitig unterstützen.

Gesellschaftlich nimmt die Sehnsucht nach „starken Männern“ wohl eher wieder zu: Dass da einer mal draufhaut und dann alles wieder gut wäre. Wie wichtig, wenn Männer da anders mit Krisen umgehen lernen

Manche Männer kommen auch vor oder nach einer Krise. So die Hauptthemen sind … gesundheitliche Problematiken, die man als Mann ja hat, so mit Herzinfarkt oder Übergewicht…. das zweite Thema ist so der Druck aus der Arbeit… Und das dritte Thema ist so das ganze Beziehungsthema, mit Partnerin oder Kindern und Alleinleben – alles, was damit zusammenhängt.

Wir Männer reden zu wenig. Über Gesundheit, Schwächen und Beziehungen. Das kenne ich ja auch von mir – und gerade aus der Seelsorge weiß ich, wie wichtig es ist, nicht nur den Gesunden und Starken zu mimen, wenn es innen drin ganz anders aussieht.
Deswegen führt kirchliche Männerarbeit auch zu dem Punkt, wo Schwachheit keine Schande ist. Das ist für mich durch und durch ein biblisches Motiv: Im Durchleben von Schwachheit reifer und stärker zu werden. Gerd Humbert formuliert das so:

In den Männergruppe stärken wir unsere Persönlichkeit und gehen dann raus und übernehmen Verantwortung. Im Nahbereich ist das die Familie, aber auch im politischen Bereich. Wir sorgen net nur für uns selbst, dass es uns noch besser geht als uns eh schon geht. Wir gehen gestärkt raus, um Verantwortung zu übernehmen …im Nah- und Fernbereich – das ist mir ganz wichtig.

Teil 2: wie sich das auswirkt

Gerd Humbert macht Männerarbeit in der evangelischen Kirche. Für den Religionspädagogen und Soziotherapeuten erreichen die traditionellen kirchlichen Formen zu wenige Männer. Deshalb bietet der Pfälzer Männergruppen an – und er scheint der richtige Typ dafür zu sein. Seine sanfte und zugleich kraftvolle Art – irgendwie Kumpel zugleich Leiter – zieht viele Männer an. In seinen Gruppen geht es um eine tragende Gemeinschaft – und weniger um den Einzelkämpfer. Ganz gegen den Trend macht Gerd Humbert überraschende Entdeckungen.

Die Gruppe ist so intensiv, dass man denkt: Was ist denn eben passiert? … Da gibt es so ne Verbundenheit auch bei schweren Themen, wo wir uns … tragen und unterstützen. Das ist für die Männer oft ne spirituelle Erfahrung, wo sie sich fragen: Das war jetzt aber … eine größere Energie … So ne Gruppe ist wie ne kleine Lebensgemeinschaft oder wie ne Gemeinde in der Kirche, die sich über ihr Leben austauscht.

Der echte Austausch und die gegenseitige Unterstützung. Scheint unter Männern so selten, dass es ein spirituelles Erlebnis sein kann. Vielleicht gerade bei denen, die sich selbst als kirchenfern einschätzen. Gar nicht so selten erlebt Gerd Humbert, dass gerade die sagen:

Gerd, sprich doch mal n Gebet. … dass ich dann am Schluss noch ein freies Gebet formuliere und merke dann: Es ist eine große Sehnsucht nach Spiritualität, die ich aber nie missionarisch einbringe, sondern es kommt immer aus der Gruppe.

Der Protestant trägt eher einen „klassischen“ Lebenshintergrund in seine Gruppen: Seit 30 Jahren verheiratet, zwei erwachsene Töchter, keine Trennung. Dennoch kommen ganz unterschiedliche Männer in seine Gruppen: Väter und Kinderlose, Gläubige und Zweifler, Sportler und Unbewegliche. Da geht es um viel mehr als um „Vater, Mutter, Kind.“ Es ist Gerd Humbert wichtig, mir zu versichern:

Wir sind offen auch für … neue Geschlechterthemen. Es sind ein paar schwule Männer dabei. Und wir sind auch offen für Männer, die ne neue Orientierung suchen und finden. Wir stellen uns auch diesen Fragen.

Und so kann ich ihm abschließend die Frage stellen, ohne die keine Sendung keine über Männer enden kann – und die auch zum heutigen „Männersonntag“ in der evangelischen Kirche passt: Wann ist ein Mann ein Mann? - Gerd Humbert:

Ein Mann ist ein Mann, wenn er auf dem Weg ist, wenn er sich weiter entwickelt, wenn er wächst. In der Natur haben wir Wachstum. Da gibt’s manchmal trockene Phasen und feuchte Phasen, wo wir uns weiter entwickeln. Und für mich ist ein Mann ein Mann, wenn er auf den Weg geht und sich weiter entwickelt.

Mehr Infos zu Gerd Humberts Gruppen:
www.maennernetzpfalz.de

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38587
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SWR1 Begegnungen

03SEP2023
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Lars Castellucci Foto: Thomas Köhler/Photothek.

Teil 1: wo er herkommt und was er macht

Peter Annweiler trifft Lars Castellucci, Bundestagsabgeordneter aus dem Rhein-Neckar-Kreis

Seit zehn Jahren sitzt Lars Castellucci für seinen Wahlkreis in der Rhein-Neckar Region im Bundestag. Der Mann - schmaler Typ mit wachem Geist - ist noch keine fünfzig. Politisch engagiert ist er schon seit er siebzehn ist.  In der frühen Zeit seines Wirkens in Wiesloch hat ihn etwas geprägt, worauf er bis heute nicht verzichten möchte.

Ich bin viel vor Schülern und Schülerinnen unterwegs – und die fragen mich dann: Was habe ich denn gelernt oder studiert. Und dann sage ich immer, dass ich einen Kirchenchor geleitet habe. (lacht) Weil ich glaube wirklich, dass ich da sehr, sehr viel gelernt habe – auch wenn ich das nicht auf einem Zertifikat zeigen kann.

Und klar: Lars Castellucci hat auch „Zertifikate“ erworben. Er hat Politik, Geschichte, und Öffentliches Recht studiert. Er hat promoviert und eine Professur für nachhaltiges Management angetreten. Doch für sein Wirken als Politiker scheint die Chorleitung die beste Basis zu sein: Einen Klang anstoßen, den gemeinsamen Takt finden, die Gemeinschaft stärken. Ich finde, das lässt sich gut mit Herausforderungen in der Politik vergleichen.

Und obwohl Lars Castellucci heute sagt, dass er schon lange keine Zeit mehr für Chorarbeit und Orgelspiel hat, bleibt es für ihn ganz klar:

Ich bin aufgewachsen in der evangelischen Kirche und komm gar nicht umhin, mich da zugehörig zu fühlen.  Immer wenn n Posaunenchor loslegt, dann weiß ich, wo ich dazu gehöre – und das ist ja auch ein schönes Gefühl

Wie gut, wenn jemand weiß, wo er herkommt – und das bis heute wertschätzen kann.  Als religionspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion ist Lars Castellucci jedoch frei von einer Nostalgie-Haltung den Kirchen gegenüber.

Bei Themen, die jetzt auch schwierig sind, lsao, wenn ich der Auffassung bin, da hat man die Zeichen der Zeit nicht erkannt, dann äußere ich das auch gegenüber den Kirchen.

Castellucci ist es ein Anliegen, dass die Kirchen am Puls der Zeit bleiben.  Er will die interreligiöse Arbeit stärken. Für eine starke Suizidprävention setzt er sich genauso ein wie für gut geregelte Migration.

Und ganz wichtig ist ihm in allem der Zusammenhalt in unserem Land. Dazu sieht er auch die Religionsgemeinschaften verpflichtet.

Vielleicht fällt das Wort „Zusammenhalt“ auch deshalb so oft in unserem Gespräch, weil Johannes Rau sein Vorbild ist. In Castelluccis Augen einer, der genauso sozial, demokratisch und evangelisch war wie er selbst.

Als ich dreizehn war, hat er kandidiert als Bundeskanzler. Ich hab ihn dann beobachtet als einen Menschen, der versucht, zusammen zu führen: Versöhnen statt spalten - und so etwas -  vielleicht ist es altmodisch - Väterliches - das tut ja Menschen auch gut.

Ja, da stimme ich zu:  Wir haben in unserm Land zumindest gefühlt ein großes Gegeneinander. Ich nehme es Lars Castellucci ab, dass er den Zusammenhalt im Blick hat und nicht nur die Interessen einzelner oder gar seine eigenen.

 

Teil 2: was ihn prägt und wo er hin will

Lars Castellucci ist seit zehn Jahren Bundestagsabgeordneter aus dem Rhein-Neckar Kreis. Zum Profil des smarten 49jährigen gehört auch seine kirchliche Prägung.

Bei meinem Namen denken manche einfach mal schnell: Das müsste eigentlich katholisch sein und sag ich: Nee, ich bin fürchterlich protestantisch und dann da fürchterlich evangelisch und was ich damit meine ist, dass ich damit schon ein bisschendiese Regelbasiertheit, also Regeln zu haben und die auch einzuhalten – das ist mir wichtig und das versuche ich im Deutschen Bundestag auch stark zu machen.

Evangelisch und deshalb von Regeln geprägt. - Mir fällt als erstes ja immer die „evangelische Freiheit“ ein. Doch wenn ich mit Lars Castellucci weiter über Migrationspolitik spreche, wird mir klar: Freiheit und Menschenliebe sind dafür zu wenig. Ein so komplexes Feld braucht klare Regeln.

Ich glaube an die Möglichkeit guter Regeln, dass das nicht mit so viel Leid verbunden sein muss, dass da nicht immer Menschen sterben müssen, dass wir das schaffen können Regeln aufzustellen, die für alle gut sind.  Also eine ganz starke Hoffnung auf die Möglichkeit guter Lösungen -

und dabei Migranten nicht zuerst als ein „Problem“ zu sehen, sondern als Menschen mit Rechten – darin zeigt sich in meinen Augen, dass christliche Werte eine politische Haltung prägen können. Lars Castellucci:

Indem man sich für ne gute Sache einsetzt, hat man immer auch ne Hoffnung dabei, dass sie dann auch gelingen kann – das glaube ich zeichnet uns Christen und Christinnen aus – nicht exklusiv – aber es sollte uns auszeichnen.

Die Hoffnung, dass es auch im politischen Handeln „gut“ ausgehen kann, ist selten geworden in unseren Tagen. Viel stärker hat sich eine Skepsis breit gemacht, was „die da oben“ wohl noch alles verzapfen.

Es beeindruckt mich, wie Lars Castellucci – ganz ohne „die da oben-Haltung“ - Werte vertritt – und dabei menschennah und pragmatisch bleibt.

Für ihn müssen sich Hoffnung und politisches Handwerk finden. Nur so kann es angemessen in die Zukunft gehen. Und das gilt genauso für die Zukunft der Kirchen. Um die ist Lars Castellucci – trotz der Schrumpfkur, die sie gerade durchmachen -  übrigens gar nicht bange:

Da wird man sich von Gebäuden trennen. Aber wir sollen unser Herz ja gerade nicht an die Dinge hängen, die aufgehäuft worden sind. Sondern sollten frei sein, das was uns ausmacht als Christenmenschen auch spüren zu lassen. Und das geht nicht, wenn Gremien nur damit beschäftigt sind, wo es gerade wieder reinregnet…

Statt Fixierung auf Löcher in Dächern oder Kassen braucht es eine Besinnung auf den Kern der Aufgaben.

Da sein, wo es Not tut – die Wunden der Menschen heilen, Nähe, Wärme, Begegnung ermöglichen – das ist das Zentrum. Und das ist auch weiter möglich. Da bin ich ganz davon überzeugt.

Und da bin ich ganz bei Lars Castellucci.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38346
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23JUL2023
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André Borsche

Peter Annweiler trifft André Borsche, Plastischer Chirurg und Operateur in Krisengebieten

Teil 1: Arzt mit Herz

28 Jahre lang hat der plastische Chirurg André Borsche als Chefarzt im Diakoniekrankenhaus Bad Kreuznach gewirkt. Jetzt geht er in Ruhestand. Aber als Vorsitzender des Vereins „Interplast“ engagiert er sich weiter. Da wirkt er weltweit ehrenamtlich in Krisengebieten und Entwicklungsländern. Es sind besondere Eingriffe, wenn der Arzt mit seinem Team Menschen operiert: Opfer von Verbrennungen, Patienten nach Tretminenunfällen oder Kinder mit angeborenen Fehlbildungen:

Eine junge Familie, die sich riesig über das Kind gefreut hat – aber das Kind ist mit einer Kiefergaumenspalte geboren, eine klaffende Spalte in der Lippe – ansonsten kerngesund und munter – und sie waren ganz verzweifelt, weil sie dachten: Das ist eine Gottesstrafe– und ich sag mal aus meiner Perspektive, wie man mit relativ wenig Aufwand – ein, zwei Stunden Operation mit Lupe und  feinen Fäden und Sie zaubern praktisch die Lippe wieder hin – und dann dieses Kind den Eltern in die Arme wieder geben.

Für diese Momente lebt André Borsche. Seine Augen leuchten, wenn er davon erzählt. Schon 30 Jahre erfüllt ihn seine ärztliche und menschliche Mission. Vielfach wurde er dafür ausgezeichnet. Eben weil er sein Können nicht für sich behält, sondern in Afrika, Südamerika und Indien unentgeltlich hilft.

Ich denke zum Beispiel an die vielen Begegnungen mit Mutter Theresa, wo wir gesehen haben, dass eine wirklich sehr kleine, aber ganz strukturierte Frau gesagt hat: „Herr Borsche, ich freue mich, dass Sie gekommen sind – ich hab‘ sie praktisch schon erwartet (Weiß der Kuckuck woher, lacht). Ich habe zwölf Kinder für Sie vorbereitet, die Sie mir bitte in zwei Wochen gesund und munter operiert wiederbringen.-  Und mir blieb nur übrig, zu sagen: „Aye, aye, Madam – Ihr Auftrag ist mein Befehl“ – und genauso hat’s geklappt Das war einfach faszinierend.

André Borsche verzichtet für seine Einsätze oft auf seinen Urlaub. Er setzt sich großem Elend und heftigem Stress aus – und kommt doch zurück als einer, der mehr empfängt als er gibt.

Das Zurückkommen zeigt mir immer wieder, wie sehr die innere Batterie jetzt positiv aufgeladen ist. Das heißt: Ich bin sicherlich erschöpft, hab‘ wenig geschlafen, bin bisschen durchgedreht, aber ich bin innerlich so, so erfüllt.

Erfüllt ist er – und nicht ausgebrannt. Das Bibelwort „Geben ist seliger als Nehmen“ fällt mir im Gespräch mit diesem fröhlichen Helfer ein. Und der bleibt womöglich besonders fröhlich, weil er nicht alles als eigene Leistung sieht.

Und natürlich passiert es durch meine Hände, aber es passiert ja letztlich auch durch ne göttliche Fügung, dass so was möglich ist. Da dürfen wir uns nicht zu viel einbilden, dass wir da die Heilsbringer sind.

Der Protestant André Borsche ist überzeugt: Er ist „Werkzeug“. Durch ihn wirkt auch ein menschenfreundlicher Gott. Und der ermöglicht, die eigenen Talente zum Wohl anderer wirken zu lassen.

Teil 2: Botschafter der Menschlichkeit

André Borsche wirkte 28 Jahre als Chefarzt für plastische Chirurgie in Bad Kreuznach. Mit seinen Operationen schenkt der gebürtige Berliner Patienten ein neues Aus-sehen und gibt ihnen damit ein neues An-sehen. Als Vorsitzender des Vereins „Interplast“ führt er weltweite Hilfseinsätze durch. Dabei hat sich sein Blick auf Deutschland sehr verändert.

Wir sind gut abgesichert in vielerlei Hinsicht und haben auf viele Dinge, auch auf Gesundheit,  einen gewissen Anspruch, denken wir mal … In diesem Bewusstsein leben wir – leider (schmunzelt)

Dieser Anspruch verstellt wohl den Blick darauf, wie erfüllend es sein kann, Menschen in großer Armut zu helfen. Unentgeltlich tut der Arzt  das  - und staunt, wie wenig sein Wirken an politische oder religiöse Grenzen gebunden ist.

Man spricht deren Sprache nicht, aber die Augen leuchten, die Kinder lachen, man spielt mit denen und in diesem spielerischen Umfeld geschieht jedes Mal etwas ganz Besonderes, … das man nicht mit Worten fassen kann - das ist eine Lebenserfahrung, die möchte ich keinen Moment missen.

Für André Borsche kommt es zuerst auf diese bereichernde Menschlichkeit an. Sie ist für ihn im Christentum gegründet. 

Ich denke an einen der ersten Einsätze in Guinea in Westafrika, wo wir sehr nett mit den Ärzten und Schwestern vor Ort in Kontakt waren – und dann war ein Junge der eben auch ne ganz schwere Verletzung im Gesicht hatte – und der in der Straße als „daneben lebender Mensch“ noch geduldet wurde. Wir waren alle dann beseelt von dieser Idee: Jetzt wollen wir auch dem, der normalerweise gar keine Chance hätte, richtig helfen, selbst wenn die sagen „Die spinnen – die haben ihren humanitären Aspekt so in den Vordergrund gestellt!“

Denen helfen, die keine Chance haben - und damit den „humanitären Aspekt“ stärken. Auch, wenn andere darüber den Kopf schütteln:  Das ist eine unaufgebbare Konsequenz des christlichen Glaubens – und „eigentlich“ eine große Verpflichtung für Europa, das so stolz auf seine christlichen Wurzeln ist. André Borsche:

Ich hab auch meine große Sorge, dass im Moment unsere Gesellschaft so mit diesen ökonomischen Problemen so überlastet ist, dass wir uns in eine Denkweise hineinbegeben, wo so inhaltliche und ethische  Werte zunehmend verloren gehen.

Als Arzt wusste er schon längst vor Corona, was verloren geht, wenn Krankenhäuser Geld verdienen müssen: nämlich das Ethos des Teilens und eine Nähe zu denen, die nichts haben. Das Besondere an André Borsche ist, dass er dieses Ethos lokal und global mit einer ansteckenden Fröhlichkeit lebt . Für mich ist er ein sympathischer „Weltverbesserer“: Fröhlich kann es so einfach sein, die Welt zu gestalten.

Ich versuche eben fröhliches Auftreten und mein persönliches Lebensglück mit andern Menschen zu teilen und wenn das zum Selbstläufer wird und die dann wieder andere fröhlich machen, dann hat es geklappt.

Informationen zum Verein Interplast: www.interplast-germany.de

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37900
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SWR1 Begegnungen

25JUN2023
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Regina Bauer Foto: privat

Peter Annweiler trifft Regina Bauer, Mannheimer Pfarrerin mit Engagement für Ukrainerinnen

Teil 1: Mehr als ein Unterschlupf.

Eigentlich hätte es „abgewickelt“ werden sollen: Das Lukashaus im Mannheimer Süden. Doch dank Regina Bauer ist es anders gekommen  Als im März 2022 alle so entsetzt über den russischen Angriffskrieg sind, ist der Pfarrerin der Matthäusgemeinde Betroffenheit zu wenig. Tatkräftig und mit langem Atem bringt sie die Not der Geflüchteten und die große Hilfsbereitschaft in Deutschland mit der leeren Immobilie zusammen. Heute wohnen dreißig Personen in dem ehemaligen Pfarr- und Gemeindehaus. Und Regina Bauer kann sagen: 

Das Lukashaus ist zu ner Marke geworden. Die Leute sagen das auch. Sie sagen nicht ihre Adresse, sondern „Ich wohne im Lukashaus.“ Es ist ein Kristallisationspunkt, ein Kern für die Arbeit mit Menschen aus der Ukraine und mit Menschen in Deutschland.

Mehr als eine Million Menschen mussten ihre ukrainische Heimat verlassen und leben mittlerweile bei uns. Auf den ersten Blick sind da dreißig Geflüchtete nicht viel. Und doch ist im Lukashaus  so vieles gelungen, was nicht mit Zahlen zu messen ist:

Da kam die Frau, die früher drei Wochen in einem Keller gelebt hat, und ihr Partner zu mir – und sie haben mir gesagt: Wir werden ein Kind bekommen. Und dieses Kind ist inzwischen geboren und es heißt: Lukas. Wohl auch deshalb, weil sie sich sehr wohl und heimisch fühlen, geborgen fühlen, in diesem Haus.

Anrührend finde ich das, wenn ein Haus Pate für einen Menschen wird. Da muss ganz schön viel Gutes passiert sein, bis Geflüchtete so stark mit ihrer Unterkunft verbunden sind. Wie das wohl gewachsen ist, frage ich mich. Regina Bauer hat da eine einfache Antwort.

Wir haben kein fertiges Konzept gehabt, sondern wir haben Dinge miteinander entwickelt. Ganz bald, als die Menschen da waren, wurde deutlich: Wir müssen uns wieder treffen, weil die Angst und die Unsicherheit so groß war.

Es klingt so einfach – und fordert doch so Vieles. Denn damit Menschen sich sicher fühlen, braucht es Zeit, Begegnungen und Vertrauen. Die Kirche wird Café und Gasthaus. Sie bringt Geflüchtete und Einheimische zusammen. Und da entsteht für beide Seiten Neues.

Interessant, dass es vielleicht auch wieder wichtiger werden kann für uns, die wir hier in Deutschland geboren sind, zu überlegen, was sind die Dinge, die wirklich wichtig und wertvoll sind, die uns tragen, die wir brauchen, damit wir das Gefühl haben: Wir haben ein Herz und eine Seele – und das einander zu spiegeln

Teil 2: Begegnungen mit Herz und Seele

Regina Bauer ist Pfarrerin der Mannheimer Matthäusgemeinde. Die 61jährige hat eigentlich schon genug zu tun. Und doch hält sie es für wesentlich, Geflüchteten mehr als eine Unterkunft zu bieten. Das Wohnprojekt für ukrainische Familien im Lukashaus trägt ihre Handschrift.

Also ich glaub wirklich, dass das stimmt: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von den Begegnungen, die er oder sie geschenkt bekommt.

Und deshalb nimmt Regina Bauer sich pro Woche einen Abend Zeit für die geflüchteten Familien. Da hört sie mit Hilfe einer Übersetzerin ganz genau zu.

Wir besprechen mit den Menschen erst das, was die Gemeinschaft betrifft und dann das, was Einzelne betrifft. Das sind so praktische Dinge wie ein Antrag ans Jobcenter. Aber das können auch sehr persönliche Dinge sein: Trauer, die Sorge um den Ehemann, der im Minensuchdienst unterwegs ist. Die Frage, in welche Schule soll mein Kind gehen

Und an einem solche Abend im Lukashaus durfte ich dabei sein. Es hat mich beeindruckt mitzuerleben, wie geschätzt Regina Bauer dort ist.  Sie ist viel mehr Seelsorgerin als Hausherrin.

Manchmal beten wir zusammen, manchmal gebe ich jemandem einen Engel mit – auf die Reise, weil er oder sie noch mal in die Ukraine muss, um ein Papier zu holen, eine Unterschrift, einen Stempel – etwas Offizielles. Und wir umarmen uns kurz und dann gehen die Menschen – und sie wissen: Ich denke an sie – und meistens schreiben wir uns dann, während sie auf der Reise sind, noch ein paar Mal hin und her, bis sie wieder zurück sind.

Stark, wie fraglos für Regina Bauer trotz der hohen Sprachbarriere eine niederschwellige Seelsorge ist. Ganz selbstverständlich widmet sie sich Menschen, ohne nach deren Religionszugehörigkeit zu fragen – und staunt selbst, was das Projekt anregt.

Viele wollen auch etwas zurückgeben. Und so ist auch entstanden, dass beim Ukrainecafé und beim Ukraine-Abendessen immer Leute da sind, die mit unterstützen und mithelfen – und sich dadurch nicht nur als Menschen sehen, die etwas nehmen, sondern auch als Menschen, die etwas geben. Und das hilft und gibt ihnen wieder mehr Selbstwertgefühl.

Bemerkenswert finde ich, dass die Ukrainerinnen auch in die Kirche kommen. Und Regina Bauer erlebt dann, wie hilfreich es ist, einen gemeinsamen christlichen Kulturkreis zu haben.

Gottesdienst ist etwas ganz Wichtiges, in die Kirche kommen zu können: Kerzen anzünden zu können, gerade auch, wenn ich auf meinem Handy Bilder zugeschickt bekommen habe – jetzt zum Beispiel aus Cherson. Dann ist es wirklich wichtig, dass Menschen die Möglichkeit haben, zur Ruhe zu kommen, sich zu fokussieren und auch ein Stück Kraft geschenkt zu bekommen.

Für mich ist das, was rund um das Lukashaus geschieht, ganz besonders. Es erinnert mich an das, was in der Taufe Grund gelegt ist: Wir sind nicht zuerst Geflüchtete oder Einheimische, wir sind nicht zuerst Menschen einer bestimmten Staatsangehörigkeit, sondern wir sind zuerst Gotteskinder.

Nähere Informationen zur Gemeinde: www.matthaeus-kirche.net

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37892
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SWR1 Begegnungen

04JUN2023
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Gerhard Marcel Martin Foto: privat

Peter Annweiler trifft Gerhard Marcel Martin, Theologieprofessor und Autor des Buches „Sehnsucht leben“

Teil 1: Sehnsucht – ein Unruheherd?

An ihm hat mich immer beeindruckt, wie kreativ und weit er denken kann und dabei doch genau bleibt. Schon als ich bei ihm studiert habe, hat mir gefallen, wie der Marburger Theologieprofessor Religion mit Kultur und Psychologie im Gespräch hält. Jetzt habe ich ihn wieder besucht, weil er ein Buch über Sehnsucht geschrieben hat. In seinem Spätwerk hat sich dieses Motiv immer öfter bemerkbar gemacht, sagt er – und lädt ein, genauer hinzuschauen.

Sehnsucht ist so weit zu fassen als Phänomen, dass sie eigentlich ne Unruhe, einen Unruheherd in allen Lebensbereichen ist.

„Unruheherd“? –  Sehnsucht gibt sich nicht mit dem zufrieden, was ist. Sie treibt mich weg von dem, was mich im Moment umtreibt – und führt mich zu dem, was womöglich wesentlich ist. Ja, so passt es für mich auch in unsere Tage:  Gerade wenn ein Krieg grausam wütet, wird meine Sehnsucht nach Frieden erst recht geweckt!

Wohin zielt die Sehnsucht: Kann Sehnsucht gestillt werden oder ist sie unstillbar? Und ich gehe davon aus, dass Sehnsucht tatsächlich nicht erfüllt wird. Aber alles beginnt mit der Sehnsucht- und wo Sehnsucht sich erfüllt, dort bricht sie noch stärker auf.

Sehnsucht richtet sich also auf ein unerreichbares Ziel. Vielleicht ist sie wie ein Motor, der auch in verzwickten Zeiten und nach schweren Enttäuschungen am Laufen bleibt. Ihre Geschwister Optimismus und Hoffnung scheinen ihr gegenüber schneller am Ende. 

Optimismus ist ziemlich „pausbackig“, oft – und lässt den Schmerz  draußen. Hoffnung ist schon sehr viel aufgerauhter und enttäuschbarer und offen, während Sehnsucht demgegenüber geradezu diffus und unbestimmt ist, was aber auch ihre Stärke ist.

Ich weiß es ja von mir: Schmerzhaft ist mein Optimismus zerbrochen, dass dieser Krieg schnell vorbei gehen kann. Und meine Hoffnung, dass es nicht so viele Tote geben möge, war schnell zerstört. Meine Friedenssehnsucht aber lebt noch. Darin ist Sehnsucht womöglich auch wie eine Bewegung auf Gott hin – sie führt nicht auf ein behagliches Ruhekissen, sondern ist ein Unruheherd, der mich davor bewahrt, zu schnell zufrieden und beruhigt zu sein. Sie ist also auch ein Motor, nicht aufzugeben.

Und das ist die Dynamik der Sehnsucht, die auch dazu antreibt, es also nicht bei der inneren Erfahrung sein zu lassen und auch dazu ermuntert, in den sozialen Aktivitäten andere Spuren, einen Tiefgang, einen spirituellen, aber auch einen politischen, zu bewahren.

 

Teil 2. Sehnen und Suchen

Für den emeritierten Marburger Professor der Praktischen Theologie hat Sehnsucht viel mit dem Kern von Religion zu tun: Hoffnung und Verzweiflung, Glück und Schmerz finden in ihr zusammen. Gerade in Krisenzeiten treibt sie über Rückschläge und Enttäuschungen hinaus. Religion und Sehnsucht gehören für Gerhard Marcel Martin aus einem ganz einfachen Grund zusammen:

Religion ist ein Lebensphänomen und kein Denkereignis. Und von da aus muss sie und ist auch immer mit Lebenserfahrung und mit Enttäuschung und Schmerz und Sehnsucht verbunden.

Das gefällt mir: Religion ist nichts Exklusives - etwa nur für Kirchenmitglieder. Sie gehört mitten ins Leben: Als ein „Lebensphänomen“ hält sie Schmerz und Sehnsucht verbunden.  Sie gehört zu einem Drang, der sich manchmal gar nicht aussprechen lässt, so tief ist er im Grund des Lebens angelegt.

Das Klassische ist bei Paulus, dass die ganze Schöpfung sich sehnt nach der Erlösung, nach Lösung, nach Freiheit – und dass dies zum Ausdruck gebracht wird über ein Stöhnen, über ein Seufzen, also etwas Vorsprachliches, aber zutiefst Leibhaftiges.

Ja, manchmal möchte ich auch nur noch Stöhnen und Seufzen über den Unfrieden, das Taumeln unseres Planeten und die Rückfälle im politischen und menschlichen Bemühen. In seinem Buch geht Gerhard Marcel Martin davon aus, dass wir genau so – auch im Stöhnen und Seufzen - „Sehnsucht leben“ können.

Sehnsucht ist unterbestimmt und kann den Zielgegegenstand (schmunzelt), das Ziel gar nicht benennen, weil es in die Weite und ins Offene geht, was lebensdienlich ist, aber auch gefährlich sein kann. Und in dem Sinn kann aus Sehnsucht auch eine Abhängigkeit und eine Sucht werden

- und dabei kann Sehnsucht krank machen, weil sie immer weg zieht von dem, was ist. Und weil Menschen manchmal versuchen, die Sehnsucht mit Suchtmitteln ruhig zu stellen.

Und in dem Sinn müsste auch Sucht-Therapie befreien durch ein Lernen der Sehnsucht. Aus der Sucht kommt man nur heraus, wenn man in die Sehnsucht um-steigt…

Mir gefällt die kreative Nach-denklichkeit, mit der Gerhard Marcel Martin denkt, spricht und schreibt. Er berührt mich mit dem, was er aus Psychologie und Religionswissenschaft, aus Musik, Kunst und Bühnenwelt zusammen trägt

Wenn Religion diesen Anschluss an die Weite der Kultur und die Weite menschlicher Erfahrung verliert, dann ist sie „Plastik“ und verliert den Lebensatem.

 

Buch-Tipp:

Gerhard Marcel Martin, Sehnsucht leben, Stuttgart 2022

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37719
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SWR1 Begegnungen

12MRZ2023
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Nina Roller Foto: ekiba

Peter Annweiler trifft Nina Roller, Pfarrerin für Projekte bei der Bundesgartenschau Mannheim

Teil 1: paradiesisch

Die 36jährige will frische Formate unter die Menschen bringen. Als ich die Pfarrerin besuche, spüre ich gleich: Die Frau ist am richtigen Platz, wenn sie für Kirchenprojekte auf der Mannheimer Bundesgartenschau  unterwegs ist.

Ich brenne dafür, rauszugehen dahin, wo Menschen vielleicht gar nicht mit Kirche rechnen und da zum einen Themen zu setzen und mit den Menschen über diese Themen ins Gespräch zu kommen.

Und dafür hat sie mit ihrem ökumenischen Team schon ganz schön viel vorbereitet. Wenn die Schau Mitte April anfängt, dann gibt es viel mehr als besinnliche Impulse zwischen Orchideen und Oleandern.

Wir haben auf der Bundesgartenschau ein ganz wunderbares Gelände, den sogenannten Möglichkeitsgarten. Der Möglichkeitsgarten ist zugleich Kirche und Garten, das ist ein Ort, an dem Neues wachsen soll, sowohl pflanzlich als auch inhaltlich und im Miteinander.

Also ein „Kirchgarten“ für ein neues Miteinander von Religion und Natur!  -  Das macht Sinn. Eben weil wir angesichts des Klimawandels das Miteinander von Mensch und Schöpfung neu denken müssen. Und da ist es so einleuchtend, auf die ur-alte Verbindung von Religion und Garten zu stoßen:

Tatsächlich ist meine Lieblingsverbindung zwischen dem Garten und meinem Glauben und der Bibel die naheliegendste, nämlich das Paradies. Ich glaube, dass wir in den Herausforderungen, vor denen wir stehen, ganz gut beraten sind, wenn wir diese Geschichte uns wieder hervorholen als Maßstab und auch als Kraftbild, aus dem man schöpfen kann. Son inneres Kraftbild, in dem eben die Welt sehr gut ist – und daran erinnert mich das, wenn ich in Gärten unterwegs bin.

Und wir leben zwar schon längst nicht mehr im Paradies. Aber wenn der Mensch im Garten wirkt, gilt zweierlei: Er findet etwas Ursprüngliches und Natürliches vor, das viel größer ist als er selbst. Und er kann säen, jäten, ernten. Er kann gestalten.

Der Garten ist Schnittstelle zwischen Natur und Kultur. Und diese Schnittstelle zwischen Schöpfung und Mensch hat Nina Roller schon früh kennen gelernt

Ich bin nämlich richtig aufm Land aufgewachsen mit einem großen recht wilden, aber auch schönen Garten mit einem kleinen Acker, auf dem Dahlien gewachsen sind, aber auch Kartoffeln und ner Streuobstwiese.

Ganz arg spüren wir in den letzten Jahren: Selbst solche Kraftquellen sind durch die Erderwärmung bedroht. Die Balance von Mensch und Natur ist katastrophal aus dem Lot geraten. Und in der bedrohten Welt wird der Garten genau deshalb neu zum Übungsfeld von Zuversicht.  „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute einen Apfelbaum pflanzen.“ sagt schon das Martin Luther zugeschriebene Hoffnungswort, längst nicht nur ein Kompass für das Wirken im Garten.

Teil 2: schöpferisch nach draußen

Nina Roller hat Stadt und Land,  Kultur und Natur in ihrem eigenen Leben gut ausbalanciert. Da passt es gut, dass die 36jährige Mannheimer Pfarrrein jetzt den Auftrag hat, Projekte für die Bundesgartenschau zu entwickeln.

Wenn ich in der Natur bin, dann tank ich da wahnsinnig auf – und in der Natur was zu tun, tut mit an Körper und Seele gut. Und die Liebe zum Kulturellen und zum Urbanen, und aber auch zur Schöpfung und zum Leben in der Natur – die verbindet sich jetzt für mich.

Nina Roller steckt andere an mit ihrer Begeisterung für Natur, Kultur und Religion. Schon Anfang des Jahres hatte die dynamische Frau mit ihrem ökumenischen Team 105 Ehrenamtliche zusammengebracht und 27 Themenwochen fix und fertig vorbereitet.

Wir beginnen die Bundesgartenschau mit der Themenwoche  „Himmel auf  Erden“ – da geht es um Visionen für eine Welt, die gut ist, um Geschichten über eine Welt, die gut ist – die haben wir ja in unserer Tradition. Wir hören auf mit „Gott sei Dank“ – das ist dann der große Bogen, der gespannt wird, die Dankbarkeit für das, was nicht selbstverständlich ist.

Und dazwischen finden sich Themenwochen zu „Arbeitswelt“, zu „Leben und Sterben“ oder zu „queerer Kirche“.

Die Bundesgartenschau wird sicher auch ein großes Sommerfest, bei dem viele Leute in einer großen Offenheit und in einer Lebensfreude einander begegnen -  und ich finde, wir leben als Kirche von so nem lebendigen Geist, der Begegnung provoziert, der in die Auseinandersetzung mit anderen provoziert, der Menschen öffnet füreinander und insofern entspricht uns das total, an so nem lebedigen Ort zu sein, wo viele Menschen unterwegs sind.

Und für diese Begegnungen ist es gut „nach draußen“ zu gehen. Eben weil es wichtig ist, nicht nur in den inneren Zirkeln „drinnen“ in den Kirchenräumen zu bleiben, sondern draußen auch die bedrohte Schöpfung als Thema „nach vorne“ zu bringen.

Ich glaube, wir sind gefordert, „Bewahrung der Schöpfung“ nicht als zusätzliches Thema … zu denken, sondern wirklich als  zentrales Thema unsres Glaubens zu verstehen – uns selbst als Menschen auch zu verstehen als Mitgeschöpf, als Teil der Schöpfung und nicht als etwas der Schöpfung Enthobenes.

Ja, da stimme ich Nina Roller zu: Es ist ein zentrales Glaubensthema, wie verbunden Mensch und Mitgeschöpfe sind.  Viele sind heute womöglich eher mit ihrem Smartphone verbunden als mit Baum und Blume. Und viel zu lange hat die Vorstellung vom Menschen als „Krone der Schöpfung“ dazu geführt, dass die Verbindung von Mensch und Schöpfung aus dem Lot geraten ist. Dabei weiß schon die Bibel, dass die „Krone der Schöpfung“ der siebte Tag ist: Also der Sabbat und damit der Ruhetag. Der Tag des Innehaltens und Einklangs zwischen Schöpfung und Gott. Schön, wenn wir uns wieder mehr als Teil der Schöpfung verstehen und wenn die Begegnungen auf der Mannheimer Bundesgartenschau dazu beitragen. 

Nähere Informationen:
www.kibuga23.de

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37280
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26DEZ2022
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Helmut Guggemos

Peter Annweiler trifft Helmut Guggemos, Beauftragter für die Arbeit mit Geflüchteten und Migranten

Eigentlich ist sie ja ne uralte Geschichte: Die biblische Weihnachtsgeschichte mit der Geburt im Stall unter widrigen Umständen. Millionenfach erzählt und gehört. Manche finden sie vielleicht sogar zu oft gehört und  bekannt. Helmut Guggemos ist davon überzeugt, dass sie noch immer aktuell ist. Aktuell für unsere Zeit mit ihren Kriegen, Krisen und Fluchtbewegungen.

Dass Maria mit Josef auch selber eine Migrantenfamilie ist und war, ist mir in der Arbeit immer mehr bewusst geworden – und die Parallelen sind sehr offenkundig zu heutigen Familien auf der Flucht.

Der 53jährige ist seit 2019 Beauftragter für die Arbeit mit Geflüchteten und Migranten in der evangelischen Kirche der Pfalz. „Kein Raum in der Herberge“, viel Improvisation und viel Sorge   – das erlebt der Bayer in Speyer immer wieder.

Für mich ist es so, dass mir sehr bewusst wird, wenn ich Mütter seh‘ mit ihren Kindern, teilweise allein erziehend, in Sorge um den Ehemann, der zu Hause im Krieg in der Ukraine ist, dann hab ich schon das Motiv von Maria und dem Jesuskind vor mir.

Und in diesem Jahr ist das eben noch deutlicher vor Augen als in den Vorjahren: Zum ersten Mal liegt der Krieg in der Ukraine über dem Weihnachtsfest: Millionen von Menschen auf der Flucht in Europa, meist Frauen und Kinder. Da gab und gibt es viele Herausforderungen. Zuerst natürlich für die Geflüchteten selbst. Dann aber auch für die, die ihnen begegnen. Helmut Guggemos erkennt da einen erstaunlichen Trend:

Jetzt sind ja innerhalb eines Jahres mehr Menschen neu nach Europa geflüchtet alsdamals in 2015/16 in zwei Jahren. Das ist erstaunlich gut gegangen, was die Akzeptanz betrifft. Sehr beeindruckend für mich ist, dass Häuser, Wohnungen geteilt wurden - buchstäblich, und da man im Alltag ja viele Kompromisse machen muss, da sind viele auch an ihre Grenzen gestoßen dann, aber viele durften auch ganz viele positive Erfahrungen machen: Dass Teilen der Zeit, Teilen des Wohnraums und Teilen des Essen auch zu einer Bereicherung führt im Leben.

Teilen kann anders reich machen: Nicht weniger bekommen sondern anderes dazu gewinnen. Das hat viel mit dem zu tun, was Weihnachten ausmacht: wenn inmitten von bedrückenden Umständen auf einmal doch „Herberge“ in unwirtlicher Zeit möglich ist. Und Menschen in Krisenzeiten eine neue Lebensgewissheit spüren.

Vielfach ist das in diesem Jahr geschehen. Zuerst in der bewundernswerten Widerständigkeit der Menschen in der Ukraine. Dann aber auch bei allen, die sich mühen, die Folgen des russischen Angriffskrieges zu mildern. Eben, wenn sich Menschen im Herzen erreichen lassen, wenn sie „barm-herzig“ werden.

Helmut Guggemos hat sein Herz für geflüchtete Menschen entdeckt, als so viele Syrer nach Deutschland kamen. 2015 - da hat er - noch als katholischer Priester in Bayern – sein Pfarrhaus geöffnet.

Da hab ich so gemerkt, wie wichtig es ist, dass man die Türen öffnet für die Menschen – und das bleibt dann so in meiner weiteren Biographie, dass Menschen die hier ankommen, zumindest begleitet werden.

Heute lebt der 53jährige in Speyer, ist verheiratet und Vater von drei Kindern. Er wurde evangelisch und hat darin auch eine Art Migration und Übergang erlebt. Er weiß, wie es ist, neu Heimat finden zu müssen. Vielleicht hat er deshalb seine Glut für die Arbeit mit Geflüchteten behalten. Als Referent für Migration und Integration ist ihm jedenfalls neben dem Ukraine-Krieg wichtig, den „Rest der Welt“ nicht zu vergessen.

Für uns ist es so, dass wir diese Hilfsbereitschaft, dieses Unvoreingenommensein g auch den anderen Nationen gegenüber wünschen würden. Also wir versuchen alle Nationen gleich gut zu behandeln und würden uns auch vom Staat wünschen, dass den anderen Menschen aus anderen Ländern keine Steine in den Weg gelegt werden - wie das jetzt bei den Geflüchteten aus der Ukraine der Fall ist.

Betroffen und barmherzig den Nachbarn gegenüber ist das eine. Die weltweite Dimension von Gerechtigkeit und Menschenrechten ist das andere. Die darf aus christlicher Sicht nicht verloren gehen – denn niemand verlässt gerne und freiwillig seine Heimat. Wir leben auf der einen Erde und Gott kennt keinen Unterschied zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen. 

Ich versuche in den Menschen, in den geflüchteten Menschen letztlich Jesus Christus selbst zu sehen, der mir da begegnet, weil er ja gesagt hat: ‚Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen.‘

Es ist nicht nur „Nächstenliebe“, sondern sogar „Fremdenliebe“ – die das Christentum auszeichnet. Eine besondere Herausforderung, wenn einer mit von Abschiebung Betroffenen arbeitet. Nicht immer können sie als humanitärer Härtefall am Ende hier bleiben. Und doch macht es einen Unterschied, ob Menschen in ihrer Not gesehen und begleitet werden.

Ein junger Mann aus Afghanistan sollte abgeschoben werden und hatte aber in Deutschland schon ganz schön gut Fuß gefasst. Und da erinnere ich mich an den Ausdruck dieses Gesichtes, voller Hoffnung und voller Dankbarkeit, aber auch voller Ängste, wie wird es weiter gehen.

Das hat mich sehr stark berührt, weil mir so klar wurde, wie wir als Menschen auf die Hilfe anderer angewiesen sind – und was es aber auch auslösen kann, wenn ein Mensch den Zuspruch anderer erfährt, die sagen: Ja, wir stehen dir jetzt bei.

Der Mann durfte bleiben. Und selbst wenn der Zuspruch nicht zum gewünschten Ergebnis führt, gilt doch: Eine Welt, in der Menschen barmherzig handeln und gleichzeitig Gerechtigkeit stärken, ist eine „weihnachtliche“ Welt. Die Geschichten von Geflüchteten erinnern mich daran, wie nötig sie auch nach den Feiertagen bleibt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36759
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16OKT2022
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Gerhard Marcel Martin Foto: privat

Peter Annweiler trifft Gerhard Marcel Martin, Theologieprofessor und Autor des Buches „Sehnsucht leben

Sehnsucht – ein Unruheherd?

An ihm hat mich immer beeindruckt, wie kreativ und weit er denken kann und dabei doch genau bleibt. Schon als ich bei ihm studiert habe, hat mir gefallen, wie der Marburger Theologieprofessor Religion mit Kultur und Psychologie im Gespräch hält. Jetzt habe ich ihn wieder besucht, weil er ein Buch über Sehnsucht geschrieben hat. In seinem Spätwerk hat sich dieses Motiv immer öfter bemerkbar gemacht, sagt er – und lädt ein, genauer hinzuschauen.

Sehnsucht ist so weit zu fassen als Phänomen, dass sie eigentlich ne Unruhe, einen Unruheherd in allen Lebensbereichen ist.

„Unruheherd“? –  Sehnsucht gibt sich nicht mit dem zufrieden, was ist. Sie treibt mich weg von dem, was mich im Moment umtreibt – und führt mich zu dem, was womöglich wesentlich ist. Ja, so passt es für mich auch in unsere Tage:  Gerade wenn ein Krieg grausam wütet, wird meine Sehnsucht nach Frieden erst recht geweckt!

Wohin zielt die Sehnsucht: Kann Sehnsucht gestillt werden oder ist sie unstillbar? Und ich gehe davon aus, dass Sehnsucht tatsächlich nicht erfüllt wird. Aber alles beginnt mit der Sehnsucht- und wo Sehnsucht sich erfüllt, dort bricht sie noch stärker auf.

Sehnsucht richtet sich also auf ein unerreichbares Ziel. Vielleicht ist sie wie ein Motor, der auch in verzwickten Zeiten und nach schweren Enttäuschungen am Laufen bleibt. Ihre Geschwister Optimismus und Hoffnung scheinen ihr gegenüber schneller am Ende. 

Optimismus ist ziemlich „pausbackig“, oft – und lässt den Schmerz  draußen. Hoffnung ist schon sehr viel aufgerauhter und enttäuschbarer und offen, während Sehnsucht demgegenüber geradezu diffus und unbestimmt ist, was aber auch ihre Stärke ist.

Ich weiß es ja von mir: Schmerzhaft ist mein Optimismus zerbrochen,  dass dieser Krieg schnell vorbei gehen kann. Und meine Hoffnung, dass es nicht so viele Tote geben möge, war schnell zerstört. Meine Friedenssehnsucht aber lebt noch.

Darin ist Sehnsucht womöglich auch wie eine Bewegung auf Gott hin – sie führt nicht auf ein behagliches Ruhekissen, sondern ist ein Unruheherd, der mich davor bewahrt, zu schnell zufrieden und beruhigt zu sein. Sie ist also auch ein Motor, nicht aufzugeben.

Und das ist die Dynamik der Sehnsucht, die auch dazu antreibt, es also nicht bei der inneren Erfahrung sein zu lassen und auch dazu ermuntert, in den sozialen Aktivitäten andere Spuren, einen Tiefgang, einen spirituellen, aber auch einen politischen, zu bewahren.

Sehnen und Suchen

Gerhard Marcel Martin hat ein Buch mit dem Titel „Sehnsucht leben“ geschrieben. Für den emeritierten Marburger Professor der Praktischen Theologie hat Sehnsucht viel mit dem Kern von Religion zu tun: Hoffnung und Verzweiflung, Glück und Schmerz finden in ihr zusammen. Gerade in Krisenzeiten treibt sie über Rückschläge und Enttäuschungen hinaus. Religion und Sehnsucht gehören für Gerhard Marcel Martin aus einem ganz einfachen Grund zusammen:

Religion ist ein Lebensphänomen und kein Denkereignis. Und von da aus muss sie und ist auch immer mit Lebenserfahrung  und mit Enttäuschung und Schmerz und Sehnsucht verbunden.

Das gefällt mir: Religion ist nichts Exklusives - etwa nur für Kirchenmitglieder. Sie gehört mitten ins Leben: Als ein „Lebensphänomen“ hält sie Schmerz und Sehnsucht verbunden.  Sie gehört zu einem Drang, der sich manchmal gar nicht aussprechen lässt, so tief ist er im Grund des Lebens angelegt.

Das Klassische ist bei Paulus, dass die ganze Schöpfung sich sehnt nach der Erlösung, nach Lösung, nach Freiheit – und dass dies zum Ausdruck gebracht wird über ein Stöhnen, über ein Seufzen, also etwas Vorsprachliches, aber zutiefst Leibhaftiges.

Ja, manchmal möchte ich auch nur noch Stöhnen und Seufzen über den Unfrieden, das Taumeln unseres Planeten und die Rückfälle im politischen und menschlichen Bemühen.

In seinem Buch geht Gerhard Marcel Martin davon aus, dass wir genau so – auch im Stöhnen und Seufzen - „Sehnsucht leben“ können.

Sehnsucht ist unterbestimmt und kann  den Zielgegegenstand (schmunzelt), das Ziel gar nicht benennen, weil es in die Weite und ins Offene geht, was lebensdienlich ist, aber auch gefährlich sein kann. Und in dem Sinn kann aus Sehnsucht auch eine Abhängigkeit und eine Sucht werden

- und dabei kann Sehnsucht krank machen, weil sie immer weg zieht von dem, was ist. Und weil Menschen manchmal versuchen, die Sehnsucht mit Suchtmitteln ruhig zu stellen.

Und in dem Sinn müsste auch Sucht-Therapie befreien durch ein Lernen der Sehnsucht. Aus der Sucht kommt man nur heraus, wenn man in die Sehnsucht um-steigt…

Mir gefällt die kreative Nach-denklichkeit, mit der Gerhard Marcel Martin denkt, spricht und schreibt. Er berührt mich mit dem, was er aus Psychologie und Religionswissenschaft, aus Musik, Kunst und Bühnenwelt zusammen trägt

Wenn Religion diesen Anschluss an die Weite der Kultur und die Weite menschlicher Erfahrung verliert, dann ist sie „Plastik“ und verliert den Lebensatem.

 

Buch-Tipp:
Gerhard Marcel Martin, Sehnsucht leben, Stuttgart 2022

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36338
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