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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

22MRZ2025
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„Sammeln Sie Treuepunkte?“ Als ich diese Frage zum ersten Mal gehört habe, musste ich mir noch erklären lassen, was das ist und wie‘s funktioniert. Mittlerweile kommt das ebenso selbstverständlich wie die Frage „Bar oder mit Karte?“ Das Prinzip ist nicht neu. Früher gab‘s mal Rabattmarken, die hat man gesammelt und in ein Heftchen geklebt. Heute geht das – natürlich – digital und mit Chipkarte, bei jedem Einkauf, so ganz nebenbei. Aber das Wort kommt ganz groß und bedeutend. Es geht um ‚Treue‘, um meine ‚Treue‘. Aber nicht etwa meine Treue zu einem Menschen oder zu einer Aufgabe, sondern – zu einem Unternehmen.

Mich ärgert, wenn große Gefühle wie Treue oder Liebe dafür eingesetzt werden, um Kunden dazu zu bringen, immer wieder hier und nur hier einzukaufen. Und wenn ich dieses oder jenes Markenprodukt kaufe, so wird mir eingeflüstert, dann tue ich etwas Gutes. Dann liebe ich meine Familie mehr, wie wenn ich mit günstigen Produkten koche, die keinen klingenden Markennamen haben. Wie wenn ich ein besserer Mensch wäre, wenn ich einer bestimmten Supermarktkette ‚die Treue halte’. Und diese ‚Treue’ wird dann ‚belohnt’. Je mehr ich kaufe, desto günstiger wird’s.

Mich ärgert das auch deshalb, weil‘s da ja nicht nur um meine persönlichen Gefühle geht, sondern auch um ethische Werte. Grundlegende Werte, die wir für unser Zusammenleben brauchen, privat ebenso wie in der Gesellschaft und im Staat. Treue, Verlässlichkeit, Durchhaltevermögen. Treue hängt mit Trauen, mit Vertrauen zusammen, und vertrauen kann ich, wenn ich glaube, dass jemand aufrichtig ist. Und dass das, was er sagt, der Wahrheit entspricht. Im Englischen ist das noch zu erkennen: ‚true‘ klingt ganz ähnlich wie treu und heißt auf deutsch ‚wahr‘.  

Eine zentrale Aussage der Bibel heißt: Gott ist treu. Das heißt doch: Es gibt eine Instanz, eine Wirklichkeit, eine Kraft, die größer ist als wir alle. Und die ist verlässlich. Wenn ich merke, dass ich Orientierung brauche, dann sage ich gern, mit einem anderen Bibelwort: Zeig mir, Gott, welchen Weg ich gehen soll. Dann will ich ihn gehen. In Treue – in deiner Treue. Weil du treu bist, gibst du mir Kraft, dass auch ich treu sein kann. (nach Psalm 86,11)

Mir hat das schon oft geholfen. Ohne Kundenkarte. Ohne App. Und ganz ohne Treuepunkte. 

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

21MRZ2025
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Jeden Morgen dasselbe. Der Wecker klingelt. Jetzt hab ich die Wahl: Ausschalten und einfach weiterschlafen? Liegenbleiben und die Schlummertaste drücken? Oder doch gleich aufstehen?

In der Psychologie geht man davon aus, dass wir jeden Tag sage und schreibe 20 000 Entscheidungen treffen. Die allermeisten sind uns gar nicht bewusst. Denn zum Glück kann unser Gehirn bei alltäglichen Dingen quasi auf Autopilot schalten. Beim Aufstehen sind die Möglichkeiten ja noch übersichtlich. Später beim Einkaufen muss ich erstmal 5 Quadratmeter abscannen, wenn ich nur mal eine Tube mittelscharfen Senf kaufen will. 

Eigentlich ist es ja schön, die Wahl zu haben. Aber: Immer mehr Wahlmöglichkeit macht mich eben nicht immer zufriedener, denn immer könnte es ja etwas noch Besseres geben. Manchmal habe ich schon gedacht: Wenn ich ein Teufel wäre, dann würde ich den Menschen so viele Möglichkeiten vorsetzen, dass ihnen der Kopf schwirrt und dass sie vor lauter Vergleichen und Auswählen zu gar nichts anderem mehr kämen – schon gar nicht mehr zum Leben. Denn das Leben verlangt ja, dass ich mich entscheide, und dass ich zu dem, was ich gewählt habe, dann auch stehe. Wenn ich mich für einen Beruf entscheide, werde ich andere interessante Berufe eben nicht kennenlernen. Und wenn ich ein Kind habe, kann ich im Job eben nicht rund um die Uhr und rund um die Welt verfügbar sein. 

So ist das eben. Denn ich bin ein Mensch, ein endliches, begrenztes Geschöpf, und deshalb kann ich nicht unendlich viele Lebensläufe ausprobieren. Nur meinen eigenen. Aber was heißt da „nur“? Meinen eigenen, meinen unverwechselbaren Lebenslauf. Mit  Momenten von prallem Leben und Zeiten von öder Leere. Von Glück und Schmerz. Von Einsamkeit und Aufgehobensein.  

Ich bin nicht mehr jung, und die Gelegenheiten werden weniger, in denen ich ganz Neues erleben kann. Trotzdem habe ich nicht das Gefühl, etwas Wesentliches verpasst zu haben. Etwas, das ich unbedingt hätte erleben, erfahren, ausprobieren sollen. Ich übe mich jeden Tag darin, mein Leben anzunehmen. Es ist meines, und es passt zu mir. Und als Christin rechne ich damit, dass mein begrenztes Leben auf dieser Welt nicht alles ist, was Gott mit mir vorhat. Natürlich weiß ich es nicht, und ich kann‘s mir auch nicht wirklich vorstellen. Aber gerade deshalb bin ich gespannt. 

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

20MRZ2025
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Naturwissenschaften haben mich schon immer fasziniert. …… Lange wollte ich auch einen naturwissenschaftlichen Beruf ergreifen, die Chemie fand ich besonders interessant. Und dann hab ich doch ganz andere Fächer studiert, auch Theologie. In meinem Umfeld war das offenbar befremdlich. Von außen betrachtet schien das eine 180-Grad-Wende zu sein, und ich musste oft erklären, warum ich mich am Ende dann doch dafür entschieden hatte.  

Für mich selbst war das nie so. Ich habe nie gedacht, Naturwissenschaft und Religion seien Gegensätze, so wenig wie Chemie und Theologie. Denn es geht um ganz unterschiedliche Fragen. Die Naturwissenschaft fragt nach dem Wie, wie etwas entstanden ist und wie es funktioniert, woraus es besteht und welche Funktion es im Ganzen einnimmt. Die Religion dagegen fragt nach dem Warum, warum überhaupt etwas ist, und wozu es da ist. Die Blickrichtung ist ganz unterschiedlich. Wenn ich mir das klarmachen will, dann hilft mir ein Bild: Es ist, wie wenn auf einen geschliffenen Edelstein Licht fällt. Je nachdem, woher das Licht kommt, werden einzelne Facetten beleuchtet, immer nur einzelne, nie der ganze Stein. Deshalb ist es eigentlich absurd, Naturwissenschaft und Religion gegeneinander auszuspielen. Mir hilft das Bild vom geschliffenen Edelstein mit seinen vielen Facetten. Es hilft mir zu verstehen, warum man die eine Wirklichkeit auf so verschiedene Weise sehen kann. 

Vor drei Jahren wurde der Nobelpreis für Physik an den Quantenphysiker Anton Zeilinger verliehen. Der Naturwissenschaftler sagt: „Gott ist nicht fassbar“, deshalb kann man Gott weder beweisen noch widerlegen. Zeilinger selbst ist gläubig, und er sieht es als eine wichtige Aufgabe an, Wissenschaft und Religion zusammenzusehen. Er zitiert Werner Heisenberg, einen anderen Physiknobelpreisträger: „Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaften macht atheistisch, aber am Grunde des Bechers wartet Gott.“ 

Wenn ich als Theologin das sagen würde, käme es mir überheblich und übergriffig vor. Und ich würde es auch anders ausdrücken. Aber Naturwissenschaftler dürfen das sagen und auch so denken. Auch die, die keinen Nobelpreis bekommen.  

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

19MRZ2025
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Wo Menschen zusammen sind, braucht es Regeln. Anstandsregeln, die klarmachen, wie man sich verhält, was man in welcher Situation tut oder eben nicht tut. Diese Regeln sind wie eine eigene Sprache.

Ich bin froh, dass ich diese ‚Sprache ohne Worte‘ in meiner Kindheit lernen konnte. Jedenfalls den Grundwortschatz der Verhaltensregeln, die bei uns gelten. Dass man die Tür nicht zufallen lässt, wenn hinter einem jemand rein will. Dass man schnell aufsammeln hilft, wenn eine Tüte geplatzt ist und die Orangen auf dem Boden kullern. Dass man die Kassiererin anschaut und kurz grüßt, bevor man die Sachen einpackt. …… Ich muss nicht unbedingt wissen, wie man bei einem fünfgängigen Menü den Tisch deckt oder welche Kleidung bei einem Staatsempfang korrekt ist. Dafür aber wie man sich im Alltag verhält, in ganz banalen Situationen.

Eine der wichtigsten Anstandsregeln ist für mich: dass ich bitte sage, wenn ich etwas möchte, und danke, wenn ich etwas bekomme. Auch wenn‘s um Kleinigkeiten geht. Denn damit zeige ich anderen, dass ich sie überhaupt wahrnehme, wenigstens flüchtig. 

Aber bitte und danke sag ich nicht nur für andere. Fast noch mehr sag ich‘s für mich. Weil‘s mir guttut. Weil‘s mir guttut, mich daran zu erinnern, dass ich niemals aus mir selbst heraus leben könnte. Dass ich jeden Tag darauf angewiesen bin, zu bekommen, was ich zum Leben brauche. Von anderen Menschen. Ihre Gemeinschaft, ihren Respekt, ihre Aufmerksamkeit, ihr Wohlwollen. Und von einigen Menschen sogar ihre Liebe. Und wenn ich im Alltag bitte und danke sage, denn denk ich auch manchmal daran, dass ich aufgehoben bin in einer Kraft, die mich leben lässt. Und mit mir all die anderen Menschen, denen ich heute begegne oder nicht begegne. Und mein eher beiläufiges danke kann dann schon mal zu einem kleinen Gebet werden. Danke, dass es andere Menschen gibt, und danke dir, Gott, dass wir alle miteinander Platz haben in deiner Hand. Die aufmerksamen …..... und hilfsbereiten, und die, die eher muffelig sind und mit sich selbst genug zu tun haben. 

Zu Kindern sagen wir manchmal: „Wie heißt das Zauberwort?“ Es heißt bitte. Und Kinder lernen schnell, wie es funktioniert. Mein Zauberwort heißt mittlerweile eher danke. Weil es auch in mir selbst etwas verändert. Mich zufriedener macht, offener, freundlicher. 

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

18MRZ2025
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Ein Hund kann Vieles, unglaublich Vieles. Und in manchem ist er uns haushoch überlegen. Er kann mindestens sechzigmal besser riechen als Menschen. Mit seinem sensationellen Geruchssinn kann er Drogen erschnüffeln und ebenso die Fährte vermisster Menschen. Und an unserem Geruch kann er sogar erkennen, ob wir gerade traurig sind oder gut gelaunt, ängstlich oder wütend. Im Vergleich mit einem Hund komm ich mir da vor wie ein primitives Pantoffeltierchen. 

Aber der Geruchssinn ist nicht alles, in anderen Bereichen ist es gerade umgekehrt. Da kommt der Hund an seine Grenzen, wie sehr ich auch immer mit ihm trainieren würde.

Wenn ich einem Hund etwas zeigen will und mit dem Finger auf etwas deute, dann schaut der Hund nicht in die Richtung, in die mein Finger zeigt, sondern nur auf den Finger. Auch der cleverste Hund wird in dem Finger nicht mehr sehen als eine Geste, mit der ich ihm ein Kommando gebe. 

Der große Psychiater Viktor Frankl hat diese Beobachtung festgehalten. Und er hat darin ein Bild gesehen. Ein Bild dafür, wie wir Menschen uns oft verhalten. Wenn wir etwas erleben, das wir nicht verstehen, dann starren wir oft auch nur auf das Ereignis, wie der Hund auf den ausgestreckten Finger. Stattdessen, meint Frankl, sollten wir damit rechnen, dass ein solcher ‚Zeigefinger‘ zugleich auch ein Fingerzeig sein könnte. Dass uns manche Ereignisse auf etwas hinweisen, was wir sonst gar nicht sehen würden. 

Mir fallen da viele Beispiele ein. Während der Pandemie etwa haben wir gebannt auf den Finger der täglichen Corona-Ticker geschaut mit ihren verwirrenden Zahlen und Fakten. Damals konnten wir noch nicht sehen, wohin der Finger zeigt, allenfalls manches ahnen. Aber meistens könnten wir mehr sehen, viel mehr, wenn wir nicht nur auf den ‚Finger‘ starren würden. Ein solcher Zeigefinger ist auch die Erderhitzung. Die müssten wir dringend als Fingerzeig verstehen. Um nicht nur die Temperatur zu messen, sondern auch die Ursachen anzugehen und entschieden umzusteuern. 

Anders als ein Hund sind wir dafür geschaffen, Fingerzeige zu verstehen, und damit auch die Folgen unseres Verhaltens abzuschätzen. Damit haben wir auch Verantwortung. Allem voran die Verantwortung, die Erde zu erhalten, unser gemeinsames Haus. Als Lebensraum, für uns selbst und für unsere Mitgeschöpfe.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

17MRZ2025
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Riesenrad fahren. Für mich kam das lange nicht in Frage, weil ich schon im dritten Stock Höhenangst bekomme. Dann, vor ein paar Jahren, kam mal Besuch aus Frankreich, meine Brieffreundin und ihr Mann. Vor 30 Jahren waren wir zusammen auf dem Cannstatter Volksfest, deshalb wollte sie jetzt gern nochmals hin. Und Riesenrad fahren, wie damals. Damals allerdings noch ohne mich. Aber jetzt sollte ich unbedingt mitfahren ….... Ich wollte ihnen den Spaß nicht verderben und habe mich dann doch überwunden einzusteigen. Mit ganz flauem Gefühl. 

Wir waren gerade mal ein paar Meter über dem Boden, da begann eine junge Frau, die mit in der Kabine fuhr, unruhig zu werden. Sie klammerte sich an ihren Freund, und dann an alles, was sie zu fassen bekam. Die Atmung wurde schneller, sie geriet in Panik. Ihr Freund war überfordert, die anderen Mitfahrenden konnten nicht deutsch. Jetzt kam es auf mich an. Wir legten sie auf den Boden, so dass sie nicht hinausschauen musste, und hielten sie fest. Nicht zu fest, nur so, dass sie das Gefühl hatte: ich bin nicht allein. Ich versuchte eine Atemübung mit ihr zu machen, und tatsächlich: langsam beruhigte sie sich. Und als das Riesenrad anhielt, war sie noch etwas blass um die Nase, konnte aber schon wieder lächeln. 

Erst danach ist mir aufgefallen: Meine eigene Höhenangst hatte sich überhaupt nicht gemeldet. Der jungen Frau ging’s so schlecht, und ich war ganz damit beschäftigt, sie zu beruhigen, zu stärken, zu trösten, dass ich an meine eigene Angst gar nicht dachte. Ich war völlig abgelenkt, und vor allem: ich wurde gebraucht. 

Dieses Prinzip funktioniert, nicht nur bei Panikattacken im Riesenrad. Es ist auch das Prinzip, nach dem viele Selbsthilfegruppen entstanden sind. Solange die Mitglieder einander helfen, werden sie von ihrem eigenen Elend nicht überwältigt. …...

Denen helfen, die’s schwerer haben als ich, denen’s schlechter geht als mir. Das funktioniert erstaunlich gut. Auch dann, wenn’s mir nicht so gut geht. Wie hat es Jesus doch gleich formuliert? ‚Alles, was du von anderen gern möchtest, dass tu auch für sie.’ Wenn ich mich danach richte, geht’s im besten Fall allen besser. Nicht nur mir, aber auch mir. 

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SWR1 Anstöße sonn- und feiertags

16MRZ2025
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So ein Navi ist eine praktische Erfindung. Ich gebe nur mein Ziel ein, und in Sekunden wird mir gesagt, in welche Richtung ich starten muss und wie‘s dann weitergeht. Ganz detailliert, an jeder Kreuzung, an jeder Kurve. In den allermeisten Fällen kann ich mich drauf verlassen, dass ich auf dem kürzesten oder auf dem besten Weg an meinem Ziel ankomme. Und wenn ich doch mal unaufmerksam bin und falsch abbiege, oder unterwegs umdisponiere, dann dauert es nur einen Augenblick, und das Navi passt sich an und schlägt einen anderen Weg vor. Es führt mich trotzdem weiter, dann eben über eine andere Strecke. Wie oft war ich schon erleichtert, wenn ich diese Ansage gehört habe „Route wird neu berechnet“. Denn sie sagt mir: Egal, welchen Weg ich nehmen will, ich komme auf jeden Fall an meinem Zielort an.

 

Ich glaube ja, so ein Navi gibt‘s nicht nur fürs Autofahren. Ich glaube, dass mein ganzer Lebensweg unter einem ‚Navi‘ steht, die lange ‚Route‘, die ich zwischen Geburt und Tod zurücklege. Diese Vorstellung ist nicht neu, religiöse Menschen haben zu allen Zeiten darauf vertraut, dass sie ihren Weg nicht allein finden müssen, sondern: dass es eine Kraft gibt, die größer ist und die ihr Leben sieht und leitet. ‚Vorsehung‘ hat man das früher genannt, auch Führung oder Fügung. Aber dann ist da ja immer auch die Frage: Und wo bleibt meine Freiheit? Wenn mein ganzer Weg vorbestimmt ist?

 

Ausgerechnet das Navi in meinem Auto hat mir da etwas klargemacht. Mit seiner Ansage „Route wird neu berechnet“. Das ist für mich zu einem Bild geworden, mit dem kann ich mir besser vorstellen, wie das zusammengehen kann: Gottes Plan für mich – und meine Freiheit, selbst darüber zu entscheiden, welche Wege ich gehen will. 

 

Wie die meisten Menschen habe auch ich in meinem Leben nicht immer den geraden Weg genommen. Da waren auch Umwege, Fluchtwege, Abwege und sogar regelrechte Irrwege. Wenn ich darauf zurückschaue, werde ich ganz demütig und zugleich ganz dankbar. Dass sich dann doch so Vieles immer wieder gut gefügt hat. Dass Gott immer mitgegangen ist, und ‚die Route‘ meines Lebens immer wieder ‚neu berechnet‘ hat. Und ich vertraue darauf, dass er das immer wieder tun wird. Sooft ich mich verfahre oder verirre, er einen neuen Weg findet, eine neue ‚Route‘. Und irgendwann werde ich dann vielleicht auch hören: ‚Du hast dein Ziel erreicht‘. 

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

30NOV2024
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Im Lockdown der Coronazeit wurde alles heruntergefahren, das öffentliche Leben praktisch lahmgelegt. Geschäfte zu, Restaurants zu – und leider auch: Friseurläden zu. Woche um Woche, monatelang. Und so sahen wir dann auch aus. Irgendwann war der Lockdown vorbei und die Geschäfte machten wieder auf. Ich kann mich noch so gut erinnern, wir froh ich war, als ich nach etlichen Versuchen einen Friseurtermin bekommen habe. Endlich wieder ein Haarschnitt, eine ‚richtige‘ Frisur! Mir war vorher gar nicht bewusst, wie wichtig das sein kann und wie viel so ein Haarschnitt ausmacht, für meine Stimmung, für mein Selbstbewusstsein.
Friseure und Friseurinnen wissen das, sehr gut sogar. Sie erleben es ja jeden Tag an ihren Kunden. Und deshalb wissen sie auch, was Menschen fehlt, die kein Geld haben, um zum Friseur zu gehen. Einen Friseur aus Oberschwaben hat das umgetrieben, und dann hatte er eine Idee, so erzählt er: „Ich habe gedacht: Was kann ich denn tun, um zu helfen? Ich kann Menschen glücklich machen mit Kamm und Schere. Und das wollte ich auf der Straße für Bedürftige und obdachlose Menschen einbringen, weil durch diesen Haarschnitt schmelzen die Menschen wieder in die Gesellschaft zurück und werden nicht von vorneweg abgestempelt.“1
Claus Niedermaier hat seine Idee mit anderen geteilt, und so entstand eine Initiative, die sich Barber Angels nennt, auf Deutsch Friseur-Engel. Die Mitglieder, allesamt Friseure und Friseurinnen, schneiden in ihrer Freizeit umsonst Haare und Bärte.
Angels nennen sie sich, Engel. Und das sind sie auch. Nicht mit Flügeln und Rauschgoldhaaren, sondern mit schwarzer Lederweste, die sie ‚Kutte‘ nennen. Bodenständige, zupackende Männer und Frauen. Die einfach tun, was Herz und Verstand ihnen sagt. Einer von ihnen, der‘s als Kind nicht leicht hatte, sagt es so: „Das ist mein… Beitrag, auch das Dankeschön an die Leute, die früher… an mich geglaubt haben. Deswegen gebe ich von dem was zurück, was mir Gutes widerfahren ist.“2
Ja, das sind Engel, wirkliche Engel. Ob sie das selbst nun religiös verstehen oder weltlich, das ist nicht so wichtig. Viel wichtiger ist, dass sie tun, was Engel zu tun haben: den Menschen leben helfen. Zum Beispiel mit einem guten Haarschnitt.


1 Südwestpresse am 29.09.2024
2 Südwestpresse am 29.09.2024

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

28NOV2024
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Wie viele Kriege gibt es doch auf der Welt! Und wie oft spielt dabei die Religion eine wesentliche Rolle. Kriege unter Christen unterschiedlicher Konfessionen, vom dreißigjährigen Krieg bis in die heutige Ukraine. Kriege in der arabischen Welt zwischen Sunniten und Schiiten. Gewaltausbrüche fanatischer Hindus in Indien…
Der irische Satiriker Jonathan Swift hat schon im 18. Jahrhundert gesagt: „Wir haben Religion genug, um einander zu hassen, aber nicht genug, um einander zu lieben.“ Er hatte damals Irland im Blick und die Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten, die bis heute nicht zur Ruhe kommen.
Seine Analyse gilt immer noch. Dabei könnte Religion doch so etwas wie der innere Kompass sein, die Basis für ein gutes Zusammenleben. Aber auch in meinem Leben ist der Glaube nicht immer die innere Mitte. Da kann sich schon mal ein anderer Gedanke, ein anderer Wert in den Vordergrund schieben, und – zack – argumentiere ich, wie wenn ich mich nicht als Christin verstehen würde. Das geht ganz schnell und oft ohne dass mir‘s in dem Moment bewusst ist. Und das Gebot der Liebe, das für Jesus das höchste ist, dass muss dann einfach mal Platz machen für Sachzwänge, für politische Vernunft, für taktisches Denken und Handeln.
Der Kern der christlichen Ethik ist das Gebot der Liebe. Es ist eine dreifache Liebe: Liebe zu mir selbst, weil ich geschaffen bin und das Recht habe zu leben. Liebe zu anderen, weil sie – genau wie ich – geschaffen sind und – genau wie ich – das Recht haben zu leben. Und: Liebe zu Gott, der mit seiner liebenden Kraft alles Geschaffene leben lässt. So einfach ist das. So einfach könnte es sein, wenn alle, die sich Christen nennen, danach leben würden. Tun sie aber nicht, oft jedenfalls. Mich eingeschlossen.
Wenn ich aus meinem Glauben leben will, dann brauche ich diesen inneren Kompass des Evangeliums. Und das Gebot der Liebe ist für mich quasi die Kompassnadel. Und wenn ich in meinem Alltag Orientierung brauche, kann ich auf sie schauen, jederzeit.
Ich für mich kann sagen: Ja, ich möchte ‚mehr Religion‘ – aber nicht einfach mehr von derselben Sorte, sondern tiefere, authentischere und, ja, auch demütigere Religion.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

27NOV2024
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Es gibt Gefühle, die möchte niemand haben. Und hat sie eben doch. Eines dieser ungeliebten Gefühle ist die Scham. Ich glaube, fast alle könnten aus dem Stand erzählen, in welchen Situationen sie sich so sehr geschämt haben, dass sie das sprichwörtliche Mauseloch herbeigesehnt haben.
Scham hat viele Gründe, und viele Gesichter. Aber immer spielt da so ein Gefühl von Ungenügen mit: Ich bin nicht recht, so wie ich bin – und jetzt fliegt das auf, was ich immer zu verbergen versuche. Oder: was ich tue, ist nicht in Ordnung, und jetzt können es alle sehen. Ich kann mich aber auch ganz allein vor mir selbst schämen. Immer dann, wenn ich spüre: Was ich gerade nach außen darstellen will, das bin ich so doch gar nicht.
Scham hat immer etwas mit Ertapptwerden zu tun. So sieht es auch die Bibel. Schon das erste Menschenpaar im Paradies konnte der Versuchung nicht widerstehen, auch von den Früchten zu essen, die für die Menschen tabu sein sollten. Und als sie von Gott zur Rede gestellt werden, schämen sie sich. Sie fühlen sich ‚nackt‘, entblößt. Sie können sich nicht mehr verstecken, nicht mehr einhüllen in Rechtfertigungen und Ausreden.
Seither ist die Scham in der Welt, sagt die Bibel. Seither quälen sich die Menschen mit diesem brennenden Gefühl, nicht gut genug zu sein, vor anderen, vor sich selbst, und auch vor Gott. Oder: die Scham, zu einer Gruppe zu gehören, die etwas tut, das ich persönlich beschämend finde. Zu einem Land, einer Familie, einem Berufsstand, einer Clique. Fremdschämen, sagt man dafür heute.
Friedrich Nietzsche hat gefragt: „Was ist das Menschlichste?“ und selbst geantwortet: „Einander Scham ersparen.“ Ich finde, das stimmt. Und seit ich dieses Wort kenne, fällt es mir immer wieder mal ein. Situationen gibt‘s ja genug. Da bringt sich vielleicht jemand, den ich eh nicht mag, in eine peinliche Situation und liefert mir eine Steilvorlage, gleich noch eins draufzusetzen. Mit einer spöttischen Bemerkung. Mit einem vielsagenden Blick zu den andern. Ich kann‘s tun, ganz spontan – ich kann aber auch kurz innehalten und auf den kleinen Triumph verzichten.
„Was ist das Menschlichste? Einander Scham ersparen.“ Gleichsam den Mantel hinhalten, wenn jemand blamiert und entblößt dasteht. Und dankbar sein, wenn auch mir so ein Mantel gereicht wird, wenn ich wieder mal ein Mauseloch herbeisehne.

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