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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

21OKT2023
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Es gibt Wörter, die dürfte es eigentlich nicht geben. Weil sie einen logischen Zusammenhang unterstellen, den es so gar nicht gibt. Ich habe eine ganze Liste solcher Wörter, die‘s lässig zum ‚Unwort des Jahres‘ bringen könnten.

Mein persönliches ‚Unwort‘ heißt derzeit ‚sozialschwach‘. So werden immer wieder Menschen bezeichnet, die wenig Geld zur Verfügung haben, von dem sie leben müssen. Das müsste ja dann aber ‚einkommensschwach‘ heißen. Und das ist etwas ganz anderes als ‚sozialschwach‘. 

Ich denke an eine Frau, mit der ich vor Jahren zu tun hatte. Eine ganz entfernte Nachbarin, ich nenne sie Helga. Kennengelernt habe ich sie auf dem Heimweg aus der Stadt. Ich hatte noch eingekauft, und meine Tasche war zu klein. Immer wieder fiel etwas  raus, und ich hatte Mühe, die Henkel noch sicher zu fassen. Eine fremde Frau überholte mich und bot mir an, einen Teil in ihrer Tasche den Berg hoch zu tragen. Beim Umpacken sah ich, dass sie nur Birnen in der Tasche hatte. Sie erzählte mir voll Freude, dass sie in einem Garten Birnen ernten durfte und bot mir auch gleich eine an. „Kaufen könnte ich mir die nicht“, meinte sie, „die kosten ja über 3 Euro das Kilo!“. „Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder“, sagte sie später, als ich mich dankend verabschiedete, und sie setzte lachend hinzu: „Ich hab meistens eine leere Tasche dabei, die können Sie gern mitbenutzen.“  

Von wegen ‚sozialschwach’! Nur weil Helga mit wenig Geld auskommen muss. Dabei ist sie gerade in sozialer Hinsicht doch alles andere als schwach. Sie sieht, was mir fehlt und hilft mir sofort. Sie ist stark, viel stärker als viele, die viel mehr Geld zum Leben haben. Natürlich gilt das nicht für alle Menschen, die materiell arm sind. Auch bei ihnen gibt es Neid und Egoismus. Denn sie sind nicht schon deshalb, weil sie arm sind, die besseren Menschen. Aber das müssen sie auch nicht. Auch bei Menschen mit viel Geld kann man ja nicht erwarten, dass alle großzügig und sozial eingestellt sind.

So gesehen gibt es ‚sozial schwache‘ Menschen in allen Schichten. Und deshalb ist es völlig daneben, von ‚sozialschwach‘ zu reden, wenn man eigentlich ‚einkommensschwach‘ meint. Denn das ist nicht nur sachlich falsch, sondern auch persönlich diskriminierend. Ein Unwort eben. 

 

 

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

20OKT2023
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‚Weniger ist mehr‘ – als ich jung war, konnte ich mit diesem Sprichwort nichts anfangen. Im Gegenteil, es ging mir auf die Nerven. Es klang so gesetzt und abgeklärt, und es stand für ein Lebensgefühl, das jungen Leuten in meiner Generation ziemlich fremd war. Mit weniger zufrieden sein war damals nicht dran, alle Ampeln standen auf Wachstum, alles sollte immer noch mehr werden, größer, schneller. Man freute sich an dem, was man hatte und erreicht hatte, und für die Zukunft erwartete man einfach noch mehr von allem. Auch von den technischen Möglichkeiten. Denen hat man zugetraut, dass sie den Himmel auf Erden schaffen könnten, irgendwann. Auch wenn‘s in meiner Familie vergleichsweise bescheiden zuging, es gab so eine Grundstimmung, die hieß: Es geht aufwärts! Wachstum war das Zauberwort, reduzieren war nicht dran. Warum also sollte weniger mehr sein? Natürlich gab‘s auch damals schon andere, die auf die Folgen hingewiesen haben, aber sie wurden als Spinner oder Bedenkenträger abgetan. 

In den Jahrzehnten seither hat sich viel verändert. Die Welt ist eine ganz andere geworden, mit neuen Problemen, neuen Fragen, neuen Lösungsansätzen. Und auch die Werte und Haltungen haben sich weiterentwickelt. ‚Weniger ist mehr’, das höre ich jetzt wieder und immer öfter. Es sind meist junge Leute, die dieses alte Sprichwort wiederentdecken und geradezu zu ihrem Lebensmotto machen. Weniger konsumieren, weniger verbrauchen, weniger Müll produzieren. Und dafür: kreativer werden, bewusster genießen, sorgsamer umgehen mit der Schöpfung. Nein, so sind sie nicht alle, die ‚jungen Leute von heute‘, natürlich gibt es auch andere, immer gibt es auch andere. Aber es ist so was wie ein Bewusstseinsstrom, der immer breiter wird. Notgedrungen, denn mittlerweile begreifen auch die Letzten, auch in meiner Generation, dass die Klimaprobleme mit uns und unserem Lebensstil zu tun haben, und nicht etwa blindes Schicksal sind.

Weniger ist mehr. Längst habe ich verstanden, dass es da nicht um spießige  Beschränkungen oder Verbote geht. Es geht um so viel mehr: Es geht darum, die Schöpfung zu erhalten und darin gutes Leben zu ermöglichen, für uns und für kommende Generationen. Und für die Fülle der Lebewesen, mit denen wir diese wunderbare Erde teilen.

 

 

 

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

19OKT2023
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Wenn man Menschen fragt, wovor sie sich im Alter am meisten fürchten, dann sagen viele: vergesslich zu werden, und sich vielleicht einmal gar nichts mehr merken zu können. Sich nicht mehr zu erinnern, das macht Angst, auch mir. Weil es unheimlich ist, nicht mehr zu wissen, was ich gestern getan oder gesagt habe. Oder was ich in früheren Jahren erlebt habe. Wen ich gekannt habe, und wer mir nahe gestanden ist.

Doch neulich wurde ich auf etwas aufmerksam, das hat meinen Blick aufs Vergessen ein bisschen verändert. Zusammen mit einem Förster besichtigte ich ein Waldstück. Dort wird die Natur seit einigen Jahren sich selbst überlassen. Auffällig viele Nussbäume wachsen da, ganz kleine und auch welche, die schon voller Nüsse sind. Der Förster erklärt mir, dass Eichhörnchen hier eine ganz wichtige Aufgabe übernehmen. Sie sind Weltmeister im Sammeln, ja. Aber sie sind auch Weltmeister im Vergessen. Sie vergessen nämlich, wo sie ihre Vorräte überall versteckt haben. Würden sie alles wiederfinden, gäbe es viel weniger Walnussbäume. 

Vielleicht ist vergessen ja doch nicht immer so schlecht wie sein Ruf. Die Natur macht‘s uns doch vor. Vergessen kann Leben sogar fördern und hilfreich sein.

Ich denke da etwa an Situationen, in denen ich mich gekränkt gefühlt habe. Weil jemand etwas Dummes oder Unüberlegtes gesagt hat. Und ich mir das genau gemerkt habe, und immer wieder dran denke, wenn ich die Person sehe. Wenn ich das einfach vergessen würde... Und umgekehrt: Wie wäre das, wenn andere mich nicht ein Leben lang auf Momente festlegen würden, in denen ich mich falsch oder einfach nur blöd verhalten habe. 

Vielleicht können die Eichhörnchen vormachen, wie das geht mit dem Vergessen. Sie merken sich nur das Wichtige: in welchem Wald es viele Früchte gibt und wo die Nussbäume stehen. Welche Nuss wo genau vergraben ist, das vergessen sie oft. Sie müssen deshalb nicht hungern. Und sie können andere Tiere damit füttern und sogar Nussbäume wachsen lassen.

Manchmal ist vergessen eben doch nicht nur schlecht. Und wenn ich spüre, dass auch ich vergesslicher werde und mir das manchmal Angst macht, dann denk ich an die Eichhörnchen – und an ihre vergessenen Nüsse.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

18OKT2023
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Eigentlich war ich auf der Suche nach einer kleinen Lampe, einer ganz bestimmten. Die sollte zu einem alten Stuhl passen, den ich geerbt hatte. Das hatte ich im Kopf, als ich über den Flohmarkt ging. Dann blieb mein Blick an etwas ganz anderem hängen: An einem Stand, an dem es vor allem billigen Krimskrams gab, stand ein quadratischer Wandschmuck, darauf kein Bild, sondern ein englischer Text. Als ich die erste Zeile entziffert habe, will ich wissen, wie‘s weitergeht. So bleibe ich im Gedränge stehen und mache mir die Mühe, den ganzen Text zu lesen. Auf Deutsch beginnt er ungefähr so: 

„Wenn du was zum Essen im Kühlschrank hast und Kleider auf dem Leib, ein Dach über dem Kopf und einen Schlafplatz, dann bist du reicher als 75 Prozent der Weltbevölkerung…“  

Das hab ich alles, denk ich, und lese weiter: „Wenn du heute aufgewacht bist und fühlst dich mehr gesund als krank, dann bist du gesegneter als die (eine) Million Menschen, die diese Woche nicht überleben werden.“

Da fällt mir erst auf, dass die Rückenschmerzen, mit denen ich aufgewacht bin, völlig verflogen sind. Ich lese weiter: „Wenn du nie Krieg erleben musstest, nie eingesperrt oder gefoltert wurdest, keinen nagenden Hunger kennst, dann hast du mehr Glück als 500 Millionen Menschen, die heute darunter leiden.“ 

Nein, all das musste ich bisher nicht erleben. Auch das wird mir bewusst. Und der letzte Satz heißt schließlich: „Wenn du das hier lesen kannst, bist du besser dran als 3 Milliarden Menschen auf der Welt, die überhaupt nicht lesen können.“   

Das alles stand auf der Tafel eines Flohmarktstands. Ich weiß nicht, ob diese Zahlen genau so stimmen. Aber die Grundaussage stimmt auf jeden Fall. Und die heißt: Ich bin privilegiert. Mein Lebensstandard ist hoch. Höher als der von so vielen Menschen in der Welt, und auch von vielen, die hier leben. 

Eigentlich weiß ich’s ja, aber so auf den Punkt gebracht berührt es mich doch.

Ich habe dann nicht mehr weitergesucht. Denn das Licht, das mir bei diesem Flohmarktbummel aufgegangen ist, braucht keine Lampe. Und schon gar kein hübsches Jugendstillämpchen.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

17OKT2023
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Wissen Sie, was eine ‚Lebensbescheinigung‘ ist? Ich wusste es nicht, kannte nicht mal den Begriff. Dann hat mir vor einiger Zeit eine Versicherung ein Formular zugeschickt.  Und mich aufgefordert, das auszufüllen und von einer Behörde beglaubigen zu lassen. Dieses offizielle Formular nannte sich ‚Lebensbescheinigung‘.

Es ging um so was wie eine Lebensversicherung, die nach Ablauf der Frist in kleinen monatlichen Beträgen ausbezahlt wird. Solange ich lebe. Die Versicherung wollte sich offenbar vergewissern, dass ich noch am Leben bin. Und eben das sollte ich nachweisen,  durch die ‚Lebensbescheinigung‘. 

Das Formular hat mich beschäftigt. Allein schon der Begriff, den ich überhaupt nicht kannte. Als ich dann alles bescheinigt hatte und es gerade abschicken wollte, kam noch ein Schreiben von der Versicherung: Es werde doch keine Lebensbescheinigung gebraucht, weil ich ja in Deutschland lebe. Und ich möge das Versehen entschuldigen. Also doch nicht. Ich muss nichts nachweisen, man glaubt mir auch so, dass ich lebe. 

Eine ‚Lebensbescheinigung‘, manchmal könnte ich so was auch für mich selbst brauchen. Denn es gibt Tage, die rinnen so vor sich hin, dass ich gar nicht wirklich spüre, dass ich lebe. Es steht so viel an, dass ich kaum nachkomme und das Gefühl habe: ich lebe gar nicht wirklich, ich werde gelebt. Oder das Gegenteil: Ich kann gar nichts mit meinem Tag anfangen, ich muss warten, Zeit überbrücken. Etwa, wenn ich krank bin und weiß, das dauert jetzt eine Weile, bis ich mein Leben wieder ‚in die Hand nehmen‘ kann, wie man so sagt.  

Dabei weiß ich doch, dass ich das gar nicht muss, ja, letztlich kann ich es gar nicht. Denn mein Leben liegt nicht wirklich in meiner Hand, an keinem Tag. Mein Leben liegt in einer größeren Hand, in der Hand des Schöpfers, aus der es kommt, und in die es einmal zurückgehen wird. Für ihn brauche ich keine ‚Lebensbescheinigung‘. Er zweifelt nie daran, dass ich lebe, auch wenn ich mich selbst nicht immer quicklebendig fühle.

Die amtliche ‚Lebensbescheinigung‘ hab ich am Ende doch nicht gebraucht. Ich hab sie  trotzdem aufgehoben. Einfach so, weil das so kurios ist. Brief und Siegel darauf zu haben, dass ich am 15. Mai 2020 am Leben war. Heute bin ich es immer noch. Gott sei Dank!

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

11MRZ2023
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Ich bin oft zu Fuß unterwegs. Schon immer. Als ich jung war, gab es gar nichts anderes. Ein Auto hatten meine Eltern nicht, und da, wo ich hinwollte oder hinmusste, fuhr kein Bus. Gehen war für mich mühsam. Es war eben notwendig, um von hier nach da zu kommen.

Dass es auch etwas Schönes sein kann, wusste ich damals noch nicht. Inzwischen hat sich da viel verändert. Ja, gehen ist sogar richtig in Mode gekommen. Und eine Handy-App macht‘s möglich oder auch der Schrittzähler am Handgelenk: Wenn ich das will, wird jeder meiner Gänge gezählt, Schritt für Schritt. Das digitale Schritte Zählen soll natürlich anspornen, dass ich nicht nur den ganzen Tag sitze oder stehe, schließlich werden Menschen krank, wenn sie sich nicht mehr genug bewegen. Und der Trick mit dem Schritte Zählen funktioniert. Wenn ich am Abend gezeigt bekomme, wie viel oder wie wenig ich heute gegangen bin, dann will ich ja nicht sehen, dass ich zu faul war oder nicht auf mich geachtet habe. 

Aber das ist nicht alles. Wenn ich meine aktuelle Schrittzahl so sehe, wird immer wieder bewusst, dass ja mein ganzes Leben der Weg ist, den ich zurücklege. Es ist ein einziger langer Weg, der mit meiner Geburt beginnt und mit dem Tod endet. Nicht umsonst hat man früher gern vom ‚Lebensweg‘ gesprochen. Da gibt es viele Tagesetappen, und die sehen ganz unterschiedlich aus.

Nicht immer geht es um körperliche Bewegung, manche Schritte auf meinem Weg, meinem Lebens-Weg, muss ich innerlich gehen. Etwas anpacken zum Beispiel, was mir Angst macht. Oder etwas zurücklassen, was ich jahrelang als Last mitgeschleppt habe. Eine Kränkung vielleicht, eine Trauer über etwas Versäumtes. Oder die Augen aufmachen und sehen, was mich auf dem Weg stärkt und mir Mut macht. 

Der Weg ist das Ziel, sagt man heute gern. Und für die Schritte, die man nur für die Fitness macht, stimmt das ja. Aber für mein Leben ist mir das ein bisschen zu wenig. Beides gehört zusammen. Ein Weg ohne Ziel ist ein Irrweg, und ein Ziel ohne Weg eine Illusion. Also gehe ich weiter, in dem großen Vertrauen, dass mein Weg nicht ins Nichts führt. Sondern dass ich am Ende meines Weges erwartet werde. Von Gott. Von der liebenden Kraft, die mich auf diesen Weg geschickt hat. Vor vielen Jahren und vor vielen, vielen Schritten.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

10MRZ2023
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Tiere gehen immer. Dokus über Wildtiere, Serien über den Alltag im Zoo, Hundetrainer, die nervöse Terrier zu umgänglichen Hausgenossen machen. Auch in den sozialen Medien sind Videos mit Tieren der Renner und werden öfter angeklickt als alles andere. Und ganz besonders beliebt sind Videos über Tiere unterschiedlicher Arten, die sich miteinander anfreunden.

Vor ein paar Jahren machten ein Tiger und eine Ziege Furore. Im Zoo von Wladiwostock sollte das Tigermännchen Amur den lebendigen Ziegenbock Timur als besonderes Schmankerl bekommen. Es kam anders, denn der Tiger hat den Bock nicht erlegt. Stattdessen wurden die beiden zu einer richtigen WG. Nach ein paar Monaten gehen sie einander dann offenbar doch auf die Nerven, der Bock provoziert den Tiger so lange, bis der ihn am Genick packt und von sich weg schleudert. Wahrscheinlich wollte er ihn nicht töten, sondern nur zurechtweisen, eben so, wie ein Tiger auch seine Jungen erzieht. Der verletzte Bock überlebte. Danach hat man Tiger Amur und Bock Timur dann doch in getrennten Gehegen untergebracht. Diese Geschichte ist so spektakulär, dass sie‘s bis in die seriösen Nachrichtensendungen geschafft hat. 

Freundschaften zwischen Tieren, die eigentlich natürliche Feinde sein müssten. Das hat was. Das fasziniert. Ich glaube, es ist nicht nur die Sensationslust, die uns solche Filme wie hypnotisiert verfolgen lässt. Es ist auch eine Sehnsucht, die wir in uns tragen: die Sehnsucht, dass der Kampf ums Überleben nicht der letzte und tiefste Sinn der Wirklichkeit ist. Dass alle Geschöpfe mit ihren so unterschiedlichen Lebensweisen und Bedürfnissen zusammenleben können. Friedlich. Ob so etwas jemals möglich wird?

Ja, sagt die Bibel. Und entwirft ein Bild, das dem Idyll im Zoo von Wladiwostock ganz ähnlich ist: „Wolf und Lamm weiden zusammen, der Löwe frisst Stroh wie das Rind“, heißt es da (Jesaja 65,25). Und wann soll das sein? Nicht jetzt, noch nicht. Denn noch leben wir mit allen Geschöpfen in der irdischen Welt. Aber die Ahnung davon tragen wir in uns.

Vielleicht sind die unerklärlichen Tierfreundschaften, die uns so sehr faszinieren, ja kleine Erinnerungen. Damit wir sie nie vergessen, unsere Sehnsucht nach Frieden – und unsere Ahnung von einer friedlichen Welt.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

09MRZ2023
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Ach, hätte ich doch… Wie konnte ich nur…? Wenn ich‘s doch nur ungeschehen machen könnte. - Gibt es in Ihren Gedanken auch Sätze, die so anfangen? Das Gefühl, etwas Falsches getan zu haben oder etwas Notwendiges nicht getan zu haben. Es kann ein Leben prägen und – im schlimmsten Fall – sogar zerstören.

Ich kenne es auch, das Gedankenkarussell der Schuldgefühle und Selbstvorwürfe. In einer Zeitschrift habe ich vor Jahren mal einen kurzen Artikel gefunden, den ich bis heute gut finde. Eine Therapeutin nennt darin fünf Schritte, die helfen, aus der Gedankenspirale von Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen auszusteigen. 

Ihre erste Empfehlung: Verwandeln Sie Selbstvorwürfe in Vorsätze. – Was war, kann ich nicht ungeschehen machen. Ich kann aber daraus lernen und mir vornehmen, was ich künftig anders machen will. 

Der zweite Schritt heißt: Beichten Sie. – Ja, die Therapeutin sagt tatsächlich: beichten. Sie meint damit: die Scham überwinden und mit einem Menschen, dem ich vertraue, darüber reden.

Drittens: Leisten Sie Wiedergutmachung. – Am besten natürlich bei dem Menschen, dem ich etwas angetan habe. Wenn ich das nicht schaffe oder wenn die Person nicht erreichbar ist, kann ich das auch stellvertretend an jemand anderem tun.

Viertens: Zeigen Sie Verständnis für sich selbst. – Das heißt nicht, Verantwortung zu leugnen. Es heißt vielmehr zu verstehen, warum ich mich damals eben so verhalten habe.

Und als letzten Schritt empfiehlt die Therapeutin: Lassen Sie los. – Ständig um die eigene Schuld zu kreisen ist auch eine Form der Eitelkeit. Ich nehme meine Tat ernst. Aber ich muss auch bereit sein, sie zu lassen.

Ich bin immer wieder erstaunt, wie bekannt mir das alles vorkommt. Als Christin ist mir nichts davon wirklich neu. Denn auch Jesus hat ja Menschen geholfen, Schuld zu erkennen, zu bereuen und wieder gut zu machen. Und dann neu anzufangen und befreit weiterzugehen. Und ich bin immer wieder fasziniert, welche therapeutische Kraft in der Art liegt, wie Jesus selbst gelebt hat – und wie er mir zu leben empfiehlt. Auch deshalb habe ich diesen zerfledderten Ausschnitt aus einer alten Zeitschrift bis heute aufgehoben.  

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

08MRZ2023
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Was brauche ich zum Leben? Zunächst mal alles, was meine Natur erfordert – natürlich! Nahrung und Wasser, Kleidung und eine Unterkunft. Das mag zum Überleben gerade so reichen. Aber Überleben ist ja noch nicht Leben. Wirkliches Leben ist mehr als Vegetieren.

Es gibt ein Bild, das die körperlichen und die seelischen Bedürfnisse verbindet: Brot und Rosen. Das ‚Brot‘ steht für das Notwendige, für alles, was ich zum physischen Überleben brauche. Und die ‚Rosen‘ meinen das, was die Seele braucht, um wirklich zu leben, über das Allernotwendigste hinaus. Dass ich gesehen werde, wahrgenommen als Mensch. Dass ich Respekt und Wohlwollen spüre. Dass meine Stimme ernst genommen wird und zählt. Dass ich meine Fähigkeiten und Begabungen verwirklichen kann. Und dass auch meine Grenzen respektiert werden. 

Give us bread, but give us roses. ‚Gebt uns Brot, aber gebt uns auch Rosen. Denn Seelen hungern ebenso wie Körper.‘ Das ist der Kehrvers eines Liedes aus dem Jahr 1912. In Amerika traten damals 20 000 Textilarbeiterinnen in einen Streik. Die Frauen protestierten so für ihre Interessen: gegen Kinderarbeit und gegen Hungerlöhne. Brot und Rosen, das wurde zum Motto der amerikanischen Frauenbewegung. 

Als ich das gelesen habe, dachte ich: Das kenn ich doch! Von einer Frau, die vor 800 Jahren gelebt hat. Es ist meine Namenspatronin Elisabeth. Sie war Landgräfin und hatte einen radikalen Sinn für Gerechtigkeit, das war damals geradezu skandalös. Sie sah alle Menschen als Brüder und Schwestern und begegnete auch Bettlern auf Augenhöhe. Der Respekt ist es, der ihre Person mit den streikenden Frauen von 1912 verbindet. Sie gab Menschen damals schon den Respekt, der so Vielen bis heute verweigert wird. Nicht nur Frauen, aber vor allem Frauen.

Elisabeth von Thüringen wird in der Kunst mit Brot und Rosen dargestellt. Mit dem starken Symbol, das die unterschiedlichen Bedürfnisse der Menschen verbindet und zum Ausdruck bringt. Brot und Rosen, das brauchen alle Menschen. Nicht nur bei uns, und nicht nur Frauen. Und vor allem: nicht nur am Weltfrauentag. Sondern an jedem Tag.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

07MRZ2023
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Ein Studienfreund von mir hat lange in Zentralafrika gearbeitet. Er hat immer wieder erzählt, dass die Menschen dort eine ganze Menge schöner Sprichwörter haben. Viele der Redensarten drehen sich um die Natur und um Tiere, mit denen man zusammenlebt. Ein Sprichwort heißt: "Wer seinen Hund liebt, muss auch seine Flöhe lieben." 

Hunde mochte ich schon immer gern, wahrscheinlich konnte ich mir‘s deshalb sofort merken. Es ist ja auch ein markantes Bild. Bei uns würde man vielleicht nüchterner sagen: Alles hat zwei Seiten, alles hat Vor- und Nachteile. Das Bild vom Hund und den Flöhen sagt aber noch mehr: Es geht nicht nur darum, die ‚Flöhe‘ notgedrungen in Kauf zu nehmen, sondern: sie zu lieben. So wie den Hund, denn sie gehören zu ihm, sie sind quasi ein Teil von ihm. 

Was bei Hunden die Flöhe sind, das sind bei Menschen vielleicht Eigenschaften, die mir auf die Nerven gehen. Angewohnheiten, Unarten, Spleens, Macken. Die Socken auf dem Boden oder die offene Zahnpastatube steht da für viele Kleinigkeiten. Die sind einzeln vielleicht gar nicht schlimm, aber in der Summe können sie doch richtig nerven. Im Schwäbischen sagt man zu persönlichen Macken übrigens liebevoll ‚Mugge‘, Mücken, und da sind wir fast schon wieder bei den Flöhen. 

Wenn mir jemand ganz nahesteht, kann ich natürlich leichter über seine oder ihre Macken hinwegsehen. Aber es gibt ja auch Eigenschaften, die nicht so charmant übergangen werden können: Eifersucht, Geiz, Unehrlichkeit, alles, was das Zusammenleben belastet. Auch das kann zu einer Person gehören. Und da komme ich mit dem Lieben dann schon an meine Grenze. Natürlich muss ich nicht ertragen, was mich fertig macht oder mir auf Dauer schadet. Aber die Grenzen sind ja fließend. Und solange ich die liebenswerten Eigenschaften sehen und schätzen kann, kann ich auch mit den Macken leben. Meistens jedenfalls. 

Wer seinen Hund liebt, liebt auch seine Flöhe. Das ist für mich auch eine Aussage über Gott. Ja, richtig – über Gott. Genauer gesagt: über seine Liebe. Die sortiert auch nicht. Sondern gilt allem, allem Geschaffenen. Auch uns. Auch mir. Mitsamt allen meinen Macken. Und deshalb versuch ich‘s auch so zu machen. Menschen zu lieben. Hunde zu lieben. Und wenn‘s sein muss auch Flöhe zu lieben.

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