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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
Ich bin oft zu Fuß unterwegs. Schon immer. Als ich jung war, gab es gar nichts anderes. Ein Auto hatten meine Eltern nicht, und da, wo ich hinwollte oder hinmusste, fuhr kein Bus. Gehen war für mich mühsam. Es war eben notwendig, um von hier nach da zu kommen.
Dass es auch etwas Schönes sein kann, wusste ich damals noch nicht. Inzwischen hat sich da viel verändert. Ja, gehen ist sogar richtig in Mode gekommen. Und eine Handy-App macht‘s möglich oder auch der Schrittzähler am Handgelenk: Wenn ich das will, wird jeder meiner Gänge gezählt, Schritt für Schritt. Das digitale Schritte Zählen soll natürlich anspornen, dass ich nicht nur den ganzen Tag sitze oder stehe, schließlich werden Menschen krank, wenn sie sich nicht mehr genug bewegen. Und der Trick mit dem Schritte Zählen funktioniert. Wenn ich am Abend gezeigt bekomme, wie viel oder wie wenig ich heute gegangen bin, dann will ich ja nicht sehen, dass ich zu faul war oder nicht auf mich geachtet habe.
Aber das ist nicht alles. Wenn ich meine aktuelle Schrittzahl so sehe, wird immer wieder bewusst, dass ja mein ganzes Leben der Weg ist, den ich zurücklege. Es ist ein einziger langer Weg, der mit meiner Geburt beginnt und mit dem Tod endet. Nicht umsonst hat man früher gern vom ‚Lebensweg‘ gesprochen. Da gibt es viele Tagesetappen, und die sehen ganz unterschiedlich aus.
Nicht immer geht es um körperliche Bewegung, manche Schritte auf meinem Weg, meinem Lebens-Weg, muss ich innerlich gehen. Etwas anpacken zum Beispiel, was mir Angst macht. Oder etwas zurücklassen, was ich jahrelang als Last mitgeschleppt habe. Eine Kränkung vielleicht, eine Trauer über etwas Versäumtes. Oder die Augen aufmachen und sehen, was mich auf dem Weg stärkt und mir Mut macht.
Der Weg ist das Ziel, sagt man heute gern. Und für die Schritte, die man nur für die Fitness macht, stimmt das ja. Aber für mein Leben ist mir das ein bisschen zu wenig. Beides gehört zusammen. Ein Weg ohne Ziel ist ein Irrweg, und ein Ziel ohne Weg eine Illusion. Also gehe ich weiter, in dem großen Vertrauen, dass mein Weg nicht ins Nichts führt. Sondern dass ich am Ende meines Weges erwartet werde. Von Gott. Von der liebenden Kraft, die mich auf diesen Weg geschickt hat. Vor vielen Jahren und vor vielen, vielen Schritten.
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Tiere gehen immer. Dokus über Wildtiere, Serien über den Alltag im Zoo, Hundetrainer, die nervöse Terrier zu umgänglichen Hausgenossen machen. Auch in den sozialen Medien sind Videos mit Tieren der Renner und werden öfter angeklickt als alles andere. Und ganz besonders beliebt sind Videos über Tiere unterschiedlicher Arten, die sich miteinander anfreunden.
Vor ein paar Jahren machten ein Tiger und eine Ziege Furore. Im Zoo von Wladiwostock sollte das Tigermännchen Amur den lebendigen Ziegenbock Timur als besonderes Schmankerl bekommen. Es kam anders, denn der Tiger hat den Bock nicht erlegt. Stattdessen wurden die beiden zu einer richtigen WG. Nach ein paar Monaten gehen sie einander dann offenbar doch auf die Nerven, der Bock provoziert den Tiger so lange, bis der ihn am Genick packt und von sich weg schleudert. Wahrscheinlich wollte er ihn nicht töten, sondern nur zurechtweisen, eben so, wie ein Tiger auch seine Jungen erzieht. Der verletzte Bock überlebte. Danach hat man Tiger Amur und Bock Timur dann doch in getrennten Gehegen untergebracht. Diese Geschichte ist so spektakulär, dass sie‘s bis in die seriösen Nachrichtensendungen geschafft hat.
Freundschaften zwischen Tieren, die eigentlich natürliche Feinde sein müssten. Das hat was. Das fasziniert. Ich glaube, es ist nicht nur die Sensationslust, die uns solche Filme wie hypnotisiert verfolgen lässt. Es ist auch eine Sehnsucht, die wir in uns tragen: die Sehnsucht, dass der Kampf ums Überleben nicht der letzte und tiefste Sinn der Wirklichkeit ist. Dass alle Geschöpfe mit ihren so unterschiedlichen Lebensweisen und Bedürfnissen zusammenleben können. Friedlich. Ob so etwas jemals möglich wird?
Ja, sagt die Bibel. Und entwirft ein Bild, das dem Idyll im Zoo von Wladiwostock ganz ähnlich ist: „Wolf und Lamm weiden zusammen, der Löwe frisst Stroh wie das Rind“, heißt es da (Jesaja 65,25). Und wann soll das sein? Nicht jetzt, noch nicht. Denn noch leben wir mit allen Geschöpfen in der irdischen Welt. Aber die Ahnung davon tragen wir in uns.
Vielleicht sind die unerklärlichen Tierfreundschaften, die uns so sehr faszinieren, ja kleine Erinnerungen. Damit wir sie nie vergessen, unsere Sehnsucht nach Frieden – und unsere Ahnung von einer friedlichen Welt.
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Ach, hätte ich doch… Wie konnte ich nur…? Wenn ich‘s doch nur ungeschehen machen könnte. - Gibt es in Ihren Gedanken auch Sätze, die so anfangen? Das Gefühl, etwas Falsches getan zu haben oder etwas Notwendiges nicht getan zu haben. Es kann ein Leben prägen und – im schlimmsten Fall – sogar zerstören.
Ich kenne es auch, das Gedankenkarussell der Schuldgefühle und Selbstvorwürfe. In einer Zeitschrift habe ich vor Jahren mal einen kurzen Artikel gefunden, den ich bis heute gut finde. Eine Therapeutin nennt darin fünf Schritte, die helfen, aus der Gedankenspirale von Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen auszusteigen.
Ihre erste Empfehlung: Verwandeln Sie Selbstvorwürfe in Vorsätze. – Was war, kann ich nicht ungeschehen machen. Ich kann aber daraus lernen und mir vornehmen, was ich künftig anders machen will.
Der zweite Schritt heißt: Beichten Sie. – Ja, die Therapeutin sagt tatsächlich: beichten. Sie meint damit: die Scham überwinden und mit einem Menschen, dem ich vertraue, darüber reden.
Drittens: Leisten Sie Wiedergutmachung. – Am besten natürlich bei dem Menschen, dem ich etwas angetan habe. Wenn ich das nicht schaffe oder wenn die Person nicht erreichbar ist, kann ich das auch stellvertretend an jemand anderem tun.
Viertens: Zeigen Sie Verständnis für sich selbst. – Das heißt nicht, Verantwortung zu leugnen. Es heißt vielmehr zu verstehen, warum ich mich damals eben so verhalten habe.
Und als letzten Schritt empfiehlt die Therapeutin: Lassen Sie los. – Ständig um die eigene Schuld zu kreisen ist auch eine Form der Eitelkeit. Ich nehme meine Tat ernst. Aber ich muss auch bereit sein, sie zu lassen.
Ich bin immer wieder erstaunt, wie bekannt mir das alles vorkommt. Als Christin ist mir nichts davon wirklich neu. Denn auch Jesus hat ja Menschen geholfen, Schuld zu erkennen, zu bereuen und wieder gut zu machen. Und dann neu anzufangen und befreit weiterzugehen. Und ich bin immer wieder fasziniert, welche therapeutische Kraft in der Art liegt, wie Jesus selbst gelebt hat – und wie er mir zu leben empfiehlt. Auch deshalb habe ich diesen zerfledderten Ausschnitt aus einer alten Zeitschrift bis heute aufgehoben.
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Was brauche ich zum Leben? Zunächst mal alles, was meine Natur erfordert – natürlich! Nahrung und Wasser, Kleidung und eine Unterkunft. Das mag zum Überleben gerade so reichen. Aber Überleben ist ja noch nicht Leben. Wirkliches Leben ist mehr als Vegetieren.
Es gibt ein Bild, das die körperlichen und die seelischen Bedürfnisse verbindet: Brot und Rosen. Das ‚Brot‘ steht für das Notwendige, für alles, was ich zum physischen Überleben brauche. Und die ‚Rosen‘ meinen das, was die Seele braucht, um wirklich zu leben, über das Allernotwendigste hinaus. Dass ich gesehen werde, wahrgenommen als Mensch. Dass ich Respekt und Wohlwollen spüre. Dass meine Stimme ernst genommen wird und zählt. Dass ich meine Fähigkeiten und Begabungen verwirklichen kann. Und dass auch meine Grenzen respektiert werden.
Give us bread, but give us roses. ‚Gebt uns Brot, aber gebt uns auch Rosen. Denn Seelen hungern ebenso wie Körper.‘ Das ist der Kehrvers eines Liedes aus dem Jahr 1912. In Amerika traten damals 20 000 Textilarbeiterinnen in einen Streik. Die Frauen protestierten so für ihre Interessen: gegen Kinderarbeit und gegen Hungerlöhne. Brot und Rosen, das wurde zum Motto der amerikanischen Frauenbewegung.
Als ich das gelesen habe, dachte ich: Das kenn ich doch! Von einer Frau, die vor 800 Jahren gelebt hat. Es ist meine Namenspatronin Elisabeth. Sie war Landgräfin und hatte einen radikalen Sinn für Gerechtigkeit, das war damals geradezu skandalös. Sie sah alle Menschen als Brüder und Schwestern und begegnete auch Bettlern auf Augenhöhe. Der Respekt ist es, der ihre Person mit den streikenden Frauen von 1912 verbindet. Sie gab Menschen damals schon den Respekt, der so Vielen bis heute verweigert wird. Nicht nur Frauen, aber vor allem Frauen.
Elisabeth von Thüringen wird in der Kunst mit Brot und Rosen dargestellt. Mit dem starken Symbol, das die unterschiedlichen Bedürfnisse der Menschen verbindet und zum Ausdruck bringt. Brot und Rosen, das brauchen alle Menschen. Nicht nur bei uns, und nicht nur Frauen. Und vor allem: nicht nur am Weltfrauentag. Sondern an jedem Tag.
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Ein Studienfreund von mir hat lange in Zentralafrika gearbeitet. Er hat immer wieder erzählt, dass die Menschen dort eine ganze Menge schöner Sprichwörter haben. Viele der Redensarten drehen sich um die Natur und um Tiere, mit denen man zusammenlebt. Ein Sprichwort heißt: "Wer seinen Hund liebt, muss auch seine Flöhe lieben."
Hunde mochte ich schon immer gern, wahrscheinlich konnte ich mir‘s deshalb sofort merken. Es ist ja auch ein markantes Bild. Bei uns würde man vielleicht nüchterner sagen: Alles hat zwei Seiten, alles hat Vor- und Nachteile. Das Bild vom Hund und den Flöhen sagt aber noch mehr: Es geht nicht nur darum, die ‚Flöhe‘ notgedrungen in Kauf zu nehmen, sondern: sie zu lieben. So wie den Hund, denn sie gehören zu ihm, sie sind quasi ein Teil von ihm.
Was bei Hunden die Flöhe sind, das sind bei Menschen vielleicht Eigenschaften, die mir auf die Nerven gehen. Angewohnheiten, Unarten, Spleens, Macken. Die Socken auf dem Boden oder die offene Zahnpastatube steht da für viele Kleinigkeiten. Die sind einzeln vielleicht gar nicht schlimm, aber in der Summe können sie doch richtig nerven. Im Schwäbischen sagt man zu persönlichen Macken übrigens liebevoll ‚Mugge‘, Mücken, und da sind wir fast schon wieder bei den Flöhen.
Wenn mir jemand ganz nahesteht, kann ich natürlich leichter über seine oder ihre Macken hinwegsehen. Aber es gibt ja auch Eigenschaften, die nicht so charmant übergangen werden können: Eifersucht, Geiz, Unehrlichkeit, alles, was das Zusammenleben belastet. Auch das kann zu einer Person gehören. Und da komme ich mit dem Lieben dann schon an meine Grenze. Natürlich muss ich nicht ertragen, was mich fertig macht oder mir auf Dauer schadet. Aber die Grenzen sind ja fließend. Und solange ich die liebenswerten Eigenschaften sehen und schätzen kann, kann ich auch mit den Macken leben. Meistens jedenfalls.
Wer seinen Hund liebt, liebt auch seine Flöhe. Das ist für mich auch eine Aussage über Gott. Ja, richtig – über Gott. Genauer gesagt: über seine Liebe. Die sortiert auch nicht. Sondern gilt allem, allem Geschaffenen. Auch uns. Auch mir. Mitsamt allen meinen Macken. Und deshalb versuch ich‘s auch so zu machen. Menschen zu lieben. Hunde zu lieben. Und wenn‘s sein muss auch Flöhe zu lieben.
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39 275 Stunden. So lange standen Autofahrer und Autofahrerinnen im Stau. Alle zusammengerechnet, im letzten Jahr. Allein in Baden-Württemberg! [1]
Was machen Menschen in diesen vielen Stunden, in denen sie auf der Straße stehen? Und keine andere Möglichkeit haben, als diese Zeit eben ‚durchzustehen‘.
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, was ich mache. Erstmal versuche ich, ruhig und konzentriert zu bleiben und mich nicht allzu sehr ablenken zu lassen, nicht nur zu meiner Sicherheit, sondern auch für die anderen. Denn schließlich wollen ja alle heil ankommen. Trotzdem nehme ich im Stand oder im Schritttempo natürlich mehr von dem wahr, was um mich geschieht. Ich sehe Gesichter, die sonst nur an mir vorbeiflitzen. Ich sehe Geschäftsleute, die den Business-Anzug in einer Hülle hängen haben und zu einem Meeting müssen. Ich sehe Ellbogen von LKW-Fahrern, die jeden Tag in Staus stehen und doch meistens gelassen bleiben.
All das sehe ich, während ich auf der Mittelspur so vor mich hin krieche, zusammen mit vielen anderen. Was uns verbindet, ist nicht sehr viel. Zu unterschiedlich sind die Menschen und das Leben, in dem sie unterwegs sind. Aber in dieser besonderen Situation machen wir alle dieselbe Erfahrung: Wir haben die Zeit nicht im Griff.
Der Stau auf der Straße mag Gründe haben, die von Verkehrslogistikern exakt nachzuvollziehen sind. Für mich ist er auch ein Zeichen. Wenn‘s auf der Straße stockt, spüre ich: Ich lebe in der Zeit, und doch kann ich nicht immer über sie verfügen. Im besten Fall kann ich sie planen, nutzen und sogar genießen. Aber es gibt auch Zeiten, die mir nicht gehören. Die ich durch-stehen muss, so wie im Stau auf der Straße. Oder durchleiden. Einfach aushalten, ohne etwas tun, ändern, gestalten zu können. Ich glaube trotzdem, dass auch solche Zeiten nicht sinnlos sind. Denn ich vertraue darauf, dass der Sinn meiner Zeit nicht davon abhängt, ob ich sie als sinnvoll empfinde. Ich vertraue darauf, dass Gott den Sinn meiner Zeit kennt. Und den Sinn jeder Zeit.
Das gilt auch für die 39 275 Stunden des letzten Jahres, die wir im Stau irgendwo in Baden-Württemberg durchgestanden haben. Wir alle zusammen. Und für die Stunden, die wir in diesem Jahr wieder durchstehen werden.
[1] laut ADAC-Staubilanz 2022
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Kraftausdrücke gelten als unfein. Und sie sind es auch, die meisten jedenfalls. Aber es gibt sie nun mal, und es gibt Menschen, die Kraftausdrücke so selbstverständlich verwenden wie jedes andere Wort. Die sich ohne sie vielleicht gar nicht so leicht ausdrücken können. Sie sind gleichsam Kraftpakete der Sprache. Wer Kraftausdrücke verwendet, ist ohne sachliche Distanz, mittendrin, mit ungezügelter Emotion.
Es mag ja guttun und mich momentan entlasten, wenn ich hinter der Frontscheibe sage: so ein Idiot! Oder noch Schlimmeres. Aber: Muss das so sein? Muss das sein, dass Kraftausdrücke nur so was sind wie ein Blitzableiter? Sie sollen doch meine ‚Kraft‘ zeigen, meine innere Stärke, mein Engagement, meine Gefühle. Und meine ‚Kraft‘ ist ja zum Glück mehr als meine Aggressionen und meine Wut. Da gibt es doch auch ganz andere Kräfte in mir. Sympathie, Liebe, Mut, Hoffnung, Ausdauer ... Wollen die nicht auch mal raus, sich spontan zeigen? Vielleicht schon, aber nicht so explosiv wie mir manchmal ein Schimpfwort entfährt.
Komm, das ist doch nicht so schlimm! Oder: Zusammen kriegen wir das hin! Oder: Wenn ich dich nicht hätte ...Oder: Wie kann ich Ihnen helfen? Das alles sind auch ‚Kraft-Ausdrücke‘, Ausdruck von Kraft, Worte, die meine Kraft zeigen – und die mir zugleich Kraft geben, wenn ich innerlich zweifle und mich schwach fühle.
Aber manchmal merk ich auch, dass menschliche Kraft allein nicht genug ist, etwa um eine Gefahr zu überstehen oder eine schwierige Situation zu bewältigen. Dann erinnere ich mich an ‚Kraftausdrücke‘, mit denen Menschen früherer Generationen gelebt haben. ‚Himmel, hilf!‘ hat eine ältere Kollegin immer gesagt. ‚Gott steh mir bei!‘ Das hab ich als Kind noch manchmal von alten Leuten gehört. Bei mir sind das dann eher Seufzer, manchmal gesprochene, manchmal nur gedachte. ‚O Gott‘, wenn ich erschrecke. ‚Ach Gott‘, wenn irgendwas Schlimmes passiert ist. Aber auch ‚Gott sei Dank‘, wenn etwas gerade nochmal gut gegangen ist. Keine richtigen Gebete, aber doch unscheinbare ‚Kraftausdrücke‘. Ausdrücke, die mir Kraft geben. Auch wenn mir nicht immer bewusst ist, dass ich mich da gerade mit der göttlichen Kraft verbinde. Aber ich spüre: sie wirkt. Trotzdem.
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Von Zeit zu Zeit muss es einfach sein. Das Aufräumen. Und vor allem das Ausräumen. Denn nicht alles, was sich im Haushalt so ansammelt, lohnt sich aufzuheben. Ich weiß das, und doch tue ich mich schwer damit, Dinge wegzuwerfen oder wegzugeben, die mich eine Zeitlang begleitet und gute Dienste geleistet haben. Es kann sein, dass ich etwas, das ich brauche, überhaupt nicht mehr finde, weil sich so viel Unnützes drübergestapelt hat und das Wichtige richtiggehend unter sich begräbt. Dann hilft alles nichts, der Keller muss entrümpelt werden. Aber: was kann weg? Die Fritteuse vielleicht? Oder die Wanderschuhe, die sich doch nicht mehr zu reparieren lohnen? Die Lampe, die immer schon unpraktisch war, aber eben so gut in meine erste Wohnung gepasst hat?
Meine letzte Kelleraktion war nicht sehr erfolgreich. Ich konnte nur wenig ausmustern. Aber die Sortiererei hat mich auf einen Gedanken gebracht, an dem ich seither immer wieder rumdenken muss. So ähnlich wie mit meinem Abstellkeller ist das doch mit allem. Mit unserer Geschichte, mit unserer Kultur und auch mit der Kirche.
Was hat sich in der langen Geschichte der Kirche nicht alles angesammelt: Wie viele Lebensgeschichten und Bekenntnisse, aber auch Konflikte und Spaltungen! Und alles, was vergangen ist, hat man quasi im „Keller“ der Kirchengeschichte abgelegt. Dieser „Keller“ ist angefüllt mit allem Möglichen, das zu einer bestimmten Zeit wichtig war und gestimmt hat. Aber auch hier gilt wie in meinem Keller: die Zeit geht weiter. Zum Glück gab es zu allen Zeiten Menschen, die den übervollen Keller der Tradition immer wieder etwas entrümpelt haben. Sie haben den Blick auf das gelenkt, was es wert ist, bewahrt zu werden. Franz von Assisi fällt mir da zum Beispiel ein, der arm unter Armen lebte. Oder der Reformator Martin Luther, der mit Fehlentwicklungen in der Kirche aufräumen wollte.
Ich sehe, dass es auch heute mutige Menschen gibt, die miteinander anfangen, den Keller der Tradition aufzuräumen, sich von Altem zu trennen, wenn es nicht mehr zu gebrauchen ist. Und ich wünsche mir, dass bei dieser großen Aufräumaktion, zu der heute Viele in der katholischen Kirche bereit sind, auch die verantwortlichen Amtsträger mitmachen. Denn sie sind es, die letztlich zu entscheiden haben, was bleiben muss – und was weg kann. Um wieder Platz und Luft zu schaffen. Für das Evangelium. Für das, was in der Kirche wirklich wichtig ist. Und für Neues, das JETZT dran ist.
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Sommerferien, endlich! Es gibt wenige Tage, die in meiner Erinnerung mit einem solchen Hochgefühl verbunden sind, wie der Beginn der ‚großen Ferien'. In diesen sechs Wochen, da tickt die Zeit einfach anders.
Die Franzosen nennen diese Zeit ‚vacances‘. Auf deutsch ‚leere Zeit‘. Also eine Zeit, die nicht durchgetaktet und durchgeplant ist. Eine Zeit, in der ich nicht dauernd etwas erledigen muss und immer etwas von mir erwartet wird. Ich darf sie selbst füllen, und wenn ich sie mal nicht fülle, dann ist es auch gut.
Anders ist es im Englischen, da heißen Ferien ‚holidays‘, ‚heilige Tage‘. Und unser Wort ‚Ferien‘ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet ‚Ruhetage‘. Das waren Tage, an denen nicht gearbeitet wurde, sondern gefeiert.
Leere Zeit, festliche Zeit, heilige Zeit. Auch wenn wir heute ganz anders leben und glauben, vielleicht hat sich darin doch nicht so viel verändert. Denn in der Freizeit, in den Ferien, im Urlaub, da spüren wir manchmal etwas von dem, was die Sprache noch bewahrt hat: Zeit ist ‚heilig‘, weil sie geschenkt ist. Gerade die ‚leere Zeit‘ macht das deutlich. Wir können sie nicht herstellen, nicht kontrollieren. Sie ist einfach da.
Was ‚heilige Zeit‘ für mich bedeuten kann, das habe ich vor Jahren im Urlaub mal gespürt. Dabei war es gar nichts Besonderes. Wir saßen in einem kleinen Straßencafé, der Plastikstuhl wacklig und nicht sehr sauber. Die Wirtin brachte den Kaffee, wortreich, aber in einem Dialekt, von dem ich kein Wort verstanden habe. Daneben eine Familie mit Kindern, die sich lebhaft stritten. Und mitten in diesem Durcheinander auf einmal die Gewissheit: es ist gut, wie es ist. Ich bin ganz bei mir selbst – und zugleich ganz aufmerksam für alles um mich her, und mit allem einverstanden, was geschieht.
In meiner Erinnerung war das ein heiliger Moment, ein Gottesgeschenk. Wie wenn sich mein Leben darin verdichtet hätte. Solche Augenblicke gibt‘s nicht so oft, und wir können sie ebenso wenig machen, wie wir die Zeit machen können. Aber ich glaube, dass es sie in jedem Leben gibt. Ganz unscheinbar. Ganz alltäglich. Und in den Ferien, in der ‚leeren Zeit‘, da sind wir vielleicht aufmerksamer, um sie auch wahrzunehmen, wenn sie kommen.
Leere Zeit, gefüllte Zeit, heilige Zeit – wie auch immer. Ich wünsche Ihnen schöne und erholsame Sommertage!
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Wenn es im Frühjahr warm wird, warten viele ungeduldig darauf, dass das Freibad öffnet. So ist es auch in Rottenburg, da, wo ich lebe. Das Freibad ist in der Stadt eine richtige Institution, sehr beliebt bei allen Altersgruppen. Aber diesmal startete die Saison mit einer Enttäuschung: Es fehlte an Personal, deshalb mussten die Öffnungszeiten erst mal stark eingeschränkt werden.
Mittlerweile hat sich das geändert, zur Freude der ‚Frühschwimmer‘, die gern am Vormittag oder sogar schon vor der Arbeit ihre Runden drehen. Badeaufsicht machen jetzt zwei junge Schwimmmeister. Sie sind beide durch eine ganz ähnliche, ganz spezielle Lebensgeschichte zu dieser Aufgabe gekommen.
Einer von ihnen ist Karim. Er stammt aus Syrien, aus einer wüstenähnlichen Gegend um Mossul. Wasser gab es nur zum Trinken, um Schwimmbäder zu füllen war es viel zu kostbar. Deshalb konnte er auch nicht schwimmen, als er 2015 mit seiner Schwester in ein überfülltes Schlauchboot stieg. Von der türkischen Küste aus wagten sie die Flucht übers Mittelmeer. Sie haben‘s geschafft, irgendwie, allen Gefahren zum Trotz.
Irgendwann landen die beiden Geschwister dann schließlich in Baden-Württemberg. In Tübingen kommt der Nichtschwimmer Karim in Kontakt mit einer deutschen Frau. Die hat sich zur Aufgabe gemacht, Schwimmkurse für Kinder und Jugendliche zu organisieren, gerade auch für solche, die von zu Hause nicht so gefördert werden. Auch Karim darf einen Kurs besuchen. Er lernt dabei nicht nur schwimmen. Er lernt auch das Wasser ganz neu kennen. Nicht nur wie in Syrien, als Trinkwasser, das man flaschenweise teuer kaufen muss. Und auch nicht nur als unheimliche bedrohliche Flut, so wie auf seiner Flucht. Erst macht er das ‚Seepferdchen‘, dann weitere Schwimmabzeichen, bis er‘s mit konsequentem Training schließlich bis zum Rettungsschwimmer schafft.
Und hier schließt sich der Kreis. Karim ist jetzt einer der Bademeister im Rottenburger Freibad. Er passt auf, dass alle, die baden, auch wieder gut und gesund aus dem Wasser raus kommen. So, wie er, der Nichtschwimmer, in einem überfüllten Schlauchboot heil aus dem Mittelmeer gekommen ist. Heute sagt er: „Es gefällt mir, schwimmen zu können, und besonders auch, anderen helfen zu können.“ Ja, das kann er. Und wie er das kann.
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