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SWR3 Gedanken

24JAN2024
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Eine Frau sitzt im Rollstuhl, sie ist noch jung. Ich kenne sie seit Jahren. Sie kommt gerne in die Kirche. Jeden Tag kommen hier in diesen Wochen im Januar etwa 600 Menschen. Sie sagt, sie genießt die Begegnungen und die Gemeinschaft. Sie lächelt, mit ihrem schmalen, zarten Gesicht.

Aber im letzten Jahr konnte sie noch laufen. Am Rollator, ganz langsam, das rechte Bein nachziehend. Ein Schlaganfall hatte ihr das beschert. Jetzt kann sie gar nicht mehr laufen. Sie sagt ‚Kontrollverlust, Lähmung, Versteifung. Das Schicksal ist ein mieser Verräter.‘

Und ich meine: Wie eindrucksvoll, dass sie das so heiter sagen kann, so ohne Groll angesichts all des Schweren. Und sie fast schmunzelnd meint: Ach, das ist mein kleinstes Problem.

Ich, ungläubig.

Sie erzählt von der nächsten Diagnose. Sie hat Blutkrebs. Unheilbar. Jeden Tag kann ich sterben. Sie lächelt immer noch. Und hält meine Hand. Aber sie hält mich, nicht ich sie.

Als müsse sie mich trösten sagt sie:
‚Sein Stecken und Stab trösten mich, egal wie dunkel das Tal. Und dann werde ich sterben. Gott wird mich zu sich holen und ich werde sehen, ob ich genug getan habe, ob mein Leben in seinen Augen würdig ist.

Wenn ja, wird er mich aufnehmen in sein Reich. Und ich werde da sein. In Ruhe und Frieden und ohne Schmerzen. Bis dahin wird er bei mir sein. Jeden Tag.‘

Predigen ist mein Beruf.

Aber ich hätte mich nicht getraut, ihr diese Worte zuzusprechen. Sie hätten hohl geklungen aus meinem Mund. Vertröstung nicht Trost. Aus ihrem Mund sind es die wahrhaftigsten Worte, die ich seit langem gehört habe.

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SWR3 Gedanken

23JAN2024
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Es ist kalt und dunkel in diesen Wochen. Für manche Menschen ist es besonders kalt. Sie empfinden das Dunkel auch in ihren Seelen. Ich unterhalte mich mit einem Mann, der in die Kirche gekommen ist, um da zu essen.

Jeden Tag kommen etwa 600 Menschen in Not, um hier zu essen. Der Mann ist noch jung, aber schon lange psychisch krank und kann schon länger nicht mehr arbeiten. Seit Jahren kämpft er um die Anerkennung seiner Berufsunfähigkeit, damit er eine kleine Rente bekommt. Er meint: „Es ist eine schwierige Zeit. Wie die Leute über uns reden, das tut mir weh, wie wir dargestellt werden.

Das sind doch auch Christen in der Politik, die so reden. Sie tun so, als wären wir faul und hätten keine Lust zu arbeiten. Als würden wir den anderen etwas wegnehmen wollen. Ich wäre wirklich lieber gesund und würde richtig arbeiten können. So viel Missgunst!“

Die Debatte über die Erhöhung des Bürgergeldes trifft ihn. Er erzählt davon, wie sich die Stimmung verändert hat. Jetzt sollen wieder stärkere Sanktionen eingeführt werden gegen Leute die nicht arbeiten wollen. Statistiken belegen aber, dass höchstens ein Prozent der Menschen, die Bürgergeld erhalten, nicht arbeitet, obwohl sie es könnten. Den meisten geht es wie dem jungen Mann: Sie würden gerne arbeiten.

So geht es auch vielen Geflüchteten aus Syrien, der Ukraine und anderen Ländern. Die Zahl der Menschen, die gerne arbeiten würden, aber aus unterschiedlichen Gründen nicht können, ist um ein Vielfaches höher, als die Zahl derer, die nicht wollen.

Trotzdem heizen manche Politiker die Stimmung gegen Bürgergeldempfänger an. Diese Hetze setzt sie sich in der ganzen Gesellschaft fort. Ich finde das verheerend:
Es ist so viel leichter auf die Menschen, die es schwer haben, herabzusehen als sich Gedanken zu machen, wie ihnen wirklich zu helfen ist und damit der ganzen Gesellschaft.

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SWR3 Gedanken

22JAN2024
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Es ist nicht das erste Mal, dass ich so eine Geschichte höre, aber immer neu empört es mich: Eine junge Frau kommt weinend in die Kirche. Sie erzählt: Ihr Vater ist vor vier Tagen gestorben. Drei Tage danach stand die Polizei vor der Tür. Die Frau hat Schulden. Sie kann sie nicht bezahlen. Ihre Mutter konnte einen Teil davon übernehmen. Sie haben ihr Zeit gegeben. Bis heute. Dann soll sie ins Gefängnis.

Das schlimmste für sie: Dann kann sie nicht zur Beerdigung des Vaters. Solche Haftstrafen gibt es bei Schulden, aber auch wenn Leute eine Geldstrafe nicht bezahlen können, oft wegen geringer Vergehen: Schwarzfahren oder Diebstahl.

Diese Haftstrafen treffen nur Menschen, die sowieso nichts oder wenig haben. Diese Haftstrafen kriminalisieren Menschen, die es schwer haben, über die Runden zu kommen. Menschen, die in Armut leben. 2023 wurde das Recht geändert.

Die Tagessätze wurden halbiert. Das Gesetz ist nun weniger streng. Dennoch bleibt die Ungerechtigkeit:

Wer Geld hat, wer zum Beispiel Millionen Steuern hinterzieht und den Staat und die Allgemeinheit richtig schädigt, kann sich oft freikaufen. Hätten alle, die Steuern in großem Stil hinterziehen, nicht diese Möglichkeit, unsere Gefängnisse wären voll von Superreichen. Mit Leuten, die den Staat, also alle anderen bestehlen. Hunderte Millionen auf Kosten der Allgemeinheit.

Anstatt dessen sitzen Menschen in den Gefängnissen, wegen Schulden oder unbezahlter Tickets, wegen 50 oder 100 Euro. Menschen, die nichts haben, sitzen im Gefängnis, einfach weil sie arm sind. Mit dem Gefühl, dass sie nichts sind, nichts wert für diese Gesellschaft. Mich regt das auf. Ich finde es absurd und ungerecht. Diese Leute bräuchten Hilfe und Unterstützung. Nicht Gefängnisstrafen.

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SWR3 Gedanken

21JAN2024
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‚Wir machen hier jetzt Mohltied-Kirche.‘ Schreibt mir eine Freundin aus dem hohen Norden. Mohltiedkirche – so heißt die Vesperkirche im Norden. Eine offene Kirche mit Essen, medizinischer Hilfe und Sozialberatung für die, die wenig haben, und sich immer ausgegrenzt fühlen.

Mohltiedkirche weil man ‚Vesper‘ dort nicht verstehen würde. Für mich ein Zeichen: An immer mehr Orten erkennen Menschen, dass die Armut stärker wird. Im Norden wie im Süden ist die Armut so gravierend, dass es Vesper- und jetzt Mohltiedkirchen braucht.

Im Schatten der letzten Krisen sagt Oxfam haben die fünf reichsten Menschen der Welt ihr Vermögen mehr als verdoppelt. Währenddessen leben etwa 160 Millionen Menschen mehr in Armut.

In der Zeit der Vesperkirche gibt es viele Interviews. Manche Journalisten fragen mich, was ich mir wünsche für die Vesperkirchen. Und da fällt mir nur eines ein:

Dass es irgendwann nicht mehr nötig ist, dass Menschen in der Kälte auf der Straße anstehen, bis wir öffnen. Dass es irgendwann nicht mehr nötig ist, Spenden zu sammeln, damit Menschen in diesen kalten Wochen im Januar hier etwas sparen können, essen und sich aufwärmen.

Ich wünsche mir, dass die Schere zwischen Armen und Reichen nicht immer weiter auseinanderklafft, nicht in der Welt und nicht in unserem Land. Dass auch bei uns die Politik wie in Finnland und Kanada entscheidet, dass es keine Obdachlosigkeit mehr geben soll. Dass allen die draußen leben, ein Zimmer angeboten wird. Egal woher sie kommen, egal welche Sucht sie quält, egal. Und dass jedes Zimmer im Winter beheizt ist und im Sommer einen Kühlschrank hat.

Ich wünsche mir für die Vesper- und Mohltiedkirchen, dass wir irgendwann nur zusammenkommen, weil es schön ist und wir miteinander feiern, die die für wenig wert gehalten werden, weil sie nicht arbeiten können, alt sind oder krank- und die anderen alle. Wir folgen gemeinsam der Einladung in Gottes Festsaal!

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SWR3 Worte

02DEZ2023
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Morgen ist der 1. Advent. Nun fängt sie an, die Zeit der Hoffnung und der Träume. Vielleicht, hofft die Dichterin Carola Moosbach:

Das wäre schön auf etwas hoffen zu können
was das Leben lichter macht und leichter das Herz
das gebrochene ängstliche
und dann den Mut haben die Türen weit aufzumachen
und die Ohren und die Augen und auch den Mund
nicht länger verschließen
das wäre schön
wenn am Horizont Schiffe auftauchten
eins nach dem anderen
beladen mit Hoffnungsbrot bis an den Rand
das mehr wird immer mehr
durch Teilen
das wäre schön
wenn Gott nicht aufhörte zu träumen in uns
vom vollen Leben einer Zukunft für alle
und wenn dann der Himmel aufreißen würde ganz plötzlich
neue Wege sich auftun hinter dem Horizont
das wäre schön.

ach! Das kleine Buch vom großen Staunen

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SWR3 Worte

01DEZ2023
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Letzte Woche fand in Mannheim ein interreligiöses Friedensgebet statt. Juden, Christen, Muslime und Aleviten waren dabei. Für die Jüdische Gemeinde sprach Amnon Seelig:

Gott, schau auf diese Stadt und auf die Städte dieser Welt.
Schau auf die unschuldigen palästinensischen Zivilisten, die als Schutzschilder ausgenutzt werden, die alles verloren haben, die hungern und sterben. Bewahre alle und rette sie.
Wir bitten dich für die Getöteten im Gazastreifen. Möge der Heilige, gelobt sei Er, ihren Seelen Ruhe geben und ihren Hinterbliebenen Trost schenken. Beende diesen Krieg.
Bewahre unsere muslimischen Nachbarn vor Hass und Gewalt und vor anti-islamischen Vorurteilen. Lass uns aufeinander zugehen, füreinander einstehen und einander helfen.

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SWR3 Worte

30NOV2023
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In Mannheim fand letzte Woche ein interreligiöses Friedensgebet statt. Juden, Christen, Muslime und Aleviten waren dabei. Für die Muslime sprach der Imam Adeel Ahmad Shad:

Gott, schau auf diese Stadt und auf die Städte dieser Welt.
Wir bitten dich für die Geiseln der Hamas– Juden, Christen, Muslime und andersgläubige –  bewahre alle und rette sie.
Wir bitten dich für die Hinterbliebenen des schrecklichen Massakers der Terroristen.
Wir bitten dich für die Getöteten. Möge Allah ihren Rang im Paradies erhöhen und Geduld den Hinterbliebenen geben.
Beende alle terroristischen Angriffe gegen unsere jüdischen Glaubensgeschwister. Mach ein Ende dem Jubel über Gewalttaten!
Wir bitten dich für unsere jüdischen Nachbarn. Wir wissen, sie sind tief erschüttert. Bewahre sie vor Antisemitismus und jeder Gewalt, damit sie wieder Vertrauen gewinnen und die Angst verlieren, sich als Jüdinnen und Juden zu zeigen in unserer Stadt und auf der ganzen Welt.

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SWR3 Worte

29NOV2023
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Igor Levit ist Pianist und Jude. Er spricht über Alleinsein und Kälte: darüber, wie sehr ihn die fehlende Anteilnahme in der deutschen Gesellschaft erschüttert hat:

Der Überfall der Hamas ist jetzt fast sechs Wochen her – ich sehe und spüre die Empathie immer noch nicht. Und jetzt kommt mein Wutmoment dazu. Ich würde am liebsten alle anschreien: Merkt ihr eigentlich nicht, dass es gegen euch geht?

"Tod den Juden!" heißt "Tod der Demokratie!".
Wenn ihr an Demokratie glaubt, und euer Land ist an einem Punkt, wo jemand wie ich rennen muss: Dann müsst auch ihr rennen!

Dass sich diese Dringlichkeit nicht auf die Straße übersetzt, finde ich erschütternd. Ich verstehe es einfach nicht. Versteht ihr denn nicht, dass auch ihr in Gefahr seid?! Es ist eure Art zu leben, die angegriffen wird. Das "Nie wieder!", das "Die Würde des Menschen ist unantastbar", das ist die Existenzgrundlage dieser Bundesrepublik. Und das wird gerade angegriffen.

https://www.zeit.de/2023/48/igor-levit-pianist-linke-israel-hamas/komplettansicht

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SWR3 Worte

28NOV2023
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Elke Heidenreich schreibt über graue Tage und die Hoffnung:

Ein besonders grauer Tag. Besonders viel geht schief. Nur Kleinigkeiten, aber es sind ja nicht die ganz großen Katastrophen, woran wir zerbrechen, es sind die Kleinigkeiten.

Aus den ganz großen Katastrophen erwächst uns Kraft, wir halten durch, sind tapfer, wie wir es immer gelernt haben. Aber diese grauen, tückischen Tage voller kleiner Enttäuschungen und Niederlagen, die zersetzen uns, und hilflos wissen wir nicht, wie wir gegensteuern können: dem Gefühl von Verlust, Trauer, Schwäche.

Der Rhein ist in der Nähe, er fließt und trägt Tristesse mit sich fort in die graue Nordsee. Die Stufen zum Ufer hinunter, heute kaum zu bewältigen. Tränen. Verzweiflung…

Die Bitte aus der Kindheit: „Gib ein Zeichen, irgendein Zeichen, das ich verstehe!“ Ein Schiff kommt vorbei, ein großes Containerschiff. Es heißt Esperanza. Hoffnung. Ein Zeichen.

Leuchtende Tage. Geschichten und Gedichte über das große und kleine Glück.

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SWR3 Worte

27NOV2023
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Etty Hillesum war niederländische Lehrerin. Als Jüdin wurde sie im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau ermordet. In der Gefangenschaft schreibt sie in ihrem Tagebuch:

Es sind schlimme Zeiten, mein Gott. Ich verspreche dir etwas, Gott, nur eine Kleinigkeit: Ich will dir helfen, dass du mich nicht verlässt. Es wird immer deutlicher: Dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst.

Es ist das einzige, auf das es ankommt: Ein Stück von dir in uns zu retten, Gott. An den Umständen scheinst auch du nicht viel ändern zu können, sie gehören nun mal zu diesem Leben. Ich werde in der nächsten Zukunft noch sehr viele Gespräche mit dir führen und dich auf diese Weise hindern, mich zu verlassen.

Vom Anfang bis zum Ende. Ein Trostbuch für Tage in Moll

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