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SWR1 Begegnungen

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag, ich bin Roland Spur von der Evangelischen Kirche und möchte Ihnen heute die Pröpstin Elfriede Begrich aus Erfurt vorstellen. Ihre Thüringer Kirche, so erzählte sie mir, hat über 4000 Kirchengebäude, auch weltberühmte. Ein unglaublicher Schatz. Was für ein Erbe!

Ich glaube, das Entscheidende ist, dass man das in der Art und Weise des Umgangs spürt, nicht hinter den Mauern, sondern vor den Mauern. Also ich kann in den Mauern Kraft kriegen. Aber das Entscheidende ist, dass das, was ich in den Mauern gekriegt habe, nach Außen trage. Und daran wird man Kirche und auch Reformation heute messen, anders kann ich es mir nicht vorstellen.

Teil 1
Ich stehe mit meinem Aufnahmegerät im Garten vom Kreuzgang des Augustiner-Klosters zu Erfurt Elfriede Begrich gegenüber. Nicht aus romantischer Nostalgie, nur: die Ruhe. Ein Interview fürs Radio in ihrem Amtszimmer – unmöglich! Dieser Baulärm! Die ehemaligen Weid-Speicher und die Bibliothek des Klosters werden jetzt wieder aufgebaut. Sie sind Ende Februar 1945 durch eine britische Luftmine plattgemacht worden.

Wo gebaut wird, da ist Leben. Und da ist Geld vorhanden. Und da ist offensichtlich auch ein Bedarf vorhanden, sonst müssten wir nicht bauen. Ja, hier wird gebaut. Und ich will Ihnen sagen, wir haben in den letzten Jahren nach der Wende so viel an Kirchen, an Glocken, an Orgeln restauriert wie in den vergangenen hundert Jahren nicht. Also das ist ein unglaublicher Aufschwung in dieser Richtung, wobei nicht gleich parallel geht der Aufschwung und das Wachsen der Kirche.

Wachsende Kirche. Schwindende Kirche. Darüber reden wir an einer – nicht nur für Protestanten – wichtigen Stätte: hier wurde aus einem ehemaligen Jurastudent ein berühmter Mönch: Martin Luther. Er ist in diesem Kreuzgang herumgegangen. Heute wohnen wieder Nonnen im Augustiner-Kloster zu Erfurt. Und hier hat sie ihren Dienstsitz, Elfriede Begrich, mit ihrem Titel „Pröpstin“. Ich habe sie gefragt, was man sich darunter vorstellen soll. »Sind Sie Äbtissin?«

Nein! Obwohl, das wär’ nicht schlecht. Es gibt auch Leute die sagen zu mir: „Präbstin“. Das ist dann so eine Mischung von Päpstin und Pröpstin. Also eine Pröpstin ist die regionale Vertreterin des Landesbischofs, in einer bestimmten Region. Und das ist hier die Thüringer Region.

Dann gibt es das der Sache nach bei uns in der Württembergischen, in der Badischen Landeskirche auch?

Bei Ihnen wären das die Prälaten. Ich bin mit „Pröpstin“ ganz zufrieden. Weil das vom Lateinischen herkommt und sagt: „Das sind die, die für die andern sorgen und sich um die auch Gedanken machen und sich mühen: »Für andere da sein«.

Im Gespräch erzähle ich Frau Begrich auch von dem Stuttgarter Kongress »Wachsende Kirche« vor ein paar Wochen. Schaut man sich die großen Trends an mit sinkenden Zahlen von Kirche, dann ist es kein Wunder, wenn immer wieder gern von früheren Zeiten erzählt wird – fast wie das sprichwörtliche Sehnen nach den »Fleischtöpfen Ägyptens«. Dabei stehen hier im Südwesten die Kirchen vergleichsweise viel, viel besser da als die im Osten oder in Mitteldeutschland.

Aber ich denke, wir haben es an manchen Stellen besser als Sie. Also erst mal haben wir keine „Fleischtöpfe“, nach denen wir uns sehnen – das ist schon viel, viel leichter. Und das zweite ist: ich finde, unendlich wichtig ist, dass wir bei dem Wachsen nach Innen gucken. Dass wir nach dem qualitativen Wachsen gucken. Das macht uns doch aus! Es hat unsrer Kirche noch nie geholfen, wenn wir 80 oder 90 Prozent Christen waren – schauen Sie doch die Vergangenheit an! Das ist nicht das, was wir zu sein haben.

Teil 2
Die Reformation gab Europa ein neues Gesicht: Glaube öffnet sich für das Gespräch mit der Neuzeit, mit der Moderne. Eine gegenseitige Befruchtung. Das schöne, neue alte Erfurt mit seinen Türmen und vielen Kirchen kann mit Recht von sich sagen, es sei eine Wiege der Reformation. Ist Erfurt stolz auf dieses große Erbe? Sind die Gebäude mit Leben gefüllt? Braucht man Kirche?

Ich bin froh über alles, was wir machen. Wir haben ’ne ganze Menge Schulen gegründet und Kindergärten aus kommunaler Trägerschaft übernommen, das ist alles sehr schön. Aber einfach mal da zu stehen, wo die anderen stehen, auf dem Anger, auf dem Markt, und die Dinge in der Sprache zu reden, in der man uns auch versteht, da haben wir noch viel Übungsbedarf. Aber das ist eine alte Geschichte unserer Kirche. Die ziehen wir schon 200 Jahre mit uns, oder noch länger: Dass wir die, an die eigentlich gewiesen sind – jedenfalls mindestens genauso wie an die anderen, also an die Arbeiterschaft, auch wenn es die in der Klasse gar nicht mehr so richtig gibt, dass wir an die mindestens genauso gewiesen sind wie an den Mittelstand oder an die, die das Vermögen haben.

Am Pfingstmontag wurde darüber gepredigt, was Lukas über den Anfang von Kirche berichtet: »Alle, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte.«
Apostelgeschichte 2 [hier Verse 44f.] beschreibt Kirche in ihren Anfangsgründen. Und so wirkte und wirkt sie in die Gesellschaft hinein: Eine andere Einstellung zum Leben.

Ja sicher. Wir haben die Botschaft, die andere nicht haben. Also gerade diese Apostelgeschichte, die sie benannt haben, ist einer meiner entscheidenden Texte für das Verständnis von Kirche und Gesellschaft. Das ist genau der Klammertext, der beides zusammenbringt. Mir wird oft gesagt: „Naja, das war ein idealer Zustand, eine Ideologie, die sich sowieso nicht einholen lässt...“ Da muss ich sagen: „Das ist eine ganz bequeme Argumentation.“ Diese Texte sind geschrieben für die Zukunft! Und nicht, dass wir sagen: ‚In der Vergangenheit hat das nicht geklappt!’ Die sind für die Zukunft geschrieben, und dafür lesen wir sie. Und dafür will ich sie auch lebendig machen.

Die temperamentvolle, zierliche Theologin Elfriede Begrich, die Pröpstin von Erfurt-Nordhausen. Hat einen Mann, Kinder großgezogen, ist 60. Eine Quer- und Andersdenkende der protestantischen Kirche. Keine, die jammert. Weil sie geschichtlich denkt. Eine Vordenkerin, und auch „Seelsorgerin für die kranke Seele unserer Gesellschaft“. So lässt sie es sich einfach nicht nehmen, als Kirchenfrau, über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, über Solidarität und Nächstenliebe gesellschaftspolitisch Klartext zu reden – schließlich sind das Themen in den Texten der Bibel.
Und die sagen nun einmal, dass es eine Alternative zu diesem „Ich!“ gibt. Und die Alternative zum »Ich« ist ein »Wir«. Natürlich weiß ich, dass es „im Lande der Reformation“ und der ehemaligen DDR mit dem »Wir« immer auf schwierige Ohren trifft. Aber um des Himmels willen muss ich sagen: es gibt doch noch mehr als das kleine Wir, das wir damals erlebt haben. Das hat Menschen geschädigt, es hat sie beschädigt, das weiß ich. Aber ich würde an diesem »Wir« gerne festhalten. Und ich gucke mit wirklich wachen Augen in den Kontinent, wo so etwas immer mehr entsteht wie jetzt auch wieder in Paraguay, in Südamerika. Ich hoffe sehr, dass man da erlebt, dass das »Wir« nicht gestorben ist. https://www.kirche-im-swr.de/?m=3730
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SWR1 Begegnungen

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Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag, ich bin Roland Spur von der Evangelischen Kirche und möchte Ihnen heute Pfarrer Heinrich Georg Rothe, den frisch gebackenen Islambeauftragten der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, vorstellen. – Wie bitte, etwa ein Pfarrer für Muslime? Was macht er?

Zum einen bin ich ja evangelischer Pfarrer und ich bleibe auch Pfarrer, ich bin nicht ein staatlicher oder kommunaler Beauftragter. Und meine Aufgabe ist tatsächlich von Jesus Christus zu sprechen, ihn zu predigen. Ich habe das zum Beispiel bei meiner Einführungspredigt gemacht, als ich eingeführt wurde als Islambeauftragter. Das ist mir ein Anliegen. Und das gehört einfach zur christlichen Existenz dazu.


Teil 1
Pfarrer Heinrich Georg Rothe ist der erste Islambeauftragte der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, 53, verheiratet, drei Kinder. Er gilt als Islamkenner. In einer Esslinger Kirche wurde er mit einem Gottesdienst feierlich in sein neues Amt eigeführt. Und nach dem Segen gab es besondere Musik.

Zwei Instrumente spielen hier zusammen, Orgel und arabische Laute. Sie begleiten einen Gesang über die Liebe Gottes. „Zukunftsmusik“ hab ich gedacht. Alle hören gespannt zu, spüren wohl, dass sie was Besonderes erleben.
Diese spezielle Festgemeinde – und das kam anschließend beim Empfang deutlich raus,
fragt sich schon: Wie hört sich das an, wenn sich Menschen aus verschiedenen Religionen begegnen? Wie wird das sein, wie wird sich das entwickeln, wenn er sein Amt antritt?
Herr Rothe, was macht eigentlich ein landeskirchlicher Islambeauftragter?

Ich habe mehrere Aufgaben. Ich gehe einerseits in unsere Kirchengemeinden, ich gebe ihnen Rat, wenn sie Kontakt suchen zu Muslimen. Ich gehe aber auch auf Muslime selber zu und zu Moschee-Vereinen. Ich habe die Aufgabe, auch den Oberkirchenrat und die Kirchenleitung zu beraten, drei Aufgabenfelder.

Aber es ist doch keine reine Schreibtischtätigkeit oder nur Gremienarbeit.

Bisher habe ich sehr unterschiedliche Arbeitsformen erlebt. Ich gehe zum Beispiel in Grundschulen, ich arbeite mit Grundschulkindern. Und das ist sehr anschaulich, denn die möchten keinen Vortrag hören. Ich sitze aber auch auf Podien, in der Erwachsenenbildung, es sind wirklich ganz unterschiedliche Formen. Was etwas sehr wichtiges ist, ist das Beieinandersein. Im Dialog wird auch viel gegessen, Iftah-Essen, auch das ist etwas, was mir sehr Spaß macht!

Moment, Herr Rothe, was ist das, ein Iftah-Essen?

Iftah-Essen („Fastenbrechen“). Das heißt: im Ramadan laden Muslime in Moscheen oder in andere Räumlichkeiten ein, dass man miteinander nach einem Fastentag das Fasten bricht. Ich würde mir ab und zu wünschen, dass auch unsere Kirchengemeinden solche Einladungen aussprechen würden.

Hmm, ja. Ein schöner Wunsch, den Pfarrer Rothe da ausspricht! »Nehmt einander gastfreundlich auf, ohne zu murren.« Nicht umsonst steht’s so in der Bibel. [1. Petrusbrief 4,9]. Weil das gar nicht selbstverständlich oder einfach ist, Fremde zu sich ins Gemeindehaus zum Essen einzuladen. Mir ist aufgefallen, dass Kirchengemeinden bereits bei solchen Einladungen von Muslimen Vorbehalte haben, unsicher sind, ja auch Ängste haben, da könnte was passieren, was sie nicht wollen.

Das ist tatsächlich eine Frage, die mir immer wieder begegnet: „Können wir das? Dürfen wir das? Verlieren wir nicht unsere Identität und unsern Glauben, wenn wir in dorthin gehen?“ Ich denke: Ja wir können das. Wir sind auch von den Muslimen gefragt. Die erwarten nicht, dass wir unser Christsein aufgeben, wenn wir zu ihnen kommen. Sie möchten uns als Christen haben.

Teil 2
„Jagt dem Frieden nach mit jedermann“ sagt die Bibel [Hebräerbrief 12,14]. Als Islambeauftragter hat man es da sicher nicht leicht. Der Frieden zwischen den Religionen ist nun selbst ein ständig umkämpftes Feld. Haben wir denn eine Alternative zum Dialog? Nein, doch – wer weiterhin am Gespräch festhält, der sieht sich jetzt selber Vorwürfen ausgesetzt. Und braucht sehr viel Kraft.

Sie haben es richtig gesagt. Wir bewegen uns in einem schwierigen Feld und auch in einer sehr schwierigen Zeit.

Misstrauen und Angst vor dem Islam. Eigentlich verblüffend, was da in Köpfen und Herzen mittlerweile vorhanden ist an Feindbildern, und was man da zu hören bekommt auch von engagierten Christen, die also ehrenamtlich viel von ihrer Zeit in kirchliche Mitarbeit stecken.

Das ist mir nicht nur einmal begegnet in unsern eigenen Kirchengemeinden, davon sprechen wir hier. Ich war selber auch Gemeindepfarrer und kenne diese Angst sehr gut. Ich war in Esslingen Pfarrer, es wurde dort sehr heftig gestritten um den Bau einer Moschee, und da war immer wieder die Aussage im Raum: »Der Islam will uns überrennen. Der Islam will Europa. Der Islam will Deutschland.« Das ist mir auch begegnet.

Was der Apostel Paulus sagte: »Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden« [Römerbrief 12,18], das wirkt atmosphärisch weit weg. Ob wir, die Christen uns da vom derzeitigen gesellschaftlichen Trend groß unterscheiden?

Die Statistik sagt, und die Meinungsumfragen, dass zwei Drittel der Deutschen Vorbehalte gegenüber dem Islam haben und ihn auch für aggressiv halten und den Muslimen nicht zutrauen, dass sie gut mit uns zusammenleben wollen.

Und wie geht’s ihm, wenn er damit in die nächsten Begegnungen geht und muslimischen Gesprächspartner damit konfrontiert, wie – in Kirchen – über sie gedacht wird?

Also ich erinnere mich sehr gut, wie groß das Erstaunen oder auch Erschrecken von muslimischen Partnern war, wenn ich versuchte, ihnen so etwas deutlich zu machen und zu erklären. Natürlich sehen sie sich selber anders. Sie erleben auch ihre Gemeinschaft anders. Viele von ihnen können sich das nicht vorstellen. Und ich denke, da haben wir sogar eine gemeinsame Aufgabe im Dialog, dass wir gemeinsam daran arbeiten, solche Verfeindungen zu überwinden.

Gemeinsamkeiten. Wo sieht er als Islambeauftragter und Fachmann eigentlich Ansätze für seine Arbeit, Brücken zu bauen und Vorurteile abzubauen? Wo die Reizwörter und -themen seit 2001 doch so präsent sind, als sei es gewollt, dass man Islam gleichsetzt mit Islamismus.

Ja, das ist schade, denn wenn ich jetzt etwa an Maria denke! Sie kommt schon vor für Muslime. Wenn ich in eine Moschee gehe, und mir dort die Gebetsnische anschaue, den Mihrab, dann finde ich dort relativ häufig ein Koran-Wort, das daran erinnert, wie Maria im Tempel war und von Gott mit Nahrung versorgt worden ist. Das sind sehr anrührende Worte, die da Muslime ansprechen und treffen in ihrer eigenen Moschee. Es ist eigentlich etwas Schönes und etwas Spannendes, so etwas zu entdecken! Gut, Maria spielt auch deshalb eine Rolle, weil sie daran erinnert, dass Jesus eine menschliche Mutter hatte. Dass er also wirklich Mensch ist und reiner Mensch, und auch – jetzt aus christlicher Perspektive gesprochen – nur Mensch. Ich denke, das kann man aber aushalten, dass einerseits Verbindung da ist, verbindendes und gleichzeitig die Differenz auch so klar im Raum steht.

Zum Schluss habe ich Heinrich Rothe noch gefragt, ob er eine Vision, ein Ziel, einen Traum hat.

Ich wäre schon froh – und auch das ist ein Traum, wenn ich in einer Krisensituation dann die richtigen Telefonnummern und Handynummern parat hätte und sofort wüsste, mit wem ich Kontakt aufnehme. Und ich kann Ihnen auch sagen, dieser Traum hat sich schon oft erfüllt. https://www.kirche-im-swr.de/?m=3470
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SWR1 Begegnungen

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Muslime und Christen in Deutschland. Nach der Brandkatastrophe in einem türkischen Wohnhaus in Ludwigshafen hat es viele Debatten und heftige Reaktionen gegeben. Wie sieht das Zusammenleben aus? Wie sollte es aussehen? Wie geht das denen, die in beiden Kulturen zu Hause sind? Wie zum Beispiel der Schriftsteller Ilja Trojanow. In seinem neuen Buch »Kampfabsage« rückt er den Propheten eines angeblichen Kampfes der Kulturen die Köpfe zurecht und entlarvt in vielen verblüffenden Beispielen die Unsinnigkeit dieses Kampfes. Dass er damit viele provoziert hat, hat ihn selbst überrascht.

Ich war wirklich erstaunt, weil ich denke, dass das Buch an einigen Stellen frotzelt, zuspitzt, aber die Zuspitzung eher politischer Art sind – wobei eine Zuspitzung ja nicht unbedingt falsch sein muss.


Teil 1
Was braucht eine Gesellschaft als geistige Nahrung für ein friedliches, ein menschliches Miteinander? Welche Haltung, Einstellung? Nach der Brandkatastrophe von Ludwigshafen waren die Klischees in unserem Land schnell wieder auf dem Tisch: Deutsche als mögliche Brandstifter, Türken als die, die sich nicht integrieren wollen. Viele fühlten sich bedroht, auf beiden Seiten übrigens. Sogar das deutsch-türkische Verhältnis galt als angespannt.

Ja sehen Sie, das ist ja genau das Problem, … Es gibt ja, was ich immer wieder zitiere, diesen wunderschönen Satz aus der Advaita-Philosophie des Hinduismus, der sagt: »Den anderen als Feind zu bezeichnen, ist der Beginn von Gewalt.« Und das ist richtig.

Nein, Ilja Trojanow ist kein Hindu. Was der Schriftsteller, Poet, Essayist und Literaturpreisträger da zu mir sagt, das klingt für mich wie ein Wort aus Bergpredigt, wo Jesus sagt, das Gebot „Du-sollst-nicht-töten“ verletzt bereits, wer seinem Bruder zürnt, wer ihn beleidigt und beschimpft (Matthäus 5,22). Gewalt beginnt eben nicht erst, wenn etwas passiert.

Und das ist eines der ganz, ganz großen Probleme der Entwicklung der Menschheit, dass wir erst richtig aufschreien, wenn irgendwo jemand einem anderen Menschen Gewalt antut. Aber die vorbereitende Gewalt, die dazu notwendig ist, und die fängt damit an, dass wir ausschließlich Kategorien aufbauen, dass wir den anderen nur noch als Feind sehen, die ist genauso schlimm, und die müssen wir genauso bekämpfen.

Wer ist Trojanow, was ist sein Geheimnis? Er war Stadtschreiber in Mainz, hatte Gastprofessuren in Berlin und Tübingen. Sein Buch »Der Weltensammler« über den englischen Offizier und Abenteurer Richard Francis Burton wurde ein Bestseller. Ilija Trojanow selbst ist auch ein Weltreisender: Bulgarien, Kenia, München, Kapstadt, Bombay. Er ist christlich getauft. Berührungsängste mit fremden Kulturen und mit anderen Religionen kennt er nicht. Wie kommt das eigentlich?

Also das ist ganz einfach: Die Familie hat alles drin, was man sich vorstellen kann. Der Großvater war ganz früher ganz radikaler Kommunist, ein anderer Verwandter ist einer der bekanntesten Anarchisten Bulgariens. Teil der Familie ist orthodox, der Onkel meiner Großmutter war der Metropolit von Bulgarien. Und ein anderer Teil der Familie ist islamisch.

Eine große Familie, die schon viele „Kulturen“ zusammenbringt und „trotzdem“ miteinander zu leben versteht. Ich ahne, ich verstehe, warum Ilija Trojanow keine Angst vor dem Islam hat.

Ich nehme das ernst. Das heißt, meine Familiengeschichte – abgesehen von meiner eigenen Biographie – bedeutet auch religiöse Vielfalt.

Die ersten sechs Jahre in Bulgarien hat Ilja Trojanow quasi religionslos gelebt, denn die Erwachsenen gingen mit Religion eher heimlich um, aus Vorsicht. Er wird orthodox getauft in einer Kirche, die interessanterweise davor eine Moschee war! Die Familie kann fliehen, Jugoslawien, Italien, sie findet politisches Asyl in Deutschland. Ein Jahr später zieht sie weiter nach Kenia. Für ihn werden das fünf Jahre Kenton College, Religion ist dort ein Hauptfach: kinderfreundlich wird die ganze Bibel durchgemacht. Man musste die Geschichten nacherzählen können; eine starke protestantische Prägung durch die Schule. Zum Studium kommt Ilija Trojanow nach München, Jura und Ethnologie, und entdeckt nun in der Kirche am Salvator-Platz die Schönheiten seiner Kirche, der gesungenen Orthodoxen Liturgie! Und die Welt der Ikonen, das Mystische im Christentum. Wieder ’was Neues! Doch erst später, im Ausland, wird er dann so was wie einen Schlüssel dazu finden.

Teil 2
Bulgarien, Kenia, Bayern – Kindheit, Jugend und Studium: die prägenden Jahre. Ilija Trojanow ist mehrsprachig aufgewachsen und viel gereist. Heute sieht er darin so etwas wie eine Vorbereitung für etwas Besonderes.

All diese Wechselhaftigkeit, diese Brüchigkeit, diese Vielfältigkeit hat für mich keinen wirklichen Sinn ergeben, bis ich nach Indien kam. Und in Indien fügte sich alles. Weil ich in Indien eine Tradition, eine Kultur erlebt habe, die dieses Nebeneinander, Miteinander, dieses Verschmelzen und Vermischen, dieses ins Andere auch zeitweilig Hinübertreten für selbstverständlich erachtet.

Nun hat Ilija Trojanow – zusammen mit Ranjit Hoskoté – ein neues Buch geschrieben, »Kampfabsage« heißt es sinnigerweise. Kulturen bekämpfen sich nicht, sagt er, sie fließen zusammen. »Kampfabsage« ist ein wunderbarer Leitfaden der Kulturgeschichte, ein historisches und hoch aktuelles Kompendium zu so etwas wie einer Nächstenliebe der Kulturen. Und begonnen hat das alles in Indien.

In Indien habe ich erlebt, dass es zum Beispiel in Bombay katholische Feste gibt, also das Fest in Bandra, das Fest der Heiligen Jungfrau, zu dem alle kommen (Mount Mary, Bombay, jeweils am Sonntag nach dem 8. September). Da sieht man wirklich: diese bestimmte Heilige gilt allen als heilig. Und es kommen Hindus, Frauen mit dem roten Punkt, mit dem Tikka auf der Stirn. Es kommen muslimische Frauen oder auch Männer, um dort zu beten. Es gibt ein Sufi-Grabmahl, das im Ozean ist, das Haji Ali Dargha, da gehen auch Leute aller Religionsgemeinschaften hin.
Weil so eine Grundüberzeugung ist, dass das Heilige doch unmöglich nur innerhalb einer Rubrik, innerhalb eines Ghettos, innerhalb eines Systems vorhanden sein kann. Und das ist eigentlich so selbstverständlich und so banal, dass ich, nachdem ich das begriffen habe, und zwar wirklich begriffen habe, also mehr als nur intellektuell erfahren, sondern mit meinem ganzen Sein davon durchdrungen war, erscheint mir jede andere Sicht auf Glauben völlig unverständlich, völlig unverständlich.


Doch wie lässt sich das vermitteln? Ist doch bei uns schon für die katholische Kirche ein gemeinsames Abendmahl derzeit noch undenkbar. Ilja Trojanow hat sich einfach mit dem Glauben der anderen intensiv beschäftigt, hat ihn zeitweise auch praktiziert und herausgefunden, dass da viele falsche Vorstellungen und Feindbilder unterwegs sind, die mit der Realität nicht übereinstimmen. Sein Buch „Kampfabsage“ wird deswegen auch von einigen heftig angegriffen. Reflexartig. „Was, ein positives Buch über den Islam? Das ist ein dämonisches Buch!“

Und das ist das Interessante an der Reaktion: Es gibt ja überhaupt niemand, der behauptet hat bislang, in all den teilweise vernichtenden Kritiken, das sei ja falsch, was wir schreiben! Es hat sich ja niemand hingesetzt und hat behauptet, die Darstellung der judäischen Gefangenschaft in Babylon entspricht nicht dem wissenschaftlichen Stand.

Und dort, in Babylon, dem heutigen Irak, ist zum Beispiel die biblische Schöpfungsgeschichte entstanden, mit der die Bibel beginnt. Dort in der babylonischen Gefangenschaft haben Juden vor 2½ Tausend Jahren den alten kriegerischen, brutalen babylonischen Schöpfungsmythos sanft korrigiert, umgeschrieben – für ihren Gottesdienst: Die Welt ist eben nicht aus Kampf hervorgegangen, sondern Gott hat sie ganz kampflos geschaffen. Sanft. Nur mit Sprache, mit seinem Wort, seinem Geist, mit dem Licht ordnet er das Chaos.
Mit anderen Worten: kulturelle Elemente wie Gedanken und Bilder, Mythen und Legenden, die sich unterscheiden, die kommen immer wieder zusammen und vermischen sich, ändern sich. So entsteht Kultur. Und darum ist Trojanow zu dem Schluss gekommen zu behaupten und zu verkünden: Nein, Kulturen bekämpfen sich nicht. Sie fließen zusammen. Und kann es belegen. Seite um Seite, Geschichte um Geschichte lässt sich das nachlesen und entdecken: Kampfabsage. https://www.kirche-im-swr.de/?m=3204
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SWR1 Begegnungen

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Einen gesegneten Neujahrstag wünsche ich Ihnen. Ich bin Roland Spur von der Evangelischen Kirche und möchte Ihnen Professor Paolo Ricca vorstellen. Er ist Waldenser, also ein italienischer Protestant. Er lebt und arbeitet in Rom, »im Schatten des Vatikans«. Wie fühlt man sich da, als Teil einer winzigen, protestantischen Kirche im katholischen Italien?

Es ist nicht: „Wie groß ist Ihre Gemeinde?“, sondern immer nur: „Habt Ihr etwas zu sagen?“ Das ist es! Wenn wir nichts zu sagen haben, wäre keine Botschaft, keine Hoffnung. Dann könnten wir auch eine Million Menschen sein, aber so zu sagen sprachlos. Und bedeutungslos!

Teil 1
Neues Jahr. Man zieht Bilanz, schaut zurück – und nach vorn! Wie sieht denn die Zukunft aus, die Zukunft dessen, wofür Christen stehen in dieser Welt?
Dazu habe ich mich mit einem Fachmann unterhalten, mit Paolo Ricca aus Rom, mit einem Protestanten aus der Stadt der römisch-katholischen Weltkirche. Begegnet bin ich aber Paolo Ricca nicht in seiner italienischen Heimat, sondern in Stuttgart, anlässlich eines Vortrags. Für einen Italiener spricht er sehr gut deutsch.

Wir sind jetzt Stuttgart, die Stadt, wo die Bibel... – Also für mich „Stuttgart“ ist »Bibelwerk«. Als ich Student war, habe ich die hebräische Bibel, die eben in Stuttgart erscheint. Und ich meine, es ist nicht zufällig, dass Stuttgart eben dieses große Bibelwerk hat.

Bald zweihundert Jahre Württembergische Bibelanstalt Stuttgart. Bibeln in allen möglichen Ausgaben, vor allem auch wissenschaftliche. So heißt solch eine Ausgabe des Alten Testament offiziell in der ganzen Welt nach der Stadt: »Biblia Stuttgartensia«.

Das war die Bibel, wo schon mein Vater eigentlich die hebräischen Sprache studiert hat. Er war Pastor, und ich habe von ihm diese Bibel.

Die Geschichte, die mir Paolo Ricca erzählt, ist bewegend und bitter. Frühling 1848 in Rom: es gibt eine neue, liberale Verfassung. Es gibt Pressefreiheit. Und die Waldenser nutzen diese Pressefreiheit, um das Neues Testament in italienischer Sprache herauszubringen, erste Auflage mit 3.000 Stück. Der Papst (Pius IX.) betreibt erfolgreich die Niederschlagung der Römischen Republik, kehrt nach Rom zurück und lässt die noch nicht ausgelieferten Bibeln verbrennen, alle.
Fast. Nur drei Exemplare haben überlebt. Eines davon ist in der Bibliothek der Waldenser-Uni in Rom. Sie hüten es wie einen Augapfel.
Wie geht es den italienischen Protestanten heute? Werden sie wahrgenommen oder verschwinden sie als Minderheit?

Es ist nicht schwer, diese Frage zu beantworten. Denn es hängt immer nur grundsätzlich vom Bestand des Glaubens ab. Schon im Alten Testament, in der Bibel geschrieben steht: »Werden wir Glauben haben, so werden wir bestehen. Werden wir den Glauben verlassen, so sind wir verloren und wir werden verschwinden.« (vgl. Jesaja 7, 9)

Teil 2
Da war vor ein paar Wochen bei uns in den Medien von einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung die Rede, derzufolge die Deutschen viel, viel religiöser seien als ihr Ruf. Andere machen sich im Gegenteil Sorgen. Weil viele Kirchen oft ziemlich leer sind und die Zahlen der Kirchenmitglieder seit Jahren sanft zurückgehen. Wenn man diese Zahlen und Linien weiterzieht, ist die Frage nach der Zukunft der christlichen Kirche im allgemeinen und der protestantischen Kirche im Besonderen gar nicht so fremd.

Die Zukunft des Protestantismus’ hängt davon ab, wie sehr und tief der Protestantismus den Glauben weiterhin vertreten will. Wir haben zum Beispiel in Italien unsere Geschichte, wir sind immer eine winzige Wirklichkeit gewesen. Wir sind heute unter 58 Millionen Italienern 20.000 Waldenser. Das ist so wie nichts. Und trotzdem sind wir da seit acht Jahrhunderten, also schon vor der Reformation. Was hat uns am Leben gehalten?

Am Leben gehalten – trotz Verfolgungen, trotz Massakern, trotz Inquisition. Anders als die großen Kirchen haben sie sich nicht mit weltlicher Macht verbündet. Also keinen Schutz oder Unterstützung erhalten. Woher haben Waldenser die Kraft zum Überleben bekommen?

Nur der Glaube. Der biblische Glaube, der mit dem Wort Gottes eng verbunden ist, der da seine Grundlage findet, seine Substanz, sein Leben findet. Jener Glaube hat Zukunft.

Der Glaube an die Rechtfertigung des Gottlosen, wie man die Liebe Gottes auf einen Nenner gebracht hat. Jesus hat sie gelebt, vorgelebt. Und wer sich vom Himmel akzeptiert, geschätzt, geliebt weiß, der wird frei, frei zum Tun des Guten. Zur Solidarität mit den Armen. Zum Widerstand gegen himmelschreiendes Unrecht: der wird frei zur Nächstenliebe.

Schon der Apostel Paulus hat das gesagt. Dreierlei werden Zukunft haben! Dreierlei bleiben: Glaube, Hoffnung und Liebe. Und das ist die Zukunft – nicht nur des Protestantismus, nicht nur des Christentums, sondern ich meine auch der Zukunft Europas.

In unserem weiteren Gespräch über Bedeutung, über Einfluss und Kraft des Protestantismus’ auf unsere Kultur und auf unseren Kontinent kommen wir auf biblische Geschichten zum Thema Minderheit in einer Gesellschaft. Doch weil ich offenbar für Paolo Ricca immer noch zuviel mit Zahlen, mit „Quoten“ in den Medien, mit Prozenten daherkomme, korrigiert er mich, sanft. Heilsam.

Sie haben am Anfang gesagt von „Sauerteig“, „Salz der Erde“ – das ist ein sehr wichtiger Hinweis. Man soll beachten, dass Jesus eigentlich nie von Zahlen gesprochen hat. Und für ihn waren zwölf Menschen genug, um die Welt zu missionieren! Und zwei Fische und fünf Brötchen waren genug, um 5.000 Tausend Menschen zu sättigen.
Also: die Arithmetik Gottes ist eine andere wie unsere.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=2893
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SWR1 Begegnungen

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Einen gesegneten 1. Adventssonntag wünsche ich Ihnen. Ich bin Roland Spur von der Evangelischen Kirche und möchte Ihnen Bernhard Leube vorstellen. Er kennt sich so gut aus mit Kirchenliedern, dass er als Pfarrer auch Professor ist, Lehrer für Liturgik an der Hochschule für Kirchenmusik in Tübingen. Und er liebt die Welt seines Kirchen-Gesangbuchs.


Ich steh auf diese altbekannten Sachen, weil ich gemerkt habe im Lauf der Jahre, dass die nicht umzubringen sind, dass die jedes Mal, wenn ich noch mal neu drangehe, gibt das immer noch mal irgendwelche Facetten, irgendwelche Aspekte, irgendwelche Dinge, die diese Lieder abwerfen.
Und die entpuppen sich als so eine Art innere Landschaft, in der man spazieren gehen kann,
und das Licht ist immer wieder anders und neu. Und man singt das ja auch anders.


Teil 1
Mit dem ersten Advent beginnt ein neues Kirchenjahr. Ja: „Kirchenjahr“ – die Uhren in den Kirchen gehen etwas anders. Da beginnt heute schon eine neue Zeitrechnung. Deshalb habe ich einen Fachmann fürs Kirchenjahr besucht, Bernhard Leube. Er ist 53, verheiratet, hat drei Kinder zwischen 22 und 12 Jahren. Und er ist Pfarrer.

Ich bin kein ganz normaler Pfarrer, weil ich keine Gemeindearbeit zur Zeit habe, aber ich arbeite als Pfarrer in der Ausbildung bei den Kirchenmusikern an der Hochschule für Kirchenmusik in Tübingen, auch bei den Kirchenmusikstudierenden in Stuttgart bin ich unterwegs und unterrichte die.

Aber was sollen die Kirchenmusiker eigentlich von ihm lernen, außer richtig und schön zu musizieren?

Die müssen lernen, wie man mit den Leuten singt, und wie man Lieder so aufschließen kann, dass das Resonanz gibt. Nicht nur in den Köpfen, sondern eben auch in den Herzen Resonanz gibt.

Klingt schön: Resonanz. Ob er selbst auch uns das mal zeigen kann? Am besten an einem Beispiel, das jetzt aktuell ist, so dass wir das auch verstehen; nicht nur Kirchenmusikstudenten.
„Kein Problem“, sagt Bernhard Leube, und setzt sich, während er so weiterredet, ans Klavier.

Ich singe relativ oft mit Gruppen, oder in Gemeinden, wenn ich unterwegs bin.
Und dann singen die immer zum Beispiel so:

»Es kommt ein Schiff geladen,
bis an sein' höchsten Bord,
trägt Gottes Sohn voll Gnaden,
des Vaters ewigs Wort«.


Klingt doch klasse, denke ich: flüssig, nicht zäh. Weder schleppend noch schläfrig.
Beschwingt. Wunderbar! „Aber“, sagt mir Bernhard Leube,...

… Wenn ich das so singe, ist der Clou, der in der Melodie vor allem drin steckt, verraten! Oder nicht wahrgenommen. Das ist nicht schwer zu zeigen: Dass wir am Anfang eine tänzerische Struktur haben und hinten raus das ganz Gerade liegt. Weil es so gesungen gehört:

»Es kommt ein Schiff geladen bis an sein höchsten Bord...«


Ein hörbarer Unterschied: die zweite Hälfte der Strophe ruhiger gesungen. Keine Laune,
keine Willkür – dafür gibt das Lied selbst einen Grund an. Aha, es gibt also zwei Ebenen, lerne ich.

„Es kommt ein Schiff geladen“ – das kann man sehen. Aber: „Trägt Gottes Sohn voll Gnaden“ – das kann man nicht sehen: Das ist eine Glaubensaussage. Und da muss ich mir Zeit lassen. Da müssen die Noten länger werden. Sonst gehen diese Worte nicht auf. … Das Bild des Schiffes – mit dem Bild bin ich nicht fertig. Mit dem bin ich zwanzig Jahren nicht fertig!

Teil 2
Weihnachtsmärkte allerorten. Rituale der Einkaufs-City, könnte man sagen – „Alles klar: alle Jahre wieder.“ – Oder: kann man da doch was Neues entdecken? Was soll, was will die Adventszeit?

Die Adventszeit ist ja eigentlich immer eine Vorbereitungszeit gewesen, und in den früheren Zeiten sogar eine Bußzeit. Also eine Zeit, in der man gerade mit den sonstigen Aktivitäten eher sich zurückgenommen hat. Reduziert hat. Innehalten! Man sagt bis heute immer wieder: Advent ist eine besinnliche Zeit. Aber wir steigern ja eher unsere Tätigkeiten, rennen herum wie die Verrückten in Geschäften auf den letzten Drücker noch irgendwelche Geschenk... usw. und der Advent? Es ist ganz schwer, eine Besinnlichkeit reinzukriegen.

Besinnlichkeit und schöne Stimmung im Advent! Wie denn? Wir können ja nicht einfach die Augen zu machen und so tun, als spürten wir was von der schönen, heilen Welt. Ein Blick in die Medien zeigt, wie viel Verzweiflung, Elend und Gewalt es auf der Welt gibt.

Und Ungerechtigkeit usw., ja ich glaube, das ist sicher so. Ich meine auch, der Advent, die Adventszeit ist eigentlich die Zeit, in der wir unsere Sehnsucht feiern. Und ich finde, ganz viele Lieder sind ideale Instrumente, genau das zu tun: unsere Sehnsucht zu feiern.

Schöne Formulierung! Ja, stimmt. Wir haben Sehnsüchte. Wir haben es vielleicht aufgegeben, sie zu formulieren, weil wir immer wieder frustriert und enttäuscht werden.

Aber ich glaube, wenn wir unsere Sehnsucht nicht mehr formulieren, dann kippen wir in Sucht ab. Das ist nicht nur Alkoholismus. Das kann Kaufsucht sein oder ich weiß nicht was… Diese Betriebsamkeit hat ja auch etwas Betäubendes. Das wir uns das nicht zugestehen mehr: „Wonach sehnen wir uns eigentlich?“

Gut, also: „Besinnlichkeit reinkriegen“. Mit Musik?
Wie macht er es, wie macht’s die Familie Leube im Advent, wo beide Eltern berufstätig sind?

Da spielen für mich dann zum Beispiel solche Momente in der Familie nach wie vor eine ganz entscheidende Rolle. Dass wir uns – eben auch bei uns, wenn die Tage knallvoll sind! – abends, und wenn’s nur zehn Minuten sind, Zeit nehmen. Und dann sitzen wir hier, und singen zwei Lieder. Und einer liest was vor. Und dann ist gut.

Und die Kinder? Sehen die denn das auch so?

Der nächsten Generation muss man zugestehen, dass sie zeitenweise auch auf solche alten Sachen nicht so viel Bock hat. Mir fällt immer noch so etwas ganz Witziges ein. Unser Ältester, jetzt groß, studiert, der hat als kleiner, dreijähriger Kerl beim Adventssingen in der Familie immer bei dem Lied »Nun komm, der Heiden Heiland« die zweite Strophe, ganz hochtheologisch: »Er ging aus der Kammer sein, dem königlichen Saal so rein...« – und der hatte da mit drei, vier Jahren so eine Ritterphase mit Holzschwertern immer schwer gekämpft – und der hat da immer gesungen »Es ging aus der Kammer sein der königliche Samurai«. Weil er damit was anfangen konnte! Und das gehört für mich auch zu solchem kindlichem Singen. Und das ist okay! Ich werde den Teufel tun, das zu korrigieren. Damit war er dabei.

Das ist nicht nur witzig – das hat wirklich Witz! Denn mit seinem „Samurai“ liegt der Sohn von Leubes auch theologisch ganz richtig: der kommende Messias, das ist ja ein Gott-Held, wie es bei Jesaja heißt: „Auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er’s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit
von nun an bis in Ewigkeit.“ [Jesaja 9,5.6]https://www.kirche-im-swr.de/?m=2669
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SWR1 Begegnungen

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Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntagmorgen, ich bin Roland Spur von der Evangelischen Kirche. Stellen Sie sich vor, der Staat garantiert jedem Bürger ein bedingungsloses Grundeinkommen, von dem er gesichert leben kann. Gesetzlich festgelegt. Für alle gleich. Keine Gegenleistung muss erbracht werden.
Paradiesisch?
Heute möchte ich Ihnen Esther Kuhn-Luz vorstellen. Sie ist Pfarrerin und Studienleiterin in der Evangelischen Akademie Bad Boll. Und so ist sie mit verantwortlich für eine große Tagung über das »Bedingungslose Grundeinkommen«.

Das mit dem „Bedingungslos“, das gefällt mir wirklich gut. Nicht nur: mit Schweiß sollst Du Dein Brot verdienen. Sondern eben auch das kreative Arbeitsverständnis der Bibel da drin auftaucht: „...bebauen und zu bewahren“.

In der Evangelischen Landeskirche Württemberg gibt es neben den „normalen Gemeindepfarrern“ auch andere, besondere Pfarrer und Pfarrerinnen, mit ganz anders gearteten Aufgaben. Esther Kuhn-Luz ist so eine „Sonderpfarrerin“. Organisatorisch ist sie in der Akademie Bad Boll angesiedelt, sie lebt mit ihrem Mann, einem Studienrat für Geschichte und Religion in Herrenberg, und hat ihr Büro im Stuttgarter Osten, in der Kniebisstraße. Dort hat Roland Spur Esther Kuhn-Luz in dieser Woche besucht.

Einen Porsche zu fahren ist für viele ein Traum. Und wie geht es denen, die diese Autos zusammenschrauben? Unter welchen Bedingungen müssen sie arbeiten? Damit das Gemeindepfarrer aus dem Stuttgarter Norden konkret erfahren können, hat Esther Kuhn-Luz für sie einen Betriebsbesuch bei Porsche in Zuffenhausen organisiert. Das gehört nämlich zu ihren besonderen Aufgaben als Pfarrerin. Und wie nennt sie sich eigentlich, habe ich sie gefragt.

Meine Bezeichnung lautet: Wirtschafts- und Sozialpfarrerin im kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt an der Evangelischen Akademie Bad Boll.


„Die Kirche und die Arbeitswelt“ – Moment, so klingt das ja nach zwei verschiedenen, nach zwei fremden Bereichen!

Das ist natürlich ein bisschen gemein, so zu tun, als würde man in der Kirche nicht arbeiten! Da geht’s vor allem da drum, die Arbeitswelt außerhalb der Kirche wahrzunehmen. Also eine meine Aufgaben besteht darin, Betriebe zu besuchen, Kontakte zu knüpfen zu den Betriebsräten, aber auch zu Personalmanagement, Kontakte zu knüpfen zu Gewerkschaftlern zur IHK, aber eben auch zu Arbeitslosenzentren.

Zuhören, wahrnehmen, verstehen, lernen – das ist verständlich. Und sie kann die Themen, die sie in den verschiedenen Gesprächen mitbekommt, dann auch in die Kirche mit reinnehmen, sagt sie mir. Ihre Arbeit habe eine Brückenfunktion. Und – bildlich gesprochen: auf dieser Brücke kann es keinen „Einbahnverkehr“ geben.

Unsere Arbeit orientiert sich natürlich auch an Jesus, sonst würden wir das so auch nicht machen. Und zwar wenn Jesus sagt: „Ich bin gekommen, den Armen das Evangelium zu verkünden“, dann sind wir in der Arbeitswelt vor allem an die Menschen gewiesen, die in irgendeiner Weise zu den Ausgegrenzten und Armen gehören. Das sind oft Leute, die auf der Kippe stehen, arbeitslos zu werden. Das kann aber manchmal auch jemand sein als Manager, der überfordert ist von all diesen vielen, vielen Anforderungen, die es auch auf dieser Ebene ja in immenser Weise gibt. Das kann jemand sein, der zum Mobbingopfer wurde. Das kann eine Betriebsrätin sein, wie wir’s im Konflikt in Ludwigsburg hatten, die auf übelste Weise durch Mobbing ihre Funktion als Betriebsrätin verlieren soll.


Als Seelsorgerin ist sie da gefragt. Doch Seelsorge ist nicht alles. Esther Kuhn-Luz macht auch Bildungsarbeit: sie setzt Themen wie: »Eine Ökonomie des Genug«, »Zukunftsfähiger Sozialstaat«, und lädt jetzt ein zu: »Bedingungsloses Grundeinkommen« Wie ist sie denn auf die Idee gekommen?

Das »bedingungsloses Grundeinkommen« als Idee gibt es eigentlich schon seit über 30, 40 Jahren, und zwar von der linken Seite, von André Gorz, als auch von der eher wirtschaftsliberalen Seite wie Milton Friedman. Jetzt aber in unsrer Zeit bekommt dieses Thema des bedingungslosen Grundeinkommens plötzlich eine ganz große Bedeutung, denn es wird von ganz prominenter Seite vorgetragen.

Während in dieser Woche sich SPD-Politiker über eine Verlängerung der Zahlung/die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I streiten – das sei ein Gebot der Gerechtigkeit. Nein, heißt es andererseits, das zerstöre das Hartz-IV- Reformprogramm! – und eine Wochenzeitung mit einer großen HARTZ IV Todesanzeige titelt! – , wird von verschiedenen Leuten über einen ganz anderen Ansatz nachgedacht, ein wesentlich grundsätzlicheres Konzept: das bedingungslose Grundeinkommen. Als Rechtsanspruch, nach der Schule bis ins Alter, für alle. Dazu wird es in Stuttgart eine Tagung geben, hochkarätig besetzt, und ökumenisch verantwortet. Auch von der evangelische Wirtschafts- und Sozialpfarrerin Esther Kuhn-Luz . Roland Spur ist ihr begegnet.

Beim Modell des bedingungslosen Grundeinkommens kommt mir das Gleichnis Jesu von den Arbeitern im Weinberg in den Sinn. Da werden morgens Erntearbeiter eingestellt, dann mittags, nachmittags, und am frühen Abend. Bei denen beginnt dann die Auszahlung. Die haben zwar bloß eine Stunde gearbeitet, bekommen aber den vollen Tageslohn, wie alle anderen auch. Die Arbeitswelt in Jesu anstößigem Gleichnis vom Reich Gottes. „Dein Reich komme“: Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich. Geht es darum? Ja, meint Esther Kuhn-Luz.

Jeder Mensch braucht ein Einkommen, um existieren zu können. Aber in unsrer hoch technisierten Gesellschaft gibt es einfach nicht mehr genügen Arbeitsplätze. Und deshalb müssen wir das einfach trennen. Jeder Mensch braucht ein Einkommen, aber nicht jeder Mensch kann mehr einen Arbeitsplatz haben.

„Bedingungsloses Grundeinkommen“, wer das neu hört, denkt sich vielleicht, paradiesische Zustände! Unbezahlbar! Doch das stimmt so nicht. Bei uns werden an Sozialleistungen über 700 Milliarden Euro ausgegeben, und da sind die ganzen Verwaltungskosten noch gar nicht mal mit eingerechnet. Bei einem dieser Modelle – „Solidarisches Bürgergeld“ – (Dieter Althaus, Thüringen) entstünden dem Staat sogar 150 Milliarden Euro weniger pro Jahr, wäre also günstiger als das heutige System. Über bedingungsloses Grundeinkommen lohnt es sich nachzudenken. Aber wieso eigentlich auf einer kirchlichen Tagung? Und: Was ist daran evangelisch?

Evangelisch deswegen, weil ja nun über die Rechtfertigung – da sind wir bei dem Stichwort »bedingungslos« – die Anerkennung nicht über die Arbeit geht, sondern die Anerkennung „aus Gnade allein“ (sola gratia), ja also: wir sind anerkannt als Menschen! Und weil wir anerkannt sind von Gott her, können wir etwas tun.

Ich verstehe: Dieser völlig andere Blick! Menschen mit anderen Augen sehen. Sie werden nicht mehr als Versager, als Loser und Drückeberger behandelt, sie kommen sich nicht mehr als überflüssige Menschen vor. Sie müssen sich nicht mehr schämen, gedemütigt, sondern können mit einem ordentlichen Grundeinkommen entfalten, was an Kreativität in ihnen steckt. Immer weiter! Da hat man Lust, sich einzubringen! Wo ich gebraucht werde, bekomme ich Anerkennung, ich kann was aus meinem Leben machen, es bekommt einen neuen Sinn. Und das Geld hat...

Das Geld hat nicht die Aufgabe, „Gott“ zu spielen. Genau!

Klingt verlockend, ist auch nicht aus dieser Welt. Den Menschen aus der Perspektive Gottes sehen lernen. Ihm seine Würde lassen. Bedingungslos. Und dafür gibt’s ja auch Erfahrungen, wie Anerkennung und Vertrauen bei der Arbeit sich positiv auswirken! Wie Verantwortung wächst! Das bedingungslose Grundeinkommen: Allheilmittel oder Sozialstaatsutopie? Sieht sie selbst an diesen Modellen ’was Kritisches, habe ich Esther Kuhn-Luz gefragt, und kann sie’s auf eine Formel bringen?

Es gibt einen etwas zynischer Ausspruch: „Gebt den Armen doch das Grundeinkommen, damit wir Reichen in Ruhe reich sein können.“

Ein Ende an solidarischer Verantwortung, und letztlich würde das Soziale aus der Politik verbannt. Aber ihr geht es um den zukunftsfähigen Sozialstaat. Darum so grundsätzlich werden, so innovative Modelle, mit dem Ziel der gerechten Teilhabe.

Ich bin eine, die ganz, ganz wichtig findet, dass man darüber heftig diskutiert. Weil man nicht sagen kann, nur das eine oder das andere ist richtig. Ich möchte Thüringens Ministerpräsident Althaus zitieren, der sagt. „Das solidarische Bürgergeld ist ein Trampolin zum Mitmachen, kein bequemes Sofa zum Faulenzen.“https://www.kirche-im-swr.de/?m=2354
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SWR1 Begegnungen

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag, ich bin Roland Spur von der Evangelischen Kirche und möchte ihnen heute Klaus Staeck vorstellen. Er ist seit 2006 Präsident der Akademie der Künste in Berlin und nach wie vor der bekannte Plakatkünstler, der nah dran ist an den Problemen und dem Nerv unserer Zeit.

Der Sicherheitswahn seit dem 11. September, hat sich auch die Welt verändert. Dass plötzlich also jeder auch wieder unter einer Art Terrorverdacht steht. Man muss sich mal klar machen, wenn diese Attentate da im Kölner Hauptbahnhof in den Vorortzügen tatsächlich geklappt hätten, hätten wir heute schon eine andere Republik. Und dass Ärzte jetzt plötzlich zu den Bombenlegern gehören wollen, ist eigentlich eine erschreckende Menschheitsbilanz.

Teil 1
Klaus Staeck ist nach eigenem Bekunden „unterwegs in Sachen Kunst und Politik“. Und er ist bekennender Protestant.

Ich bin jemand, wenn er an sein Christentum erinnert werden sollte, dann möchte ich, dass er das an seinen Taten beurteilt bekommt.

Seine Taten? Klaus Staeck stammt aus dem sächsischen Pulsnitz, aufgewachsen in der Industriestadt Bitterfeld. 1956 siedelte er mit 18 nach Heidelberg um, studierte Jura, wurde Rechtsanwalt. Und Künstler. Bekannt wurde er durch seine Plakate und Postkarten, eine satirische Auseinandersetzung mit der Politik. Seit 2006 ist er Präsident der Akademie der Künste in Berlin. Zur Kunst kam Klaus Staeck als Autodidakt, ein „Selfmademan“ – auch jetzt als Präsident?

Also ich bin in dieses Amt „geraten“, muss man geradezu sagen, schon aus einer protestantischer Ethik heraus – wenn man es ein bisschen überhöht jetzt ausdrücken möchte – auch aus Verantwortung heraus.

Von seinem Berliner Büro aus habe ich einen grandiosen Ausblick aufs Brandenburger Tor und den ganzen Pariser Platz. An der Wand hängt ein schönes, großes Selbstporträt des Berliner Malers Max Liebermann.
Der ist auch Präsident der Akademie der Künste gewesen. Bis ihn die Nazis 1933 aus diesem Amt und Haus vertrieben. Und Albert Speer da eingezogen ist. Der plante dort Hitlers Welthaupt „Germania“. Die neue Akademie der Künste ist heute ein Glasbau neben dem Hotel Adlon am Pariser Platz.
Aus Pflichtgefühl – sagt Klaus Staeck – sei er In dieses Amt „geraten“.

Und hier bei der Akademie war eine Situation entstanden, dass manche sogar von außen der Akademie die Existenzberechtigung bestreiten wollten. Nach dem Motto: „Die hat’s jetzt 310 Jahre gegeben – reicht das nicht eigentlich? So zerstritten wie die sind, und so wenig wir erkennen können, warum wir sie brauchen.“ Und das hat mich natürlich dann gereizt!

Neben seiner Tätigkeit in Berlin ist er Graphiker in Heidelberg. Warum die ganze Arbeitslast? Schließlich ist er ja nicht mehr der Jüngste.

Aber dieses Gefühl, etwas nicht bloß Vernünftiges zu tun, sondern etwas Notwendiges zu tun, und das nicht nur für sich selber. Denn das braucht’ ich eigentlich mehr jetzt – ich bin 69! Da muss man nicht mehr irgendwie jetzt darauf achten, ob man nun einen Orden mehr oder weniger an der Brust hat. Oder noch eine Ausstellung mehr oder weniger macht – ich hab jetzt über 3.000 gemacht – also da zählt man irgendwann nicht mehr, nein.

Ich verstehe, also weniger aus Ehrgeiz. Ein anderer Ansporn.

Teil 2
Klaus Staeck ist ein politischer Plakatkünstler. Mit seinen Arbeiten weist er auf Fehlentwicklungen und Probleme hin: „Was ist uns wichtig, und teuer?“ So erkennt er zum Beispiel den Sport als das Spielfeld unserer echten gesellschaftlichen Werte.

Das ist für mich nach wie vor eine unbegreifliche Tatsache, leider Tatsache, dass wir die angesehensten Bürger in diesem Staat auch sein können, ohne dass sie einen Cent Steuern zahlen hier. Viele Fernsehhelden, die ganze Fußball-WM, wenn Sie da mal geguckt haben: ein Großteil der Spieler, ein Großteil der Kommentatoren, da zahlt keiner mehr in Deutschland auch nur einen Cent Steuern, nehmen aber mit einer Selbstverständlichkeit sämtliche Leistungen der anderen Steuerzahler an Infrastruktur etc. in Anspruch.

Klaus Staeck hält daran fest, dass wir nicht bloß ein Gemeinschaftsgefühl brauchen, sondern dass Gemeinschaft gebaut, finanziert und erhalten werden muss, das, was früher so schön altmodisch die „Daseinsvorsorge“ genannt wurde.

Deshalb bin ich auch „seltsamerweise“ – für andere: seltsamerweise – jemand gewesen, der immer die Politik verteidigt hat. Weil ich sage: es kann doch nicht sein, dass wir der Wirtschaft alles überlassen! Die noch dazu dann zum Schluss keine Steuern mehr zahlt. Also welcher Konzern zahlt denn bei uns noch Steuern? Jedenfalls nutzen sie jede Chance, auch aus der Anonymität heraus der Konzernleitung, der Konzernleitung einer Tochter, wo der Mutterkonzern in sonst wo auf der Welt ist, wieso soll die sich irgendwie dem lokalen Geschehen noch dazu irgendwie verpflichtet fühlen? Das ist doch völlig absurd.
Da kann ein Klaus Staeck Jesu Wort aus der Bibel »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist« aktuell so wiedergeben und sagen: »Gebt dem Steinbrück, was des Steinbrücks ist!« Denn Steuernzahlen gehört sich, gehört zur Verantwortung fürs Gemeinwohl.

Also ich will jetzt gar nicht mit der Frömmigkeit kommen. Bin kein Frömmler, schon mal gar nicht. Bin auch kein großer Kirchengänger. Sondern was mir Kraft gibt, worüber ich übrigens selber manchmal überrascht bin: offenbar habe ich eine gute Grundlage bekommen von meiner Familie. Eine relativ positive Einstellung.
Ich hatte sehr arbeitsame, nicht unbedingt sehr fromme Leute als Eltern. Sondern Leute, wo man sagte, einfach, bei bestimmten Dingen: „Das macht man, das tut man“, und bei anderen Dingen: „Das macht man nicht“.
„Na irgendwie werden die sich schon was bei gedacht haben und man muss es überprüfen.“ Also nicht unkritisch alles hinnehmen. Kein Kadavergehorsam!


Klaus Staeck bleibt unbequem, weil er an seiner Überzeugung festhält, Da sind harsche Kritik und Prozesse nicht ausgeblieben. Und sein Frust?

Also ich habe keine großen Erwartungen, sagen wir mal so, und gehöre zu den Leuten, die immer sagen, wenn ihnen was stört: »Ja, kann man da selber was dagegen tun? – Kann sein, dass es schief geht, der Versuch; da was zu ändern.
Aber: Scheitern ist keine Schande. Aber es nicht versucht zu haben wenigstens, das würde ich mir vorwerfen.« Und wenn Sie darin eine protestantische Haltung sehen, dann ist es das.


»Trägheit des Herzens, und des Geistes«, wie es in christlicher Sprache heißt, kennt er nicht.

Und ich bin zum Beispiel jemand, der auch nicht unbedingt so eine Ökumene um jeden Preis will. Ich gehöre zu den Leuten, die keinen Papst über sich brauchen. Niemals. Und wenn es – wer auch immer auf diese Idee kommen sollte, den Protestanten einen wie auch immer geläuterten Papst anzuempfehlen, dann würde ich sofort eine neue protestantische Gruppe gründen. https://www.kirche-im-swr.de/?m=2033
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SWR1 Begegnungen

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Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag, ich bin Roland Spur von der Evangelischen Kirche.
Schauspieler, Rezitator, Synchronsprecher – so ist er bekannt geworden. Für Kinogänger die Stimme von Robert de Niro, zum Beispiel: Christian Brückner. Manche nennen ihn nur „the voice“ – die Stimme. Aber er ist auch Ehemann und Familienvater.

Wir haben uns gestern mit unsern Kindern unterhalten, abends, über das, was uns bevorsteht, also beispielsweise Migrationsströme nach Millionen, und Menschen, die einfach ihr nacktes Leben retten wollen und irgendwo ankommen, wo sie noch irgendeine Unterkunft finden, einen Stall finden, in den sie reinschlüpfen können und zunächst mal bleiben.

Teil 1
Ich habe Christian Brückner getroffen nach einer Dichterlesung in der Nähe von Stuttgart. Dafür war er frisch angereist, und gleich anschließend ging sein Flieger wieder zurück nach Berlin: er reist ständig. Während wir reden, wird im Hintergrund aufgeräumt. Christian Brückner, mit seiner auffallenden Stimme, markant und verletzlich – wie ist das, habe ich ihn gefragt, wenn man beruflich immer nur fremde Texte liest, sie präsentiert und gestaltet: was macht das mit einem selber? Verschwindet da im Lauf der Zeit nicht die eigene Persönlichkeit, das eigene Ich?

Ich muss sagen: gerade das Ich verschwindet nicht, glaube ich. Denn das Ich, das ist das, was ich einbringen muss, mit dem ich reden muss bei einem fremden Text. Denn verschwände das Ich, wäre so zu sagen mein Auftritt überflüssig. Hinfällig.

Und uns ist dann schnell klar, dass diese Arbeit ja kein Kleinschreiben der eigenen Person ist. Er ist vielmehr so etwas wie ein „Sprachrohr“, spricht im Auftrag eines Dichters, eines Romanautors. Ähnlich wie bei den biblischen Propheten. Die verstehen sich auch als Sprachrohr Gottes, auch als profilierte Sprecher in seinem Namen und Auftrag »So spricht der Herr«, so beginnen sie oft ihre Rede. Und sind doch auch ganz eigenständige Persönlichkeiten gewesen! Haben sich regelrecht inszeniert, mit Haut und Haar. Propheten wie ein Jeremia, ein Amos, Elia oder Moses.

Ich meine, mit dem brennenden Dornbusch kann er sich natürlich einen starken Bühnenauftritt verschaffen. Das ist mal völlig klar!

Sein persönlicher Auftrag, oder seine Mission – ich vermute sie in seinem Verlagsprogramm parlando, das er zusammen mit seiner Frau Waltraut betreibt. Sie wurden dafür 2005 ausgezeichnet. Erlesene Prosa, Poesie, und – politische Texte! So hat er ein Hörbuch gestaltet mit den Menschenrechten. Jeder kennt die zehn Gebote, sagt er. Aber kennt auch jeder jedes Gebot? Genauso ist es mit den Menschenrechten. Sie sind ständig in aller Mund, doch wer könnte die einzelnen Rechte aufzählen?
Und da die Menschenrechte überall immer mehr mit den Füßen getreten werden, müssen wir sie kennen, meint Christian Brückner, damit wir sie verteidigen können. Ich frage ihn, ob da also sein Herz schlägt, bei den großartigen Dokumenten der Freiheit. Ob er darin seinen persönlichen Auftrag sieht?

Mit einem Satz beantwortet: das ist sicher so. das ist sicher ein Versuch, den meine Frau und ich machen mit Hilfe von parlando, wo wir frei – freier sind als je sonst in einem Arbeitsverhältnis. Und wo wir wirklich die Dinge nach außen zu bringen versuchen und zu anderen Menschen hin, die uns wichtig erscheinen. Und ich muss es sagen, auch wenn es unglaubwürdig vielleicht klingt, wo wir eben so gut wie nicht auf den Erfolg im Sinne der materiellen Bereicherung achten, sondern die Texte müssen da sein, sie müssen bewusst sein, so bekannt wie möglich sein oder werden. Das ist der Versuch.

Und Christian Brückner erklärt auch, woher das kommt, solche politischen Freiheitstexte aufzunehmen, die Gründe und Motive...

...das heißt, in einem ethischen Bewusstsein, das tradiert ist aus der kulturellen und auch religiösen Tradition, in der ich aufgewachsen bin. Also kein festlegbares Bekenntnis außer eben zu Menschenwürde, Menschenrechten, ich wiederhole es noch mal.

Teil 2

In den Medien zuhause, in der Welt viel unterwegs, aufmerksam, wachsam. Seit Jahren. Was bewegt einen Vielreisenden wie Christian Brückner da?

Wir haben uns gestern mit unsern Kindern unterhalten, abends, über das, was uns bevorsteht, und was natürlich ganz andere Sachen sein werden als das, was wir so in der Alltagspolitik qua Medien, Presse, Fernsehen nahegebracht wird. Es hat ja mit der Wirklichkeit, die uns in ein paar Jahren – oder spätestens Jahrzehnten – erwartet, gar nichts zu tun. Also beispielsweise Migrationsströme nach Millionen, und Menschen die eben nicht „Terroristen“ sind, als die sie möglichst von vornherein hier dargestellt oder verteufelt werden, sondern die einfach ihr nacktes Leben retten wollen und irgendwo ankommen, wo sie noch irgendeine Unterkunft finden, einen Stall finden, in den sie reinschlüpfen können und zunächst mal bleiben.

Christians Brückner reist viel durch die Welt. Und macht sich viele Gedanken über Menschen, die reisen, auswandern oder flüchten. In seiner Biographie kann man lesen: Geboren Oktober 1943, in Waldenburg – und zwar nicht das hier im Schönbuch, sondern Waldenburg in Schlesien, im schlesischen Dialekt „Walbrich“ gennant. Heute heißt seine Geburtsstadt Wałbrzych, in Polen. Die einst vorwiegend evangelische Stadt ist rund 65 Kilometer südwestlich von der niederschlesischen Hauptstadt Breslau entfernt und bildete das Zentrum des niederschlesischen Steinkohlereviers.
Ort und Zeit lassen vermuten: sein Leben ist bestimmt von Einschnitten. Gab’s da Brüche? habe ich ihn gefragt.

Ganz viele, ganz viele. Schlesien – die Vertreibung, die ich natürlich nicht bewusst erlebt habe, sondern im Kinderwagen, die aber mir das Anwachsen irgendwo, also in dem Fall in Köln, verhindert hat, weil meine Eltern bei Gott keine Revanchisten sind. Natürlich schwärmten sie von ihrer verlorenen Heimat, nicht weil sie sie gewaltsam wiederhaben wollten, sondern weil: Das war weg! Und da, wo wir waren, war’s eigentlich nicht wünschenswert. Und das ist ein bisschen so geblieben, dieses nirgendwo ganz anwachsen Können. Ich glaube, das hat mit dieser ursprünglichen Situation wesentlich zu tun. Da ist natürlich Wunsch, dass es gelänge! Aber es wird mir nicht gelingen.

Vielleicht hängt damit auch zusammen, dass er heute pendelt, zwischen New York und Berlin. Ja, wie ist das mit dem Wurzelnschlagen, wenn man so was wie Geborgenheit und Sicherheit nicht aus seiner Kindheit kennt?
Und wir kommen wieder auf die Bibel zu sprechen, auf die Psalmen. Viele sind von Flüchtlingen, von Heimatvertrieben formuliert worden. Beim Untergang des israelischen Nordreiches, so um 700 vor Christus, sind sie nach Süden, nach Jerusalem geflüchtet: »Unter dem Schatten Deiner Flügel habe ich Zuflucht!«
»Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde,
du schenkst mir voll ein. Und ich werde bleiben...«
Und wir denken an New York als Zufluchtsort.
Asylanten beten in der Bibel, danken Gott. In seinem Haus, bei ihm, da finden sie Trost und Schutz. Ihnen schenkt Gott eine neue Lebensperspektive. Solche Psalmen richtig vorstellen, daraus könnte ein besonderes Hörbuch werden.

Das höre ich in diesem Moment jetzt, und es leuchtet mir sofort ein, und ich werde daraufhin die Texte begucken! https://www.kirche-im-swr.de/?m=1584
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SWR3 Gedanken

Das kennt jeder: manche Leute wollen ganz bestimmte Buchstaben auf dem Nummerschild ihres Autos haben: Initialen sind beliebt, und manchmal dahinter das Geburtsjahr, wenn’s passt. Anderen ist’s egal, sie nehmen, was vom Landratsamt kommt.
Mir ist das Buchstabenpaar XP schon öfters begegnet. Initialen? Xaver Pohl? Ximenes Pablo? Oder Xenia Pfleiderer? Oder liebt jemand sein Windows-Betriebssystem dermaßen, dass er XP...? Wieso begegnen mir so viele Autos mit diesen XP-Nummernschildern?
Und dann fiel es mir wie »Schuppen von den Augen« (Apg 9,18) und ich »sah« die Zeichenkombination anders! Nämlich nicht als unsre vertrauten lateinischen Buchstaben, sondern – wie mit einer anderen Brille – als Griechische gelesen. Und da steht das erste Zeichen X für –ch–, und das P ist ein –r– : Chi und Rho also, das Christus-Monogramm, wie man dazu sagt. Und ich verstand: die Leute ließen sich wohl ins Blech des Nummernschildes für ihr Auto das Christus-Monogramm prägen, ob GTI oder Turbo-Diesel!
Der Kaiser Konstantin, dem gerade eine Ausstellung in Trier gewidmet ist, der hat eine Münze mit seinem Porträt machen lassen, und da ist dieses Zeichen oben auf seiner Stirn angebracht. Römische Münzen im Altertum mit ihren Bildern waren so was Ähnliches wie die BILD-Zeitung heute: damit konnte man sein Image pflegen und Meinung machen.
Der Kaiser mit dem Christus-Monogramm über den Augen, sagt mit jeder Münze: »Seht her, ich bin ein Christ! Ich trage sein Zeichen auf der Stirn.« Konstantin ist also ein frühes Beispiel für einen Politiker, der seinen Namen mit dem Christentum verbindet. Auch wenn er da gar nicht getauft war – macht nichts! So ein Geld, das alle in die Hand nehmen, solche Münzen, die er prägen ließ, die prägen sich ein bei den Menschen, die machen sich bezahlt. Bis heute!
Bis heute gilt Konstantin als der erste christliche Kaiser!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=1558
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SWR3 Gedanken

Hätte es schon früher Fernsehen gegeben, dann wären wir Zeugen eines Lifeberichtes aus dem Herzen von Rom geworden. 1633, es ist der 22. Juni. Wir sind neben der Piazza Navona in einem Kloster. Vor einem breiten Holztisch mit sieben Kirchenvertretern steht ein alter Mann, wache Augen, gepflegter Bart, er trägt einen Mantel. Trotz der sommerlichen Temperaturen draußen – hier drinnen scheint es kalt zu sein. Der Mann tritt vor, fröstelt ihn? Er zittert. Es wartet. Es wird still:

»Ich, Galileo, Sohn des Vincenzo Galilei aus Florenz, siebzig Jahre alt, stand persönlich vor Gericht und ich knie vor Euch Eminenzen, die Ihr in der ganzen Christenheit die Inquisitoren gegen die ketzerische Verworfenheit seid. Ich habe vor mir die heiligen Evangelien, berühre sie mit der Hand und schwöre, dass ich immer geglaubt habe, auch jetzt glaube und mit Gottes Hilfe in Zukunft glauben werde, alles was die heilige katholische Kirche für wahr hält, predigt und lehrt. Es war mir von diesem heiligen Offizium von Rechts wegen die Vorschrift auferlegt worden, dass ich völlig die falsche Meinung aufgeben müsse, dass die Sonne der Mittelpunkt der Welt ist, und dass sie sich nicht bewegt, und dass die. Erde nicht der Mittelpunkt ist, und dass sie sich bewegt.«
Sein Stimme wird immer leiser, Gemurmel im Saal kommt auf. Galilei liest weiter. Er macht eine Pause. Ruhe kehrt ein. Wir hören seine Worte klar und einwandfrei:
»Ich, Galileo Galilei, habe abgeschworen, geschworen, versprochen und habe mich verpflichtet. Zum Zeugnis der Wahrheit habe ich die Urkunde meines Abschwörens eigenhändig unterschrieben und sie Wort für Wort verlesen. In Rom im Kloster der Minerva am 22. Juni 1633. Ich, Galileo Galilei, habe abgeschworen und eigenhändig und eigenhändig unterzeichnet.«
Galilei übergibt das Dokument, dreht sich um und geht. Er geht durch die Zuhörer. Ja, er kann als freier Mann das Gebäude der römischen Inquisition verlassen. Er kann jetzt nach Florenz zurückkehren! Jetzt kommt er gleich an unserem Kamerateam vorbei, er will offenbar etwas sagen: »Und sie dreht sich doch!«
Soweit die Life-Übertragung aus Rom. Die Folgen dieses Prozesses werden Sie noch... – Äh. Über die Folgen dieses Prozesses zwischen Kirche und Naturwissenschaft werden wir Sie informieren. Das war Life aus Rom. Wir geben wieder zurück nach Deutschland an Ihren Sender.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=1557
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