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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
Im Lukasevangelium erzählt Jesus das Gleichnis vom verlorenen Sohn, oder besser vom barmherzigen Vater. Da lässt sich einer vorzeitig sein Erbe ausbezahlen, um ganz woanders sein Glück zu versuchen. Doch er scheitert grandios und landet in der Gosse. Ganz unten angekommen geht er in sich und beschließt, nach Hause zurückzugehen und den Vater um Verzeihung zu bitten.
Nach damals geltendem Recht hat er seine Chance gehabt. Rechtlich gesehen ist der Vater ihm gegenüber zu nichts mehr verpflichtet. Aber Recht und Ordnung stoßen manchmal an ihre Grenzen, nämlich dann, wenn der einzelne Mensch mit seiner Geschichte in den Blick kommt. Dann kann sich Mitgefühl regen und ein Urteil fällt milder aus. Welcher Vater oder welche Mutter käme tatsächlich auf die Idee, das eigene Kind vor der Tür stehen zu lassen, wenn es reumütig nach Hause kommt?! Ich kann es mir nicht vorstellen.
Das Gleichnis vom barmherzigen Vater stellt die Frage, welchen Sinn Regeln und Gesetze haben? Sind sie nur dazu da, dass wir uns an sie halten? Oder wollen sie Sicherheit bieten und das Zusammenleben stützen? Wenn sie das tun, kann es sehr sinnvoll sein, dass wir uns nach ihnen richten. Tun sie es nicht, müssen sie verändert oder abgeschafft werden.
Natürlich kann eine Gesetzgebung nie perfekt sein. Sie kann es gar nicht allen recht machen, schon allein deshalb nicht, weil es verschiedene Meinungen und Sichtweisen gibt. Ist es zum Beispiel sinnvoll, dass Jugendliche bei Landtags- und Kommunalwahlen ab 16 Jahren wählen dürfen, bei der Bundestagswahl aber erst ab 18? Mir erschließt sich der Sinn nicht. Aber ich bin froh, dass wir in einem Rechtsstaat leben, in dem wir über solche Fragen reden und sogar etwas verändern können.
Regeln und Gesetze sind wichtig. Sie geben Sicherheit und sie schaffen einen Rahmen für unser Zusammenleben. Und manchmal braucht es unser Mitgefühl, das diesen Rahmen sprengt, so wie in der Erzählung vom barmherzigen Vater.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43013SWR1 Anstöße sonn- und feiertags
Guten Morgen, am Tag der deutschen Einheit. Aber wie ist es denn um unsere Einheit bestellt? Die Schere zwischen arm und reich scheint immer größer zu werden. Zwischen Ost und West gibt es noch immer ein Gefälle. Unterschiedliche politische Ansichten werden zu unüberwindlichen Gräben. Haben wir einen Grund zu feiern an diesem Feiertag?
Ja, in jedem Fall. Für mich ist es ein Grund zum Feiern, dass die Mauer gefallen ist. Es darf nicht sein, dass Mauern hochgezogen werden, um Menschen zu trennen, oder politische Systeme und deren Ideologien abzuschirmen. Es ist ein Grund zu feiern, dass Menschen sich dagegen gewehrt haben, dass sie bespitzelt, belogen und hinter einem eisernen Vorhang eingesperrt wurden. Es ist bewundernswert, dass ihr Protest friedlich war und sie auf Gewalt verzichtet haben.
Der Tag der deutschen Einheit ist aber mehr, als ein Blick zurück. Ich fühle mich angespornt, mich für mehr Einheit in unserem Land und darüber hinaus einzusetzen. Das kann zum Beispiel gelingen, wenn ich mir keine Angst machen lasse vor Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen. Ich fürchte mich nicht vor anderen Kulturen und Religionen. Ich mag Vielfalt und ich bin der Meinung, dass sie unserem Land gut tut.
Natürlich stehen wir vor der Herausforderung, Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund zusammenzuführen, unsere Demokratie zu pflegen und zu stärken, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Menschen brauchen gerechte Chancen auf Bildung und am Arbeitsmarkt. Aber wir können das meistern, wenn wir gemeinsam anpacken. Und den Glauben daran will ich nicht aufgeben. Zu vertrauen und zu hoffen, das legt mir mein Glaube an Herz.
Albert Schweitzer hat einmal gesagt: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Das ist eine Einsicht, die Einheit stiften kann. Der Tag der Einheit sollte ein Tag sein, an dem wir das Miteinander suchen und feiern.
Die Mauer ist gefallen. Die Einheit zu leben und immer weiter auszubauen, bleibt unsere Aufgabe. Lassen Sie uns also feiern, damit wir morgen mit frischem Elan aufeinander zugehen können.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43014Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
In der Bibel gibt es eine Erzählung, die mich fasziniert. Da spricht Abraham mit Gott über Sodom und Gomorra. Gott hat die Nase voll vom kriminellen Treiben der Bewohner. Darum will er die Städte vernichten. Abraham aber widerspricht. Er fragt: Was ist mit den Unschuldigen, die es dort vielleicht gibt? Sollen die mit den Schuldigen untergehen?
Natürlich ist so eine Erzählung nicht unproblematisch. Was für ein brutales Gottesbild wird da gezeichnet?
Historisch betrachtet verarbeitet diese Erzählung sehr wahrscheinlich die tatsächliche Zerstörung zweier Städte am Toten Meer und zwar durch eine Naturkatastrophe. Warum passiert so etwas? Und weil es darauf keine Antwort gibt, rückt Gott als Richter an die Stelle der Ursache. Die Deutung lautet dann: Wer leidet, hat es verdient. So lässt sich das Schicksal besser aushalten. Diese Einstellung existiert leider und ich halte sie ebenfalls für problematisch.
Unterschwellig stellt diese Erzählung mir aber noch eine ganz andere Frage: Was kann ein einzelner Mensch schon ausrichten?
Vor dieser Frage stehe ich, zum Beispiel, wenn ich auf den Klimawandel schaue. Was kann ich da schon tun? Was nützt es, wenn ich mit meiner Familie auf Flugreisen verzichte? Was bringt es, wenn ich versuche, Energie zu sparen?
Vielleicht kann ich tatsächlich nicht viel ausrichten. Viel wirksamer wäre es, wenn die Politik konsequent am Klimaschutz arbeiten und entsprechende Weichen stellen würde. Warum soll ich mich persönlich einschränken, wenn andere das nicht machen?
Ich glaube, dass jeder Mensch eine Verantwortung für das große Ganze hat. Und dieser Verantwortung will ich mich nicht entziehen. Wenn meine Kinder, oder meine Enkelkinder mich fragen, was ich gegen die Erderwärmung gemacht habe, dann möchte ich sagen können: Ich habe getan, was ich konnte.
Abraham hat in der Erzählung auch getan, was er konnte. Er hat sich für Menschen eingesetzt, die er gar nicht persönlich kannte. Er hat sich solidarisch in sie hineinversetzt und für ihr Lebensrecht den Mund aufgemacht.
So ähnlich sehe ich das beim Klimawandel. Ich selbst spüre die Folgen vielleicht kaum. Aber andere schon. An sie zu denken und mit meinem Verhalten solidarisch zu handeln, das ist ein Anfang.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43012Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
Vor den Sommerferien war ich an einem Nachmittag in unserer Pfarrkirche. Ich wollte kurz nach dem Rechten schauen, Kerzen auffüllen und dann einfach ein paar Minuten still dasitzen. Da kam ein junger Mann in die Kirche und recht schnell ist mir klar gewesen, dass er mit jemandem reden wollte. Ich bin auf ihn zugegangen und habe mich als Pfarrer dieser Gemeinde vorgestellt. Und dann hat er mich gefragt, ob ich ihm die Beichte abnehmen würde. Das ist mir, ehrlich gesagt, schon sehr lange nicht mehr passiert. Die Beichte steht nicht besonders hoch im Kurs. Ich glaube, das liegt daran, dass diese Möglichkeit, etwas los zu werden und neu anzufangen, moralisch aufgeladen war. Ich kann mich gut an meine erste Beichte erinnern. Damit wir Erstkommunionkinder uns darauf vorbereiten konnten, hat uns der Pfarrer in der Schule ein Blatt ausgeteilt, auf dem Sünden nach unterschiedlichen Kategorien aufgelistet waren. Da standen Dinge drauf, auf die ich als Neunjähriger nie gekommen wäre.
Die Bibel spricht an verschiedenen Stellen von Umkehr zur Vergebung der Sünden. Sünde ist dabei weniger als moralischer Fehltritt zu verstehen. Der Begriff Sünde beschreibt eher etwas, das mir und meinem Zusammenleben mit anderen im Weg steht. Umkehr bedeutet: Mir ist das aufgefallen und klar geworden und ich gehe Schritte, es zu ändern.
Für mich ist die Beichte ein Gespräch auf Augenhöhe. Da kann sich jemand etwas von der Seele reden. Das ist ein erster Schritt und der ist heilsam, schon allein, weil man sich dabei selbst zuhört. Nach meiner Erfahrung wissen Menschen dann selbst sehr bald, was sie eventuell anders und vielleicht besser hätten machen können. Diese Einsicht darf ich als Priester bekräftigen und ich darf zusagen: Gott ist nicht nachtragend. Ich glaube, Gott freut sich, wenn ich einen Fehler bemerke. Und es ist befreiend, einen Fehler zuzugeben und um Entschuldigung zu bitten.
Es braucht Überwindung diesen Schritt zu gehen und darum habe ich Hochachtung vor dem jungen Mann, der sich mir anvertraut hat. Ich hoffe, unser Gespräch hat ihm gutgetan und er kann umsetzen, was er sich vorgenommen hat.
Für mich war das Gespräch mit ihm ein Anstoß, selbst im Alltag immer wieder den Mut aufzubringen, in mich zu gehen. Es tut gut, Fehler einzugestehen und, wenn nötig, mich zu entschuldigen und neu anzufangen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43011Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
Drei Steinmetze sind dabei, Steine zu behauen. Ein Kind bleibt stehen und fragt: „Was tust du da?“ „Da siehst du doch!“, antwortet der erste Steinmetz, „Ich behaue Steine!“ „Und was tust du da?“, fragt das Kind den zweiten. Der antwortet seufzend: „Ich verdiene Geld, um meine Familie zu ernähren.“ Das Kind fragt schließlich den dritten: „Was tust du?“ Dieser blickt hinauf in die Höhe und antwortet leise: „Ich baue einen Dom!“
Ich habe diese Geschichte[1] der drei Steinmetze einmal bei einer Synode vorgelesen. Die Synode ist unser alt-katholisches „Kirchenparlament“. Da kommen gewählte Abgeordnete aller Gemeinden zusammen und beraten über den Kurs unserer Kirche. Und manchmal sitze ich da und frage mich: „Was tue ich hier eigentlich?“ Zum Beispiel, wenn wir wieder über Amtszeiten sprechen. Oder wieder über den Namen unserer Kirche. Nur damit ich nicht falsch verstanden werde: Demokratische, synodale Beratungen sind für mich unverzichtbar. Es sind nur einzelne Dauerthemen, auf die ich gut verzichten könnte.
Bei solchen Dauerthemen frage ich mich: Warum reden wir schon wieder darüber? Was ist denn das Ziel? Und: Will ich da wirklich hin?
Wieder zu Hause und in der Rolle des Vaters von drei Kindern frage ich mich auch manchmal: „Was tue ich hier eigentlich?“ Kindererziehung ist harte Arbeit. Denn auch hier gibt es Dauerthemen, die nervig und ermüdend sind. Zum Beispiel, wie lange Kinder am Handy hängen dürfen. Aber mit jeder Diskussion, mit jeder Meinungsverschiedenheit und mit jeder Versöhnung kommen wir dem Ziel Schritt für Schritt näher. Das Ziel ist der aufrechte und aufrichtige Mensch, der seinen Platz findet.
Natürlich fragen wir uns, als Eltern, immer wieder, ob wir tatsächlich auf dem richtigen Weg sind, ob wir das richtige tun? Und diese Fragen sind wichtig, weil sie uns aus dem Alltagstrott herausreißen und uns dabei helfen, uns auf das auszurichten, was uns wirklich wichtig ist.
Daran orientiere ich mich auch auf der Synode. Ich bin dort nicht wegen der Tagesordnung, sondern weil ich glaube, dass Kirche ein Ort sein kann, an dem Menschen zu sich finden und aufblühen. Das ist mein Dom. Und dafür lohnt sich jeder einzelne Stein.
[1] Andere Zeiten e.V., Typisch! Kleine Geschichten für andere Zeiten.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43010Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
Seit ein paar Tagen haben wir bei uns zu Hause zwei neue Mitbewohnerinnen: Zwei winzige griechische Landschildkröten, je 15 Gramm leicht und etwa so groß wie eine Streichholzschachtel. Wenn ich mir die beiden so anschaue, komme ich aus dem Staunen nicht heraus. So klein, so leicht und trotzdem schon so vollkommen und so selbstständig.
Ich weiß nicht genau, wann ich zuletzt etwas so bestaunt habe. Kinder sind darin besser. Uns Erwachsenen geht das oft verloren. Der griechische Philosoph Aristoteles sagt: „Staunen ist der Anfang aller Weisheit.“ Und ich glaube, er hat recht. Jede Wissenschaft lebt davon, dass jemand über etwas staunt und mehr darüber erfahren will. Die Forschung fragt nach dem „Wie?“ und dem „Wodurch?“ Und wo die Forschung mit ihren Fragen an ihre Grenzen stößt, da kommen die Philosophie und die Theologie ins Spiel und die fragen nach dem „Warum?“.
Die erste Schöpfungserzählung in der Bibel ist ein Beispiel dafür. Da staunen Menschen darüber, dass es diese Welt gibt mit der ganzen Vielfalt an Pflanzen und Tieren. Sie staunen darüber, dass der Mensch existiert, dass Sonne, Mond und Sterne da sind und sie fragen sich: Warum existiert diese Erde? Warum existiere ich? Sie vermuten hinter all dem eine größere Macht. Und sie erzählen in poetischen Bildern, dass Gott diese Erde erschaffen hat und dass uns Menschen eine besondere Rolle zugedacht ist. Die Schöpfungserzählung singt ein Loblied über die Welt, über alles Leben und über Gott. Die Bibel will nichts darüber sagen, wie die Erde entstanden ist. Die Bibel fragt philosophisch: Warum gibt es das alles? Und die Antwort lautet: Weil Gott das alles gewollt hat und darum ist alles, was lebt, wertvoll und verdient, dass ich es achte und wertschätze.
Für mich ist diese Antwort wegweisend. Sie prägt meine Sicht auf die Welt, auf das Leben und auf alle Lebewesen. Wir Menschen sind ein Teil der Schöpfung und gleichzeitig mitverantwortlich für sie.
Jenseits der Frage, wie die Erde entstanden ist, will ich mir das Staunen und die Freude über das Leben bewahren. Die zwei kleinen Schildkröten zeigen mir, wie klein manchmal ein Grund zur Freude sein kann.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43009SWR4 Abendgedanken
„Was? Glaubst Du? Wer? Du? Bist?“ Keine Sorge, ich will Ihnen mit dieser Frage nicht zu nahe treten. Diese Frage ist der Titel eines Gesprächskurses, den ich ins Leben gerufen habe. Es geht mir in diesem Kurs darum, Menschen mit sich selbst in Kontakt zu bringen. Wir sprechen über das, was wir hoffen und glauben. Wir tauschen uns aus über unsere Sorgen, aber natürlich auch über das, was uns Spaß macht. Wir erzählen uns, was uns umtreibt und ich stelle immer wieder fest, wie gut das tut.
Bei einem dieser Gespräche sind wir bei der Frage gelandet: Was ist Gott eigentlich? Ein höheres Wesen? Die Schöpferin des Lebens? Allmächtig? Oder ist Gott nur eine Wunschvorstellung?
Ich sage es gleich: Ich weiß es nicht. Und wenn jemand behauptet zu wissen, was Gott ist, dann rate ich zur Vorsicht. Die richtige Antwort kennt niemand, nur Gott, wenn es ihn gibt.
Ich hoffe natürlich, dass es Gott gibt, dass Gott etwas mit mir zu tun hat, mit dieser Welt und mit allen Geschöpfen. Ich hoffe, dass Gott uns verbunden ist und dass an dieser Verbindung nicht einmal der Tod etwas ändern kann. Das alles hoffe ich. Aber wissen tue ich es nicht.
Ich weiß nur: Der Gedanke an Gott tut mir gut. Das Reden über Gott auch. Und manchmal sogar das Gespräch mit Gott, das Gebet. Ich glaube, dass wir Menschen alle gleich sind, weil wir einen gemeinsamen Ursprung haben. Ich finde den Gedanken gut, dass kein Mensch etwas leisten muss, um wertvoll zu sein. Manchmal fühle ich, dass da mehr ist als das, was ich sehen und beweisen kann. Und mich tröstet die Vorstellung, dass der Tod nicht einfach alles auslöscht, sondern wie eine Tür ist, durch die wir gehen, um anzukommen beim Ursprung und Ziel aller Dinge, bei Gott.
Das alles sind keine allgemeingültige Antworten auf die Frage: Was Gott ist? Es ist meine persönliche Antwort und es kann gut sein, dass die sich im Lauf der Zeit verändert. Ich bleibe ja auch nicht immer derselbe. Aber die Frage nach Gott bleibt. Es ist die Frage nach dem, was mich trägt.
SWR4 Abendgedanken
Im Eingangsbereich unserer Kirche werden Menschen manchmal handgreiflich. Da steht ein Regal, in dem mehrmals in der Woche duftendes Brot liegt, Gemüse und Obst. Was in Supermärkten oder in Bäckereien übrig bleibt und nicht mehr verkauft werden kann, das landet unter anderem bei uns, im Fairteiler. Hier soll es kostenlos und fair geteilt werden – das ist die Idee hinter dem Fairteiler.
Leider klappt das nicht immer. Wenn Menschen handgreiflich werden, sich gegenseitig zur Seite stoßen und alles zusammenraffen, was sie kriegen können, dann ist das in meinen Augen egoistisch. Gleichzeitig zeigt es natürlich auch die Not, die Menschen zu solchem Verhalten antreibt.
Ist sich jeder selbst der Nächste, oder wollen wir solidarisch und fair miteinander umgehen?
Ich weiß, dass es Menschen gibt, die den christlichen Grundsatz der Nächstenliebe für ein Zeichen der Schwäche halten. Wer es zu etwas bringen will, kann nicht auf andere achten, sondern muss sich um sich selbst kümmern, meinen sie.
Ich meine, da liegt ein Missverständnis vor. „Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst.“ So lautet der christliche Grundsatz. Das bedeutet, dass jede und jeder natürlich erst einmal für sich selbst sorgen soll. Aber eben nicht nur. Es geht darum, auf sich selbst und aufeinander zu achten.
Ich möchte jedenfalls nicht in einer Gesellschaft leben, in der ausschließlich egoistisch gedacht wird. Es gäbe dann bald kein Miteinander mehr, sondern nur noch ein Nebeneinander und irgendwann ein Gegeneinander. Eine schreckliche Vorstellung.
Viel zu oft zeigt sich dieses Gegeneinander in der großen Politik, ob in Kriegen oder in Handelskonflikten. Am Ende verlieren alle dabei.
Das war auch bei unserem Fairteiler so. Weil Menschen handgreiflich wurden, haben wir die Anlieferungen ausgesetzt. Die Regale blieben leer. Niemand mehr konnte sich kostenlos bedienen. Aber wohin mit all den geretteten Lebensmitteln? Unsere Reaktion war nicht die Lösung.
Jetzt suchen wir das Gespräch mit den Menschen, die an unseren Fairteiler kommen. Wir werben dafür, rücksichtsvoll miteinander umzugehen und nur so viel mitzunehmen, dass andere auch etwas bekommen. Ich glaube, Konflikte können wir nie gegeneinander lösen, sondern immer nur miteinander.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42632SWR4 Abendgedanken
Ich will Ihnen von zwei Menschen erzählen, die ich bewundere. Die beiden sind im Ruhestand und pflegen mit zwei Ehepaaren im selben Alter seit vielen Jahren eine enge Freundschaft. Vor einiger Zeit ist eine dieser Freundinnen ganz plötzlich gestorben. Das war für den Ehemann ein Schock. Er hatte die Liebe seines Lebens verloren und stand plötzlich alleine da. Aber auch für die Freunde war dieser Verlust ein tiefer Einschnitt. Von einem Moment auf den anderen war vieles nicht mehr so, wie es war.
In solchen Situationen kann es für Hinterbliebene sehr einsam werden. Nachbarn, Bekannte, sogar gute Freunde melden sich nicht mehr. Sie machen das nicht aus böser Absicht, sondern weil ihnen die Worte fehlen und sie nicht so recht wissen, was sie sagen sollen.
Ich verstehe das gut. Was kann ich sagen? Was soll ich sagen, wenn jemand gerade einen geliebten Menschen verloren hat? Wenn die Situation einfach traurig ist, dann fehlen mir die Worte. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich mich deshalb zurückziehen muss.
Ich kann da sein und den Schmerz mit aushalten. Das ist nicht leicht. Aber es hilft so unglaublich viel.
Genau das habe ich in der Notfallseelsorge erlebt. Auch wenn ich kaum etwas gesagt habe, bedanken sich Angehörige, einfach weil ich geblieben bin und ihnen das gut getan hat. Manchmal zählt Anwesenheit mehr, als jedes gesprochene Wort.
Bei den beiden Menschen, die ich so bewundere, war das auch so. Sie haben sich nicht zurückgezogen. Sie sind Freunde geblieben und haben den Verlust miteinander ausgehalten und sie tun es bis heute. Sie unterstützen einander im Alltag. Sie besuchen sich. Sie laden sich zum Essen ein. Wenn nötig, begleiten sie einander zum Arzt. Und das alles schon seit einigen Jahren. Ich bewundere die beiden für ihren Mut. Den braucht es, um sich einer traurigen Situation zu stellen und sie mit anderen auszuhalten. Ich will mich bei den beiden heute bedanken. Danke, Mama und Papa, dass ihr mir das vorlebt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42631SWR4 Abendgedanken
Mein kleiner Sohn stürzt beim Rennen und schlägt sich das Knie auf. Mich durchzuckt ein Schreck und ich renne zu ihm hin. Schnell ist mir klar: Es ist halb so schlimm. Das heilt wieder. Aber jetzt tut ihm das Knie natürlich weh. So eine Wunde brennt. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Ich trage meinen Sohn ins Badezimmer, wir machen die Wunde sauber und kleben ein Pflaster drauf. Um ihn zu trösten, lege ich meinen Arm um seine Schulter.
In meinem Kopf ist viel los. Aber gesagt habe ich bisher sehr wenig.
Wenn so etwas passiert, dann denke ich im ersten Moment schon manchmal: Pass doch bitte besser auf dich auf. Und manchmal rutschen mir solche Sätze sogar heraus. Aber was bringt das?
Wenn ich mir weh tue, dann will ich auch nicht, dass mir jemand Vorwürfe macht. Ich will, dass sich jemand um mich kümmert. Es heißt zwar, man soll nicht von sich auf andere schließen, aber genau das halte ich in so einem Moment für angebracht. Ich versuche, mich in meinen Sohn hineinzuversetzen und frage mich, was ich mir an seiner Stelle wünschen würde? Und genauso versuche ich mich zu verhalten.
Aber woher kommen eigentlich diese Vorwürfe, die mir im Kopf herumgeistern und manchmal herausrutschen?
Ich glaube, sie sind ein Zeichen dafür, dass ich in so einer Situation für einen kurzen Moment überfordert bin. Und diese Überforderung sucht sich ein Ventil.
Weil ich das inzwischen von mir kenne, habe ich mir angewöhnt, erst einmal wenig zu sagen. Ich bin einfach da. Ich tue das Notwendige. Ich tröste. Das hilft meinem Sohn. Und es hilft mir selbst. Ich überwinde den ersten Schreck und sage nichts, was mir hinterher leid täte.
„Liebe deine Nächsten, wie dich selbst.“ Bestimmt kennen Sie dieses Grundgebot, nachdem Jesus gelebt haben soll.
Wenn ich mich in andere hineinversetze und mir überlege, was ich mir an ihre Stelle wünschen würde, dann – denke ich – komme ich dem nahe, was Jesus gemeint haben könnte und was er mit seinem Grundgebot bewirken wollte: Ich bin meinem kleinen Sohn viel näher. Und darum geht.
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