SWR1 3vor8
„Du hast einen seltsamen Beruf“, hat meine Tochter neulich zu mir gesagt. „Du redest über einen, der gestorben ist und der trotzdem allmächtig sein soll. Das geht irgendwie nicht beides. Jesus ist seltsam.“
Einem Mann namens Nikodemus kam Jesus auch reichlich seltsam vor. Er hat gefragt: „Was hat Gott mit uns und mit dieser Welt vor? Und was hast du damit zu tun, Jesus?“ diese Fragen treiben Nikodemus um. Die Bibel erzählt, dass Nikodemus Jude ist. Er ist auch Mitglied des Hohen Rats in Jerusalem, des höchsten jüdischen Gerichts, das über wichtige religiöse Fragen verhandelt. Aber dann taucht dieser seltsame Jesus auf und gibt allem eine neue Richtung. Es scheint, als würde Jesus Gott besonders nahe stehen.
Nikodemus sucht Jesus darum allein auf, im Schutze der Nacht mit all den Fragen, die ihn schon so lange plagen. Und mit den neuen, die plötzlich in ihm auftauchen (Joh 3). Was Jesus ihm erzählt, klingt wirklich seltsam: „Ich bin das Heilmittel für diese Welt. Wenn ich ans Kreuz geschlagen werde, dann ist das sinnvoll. Denn durch meinen Tod bekommen alle Menschen das ewige Leben.“
Wenn ich das heute, 2000 Jahre später höre, klingt das immer noch höchst seltsam: Dieser Jesus am Kreuz soll das Heilmittel der Welt sein? Einer, der sich nicht gewehrt hat, der sich willig in sein Schicksal ergeben hat? Der alles ertragen hat: Anschuldigungen, Misshandlungen und den Tod am Kreuz? Seltsam.
Das Wort „seltsam“ bedeutet ursprünglich „selten zu sehen“. Und das hat Nikodemus verstanden: Dass dieser Jesus im wahrsten Sinne des Wortes seltsam ist. Dass es nämlich einen wie Jesus äußerst selten zu sehen gibt. Einen, der auf alle äußerliche Macht verzichtet. Einen, der konsequent der Liebe treu bleibt.
Jahre später, als Jesus zum Tod verurteilt wird, bringt Nikodemus den Mut auf, Jesus gegen alle anderen zu verteidigen (Joh 7,50.51). Und nach Jesu Tod hat Nikodemus keine Angst zu zeigen, wie sehr Jesus ihn beeindruckt hat. Er hilft, Jesu Leichnam für die Beerdigung fertig zu machen (Joh 19,39). Obwohl Nikodemus riskiert, selbst verhaftet zu werden, verabschiedet er Jesus so liebevoll und nimmt damit der Gewalt ein Stückchen von ihrer Macht. Ich bekomme eine Ahnung davon, was die seltsamen Worte von Jesus bedeuten. Wie mächtig sein Verzicht auf Macht und Gewalt war. Wie klar die Liebe Gottes durch ihn in die Welt scheint.
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Es ist Freitagmorgen, kurz nach 9 Uhr. Es klingelt und ich kann mir schon denken, dass es ein Obdachloser ist, der vor der Pfarrhaustür steht. Denn die Kleiderstube nebenan ist freitags auch geöffnet, da gibt es einen warmen Pullover oder ein paar gebrauchte Schuhe, wenn die eigenen kaputt sind oder auch einen neuen Schlafsack. Und danach wird dann an der Pfarrhaustür geklingelt und um ein bisschen Geld gebeten.
Und tatsächlich, einer der bekannten Freitags-Kunden steht vor der Tür. Ich gebe ihm die üblichen 4 Euro und auch noch eine Tafel Schokolade und verabschiede ihn. Aber er geht nicht, sondern er fragt: „Könnte ich bitte auch noch eine Tasse heißes Wasser haben?“
Ich wundere mich über diesen Wunsch und antworte: „Ich kann Ihnen auch gerne einen Tee machen. Nicht nur heißes Wasser.“ Er lehnt vehement ab: „Nein. Ich brauche keinen Tee. Ich habe eben von jemandem einen Teebeutel geschenkt bekommen. Jetzt brauche ich nur noch heißes Wasser. Das reicht.“
Er bekommt von mir, was er braucht, und trinkt seinen Tee auf einer Bank auf dem Platz vor unserem Haus. Danach klingelt er noch mal und bringt mir die Tasse zurück. Die braucht er nämlich auch nicht.
Mich beschäftigt diese Begegnung noch. Denn mich hat das beeindruckt. Dieses ganz konkrete Bitten, nur um das, was er wirklich gerade braucht. Der Mann an meiner Tür war ein Bedürftiger. Aber ein sehr bescheidener Bedürftiger. Er wollte mir nichts Unnötiges abbetteln – noch nicht mal einen kleinen Teebeutel. Und genau damit hat er es mir so leicht gemacht.
„Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan.“ (Lukas 11,9)
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Jeden Morgen bin ich ihr begegnet in unserer Straße. Ich, mit meinem Sohn auf dem Weg in die Kita, sie auf dem Weg zum Bäcker.
Sie ist eine sehr alte Dame, sie geht langsam und gebückt. Man merkt, dass ihr das Gehen schwerfällt. Und dann schaut sie auf, sieht mich an, lächelt, und sagt nicht nur einfach „Guten Morgen“, sondern sie hat jeden Tag einen netten Satz für mich. Übers Wetter: Wie strahlend der Morgen ist oder wie frisch der Wind die Straße hoch weht. Oder darüber, dass mein Sohn wieder ein Stückchen gewachsen ist. Oder auch einfach, wie schön es ist, mich zu sehen. Nie hält sie mich auf, nie will sie lange reden. Sie sagt einfach „Guten Morgen“ und einen freundlichen Satz dazu.
Irgendwann habe ich Sie darauf angesprochen. Auf ihren Gruß und darauf, wie gut mir ihr freundlicher Satz am Morgen tut. Wie sehr ich mich darauf freue jeden Morgen, wenn ich aus dem Tor auf die Straße trete. Wie sehr sie mit wenigen Worten meine Laune verbessert.
„Frau Pfarrer“, sagt sie zu mir, „so macht man das doch! Steht schon in der Bibel“
Ich schaue sie fragend an.Freundlich verrät sie mir: „Ein Wort, geredet zur richtigen Zeit, ist wie goldene Äpfel auf silbernen Tellern.“ (Sprüche 25,11)
Den Bibelspruch kenne ich tatsächlich nicht und die alte Dame übersetzt ihn mir auch gleich noch: „Oder wie wir in Rheinhessen sagen: Einen guten Tag und ein gutes Wort.“
So bestechend einfach ist das. Nicht nur grüßen, sondern dazu noch einen netten Satz finden für den anderen. Bei mir hat es jedenfalls funktioniert: Einen guten Tag und ein gutes Wort. Eine Weisheit, die schon in der Bibel steht, und heute genau so stimmt: „Ein Wort, geredet zur richtigen Zeit, ist wie goldene Äpfel auf silbernen Tellern.“ (Sprüche 25,11)
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„Lieber eine Schüssel Kraut mit Liebe als der schönste Braten, übergossen mit Hass. (Sprüche 15,17) Den möchte ich als Konfirmationsspruch haben.“ sagte vor Jahren ein Konfirmand zu mir und ich musste erst einmal nachfragen: „Wie heißt der Spruch?“
„Lieber eine Schüssel Kraut mit Liebe als der schönste Braten, übergossen mit Hass.“ wiederholt er geduldig. „Sie haben doch gesagt, dass wir uns jeden Spruch aus der Bibel als Konfirmationsspruch aussuchen dürfen.“
Es ist nicht mein Lieblingskonfirmand. Er ist mir bis jetzt nicht aufgefallen dadurch, dass er sich besonders engagiert hat im Konfirmandenunterricht. Es ist einer von den coolen Jungs – coole, teure Kleidung und Schuhe von den angesagten Marken – er lässt nichts und niemanden an sich ran. Deshalb bin ich mir nicht so ganz sicher, ob er es ernst meint mit diesem Spruch oder mich damit herausfordern will.
„Bist du dir sicher?“, frage ich, „Alle hören den, wenn er vorgelesen wird in der Kirche bei Deiner Konfirmation.“
„Ja, alle sollen das hören. Besonders meine Eltern!“ platzt es aus ihm heraus.
Und er fängt das erste Mal an zu erzählen, von sich und seiner Familie. Von zu Hause, wo er alles bekommt, was er sich wünscht. Wo schon immer Geld für alles da ist, wo aber die Liebe zwischen seinen Eltern verloren gegangen ist. In Hass umgeschlagen ist. Sie lassen sich scheiden. Und er wird zerrieben zwischen den Fronten, fühlt sich hin- und hergezogen. Er will all die Geschenke gar nicht mehr. Er sehnt sich einfach nach Frieden zwischen den Eltern. Und das will er ihnen bei seiner Konfirmation sagen, vor Gott, in der Kirche.
„Lieber eine Schüssel Kraut mit Liebe als der schönste Braten, übergossen mit Hass.“
Innerlich leiste ich Abbitte über mein Urteil zu diesem Jungen und staune über ihn, der sich so viele Gedanken gemacht hat zu seinem Konfirmationsspruch. Und der sich als Jugendlicher in der Bibel wiederfindet – mit seinen Nöten, Sorgen und Fragen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41616SWR1 Begegnungen

16 Jahre lang war Volker Jung der Kirchenpräsident der EKHN, der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, zu der auch ein Teil von Rheinland-Pfalz gehört. Im Januar ist er in den Ruhestand verabschiedet worden. Ich treffe ihn, um mit ihm gemeinsam zurück- und vorausblicken.
Schon in seiner Zeit als Gemeindepfarrer und Dekan im Vogelsberg war Volker Jung auch kirchenpolitisch engagiert. Und als 2008 ein neuer Kirchenpräsident gewählt werden sollte, da meinte seine Tochter: „Wenn du gefragt wirst, dann musst du es versuchen!“ Als neuer Kirchenpräsident ist er nach Darmstadt umgezogen – ein Wechsel mit Konsequenzen für die ganze Familie:
Die Belastungen in diesem Amt, auch die terminlichen Belastungen, die sind doch erheblich. Da mussten wir dann schon einen Weg finden, miteinander umzugehen. Für meine Frau war das auch nicht so einfach, die auch berufstätig war, und die gesagt hat: „Ich muss mich da neu darauf einstellen.“, die damals, ähm, nicht so gerne nach Darmstadt gegangen ist und heute aber an einem Punkt ist, dass sie sagt: „Ach jetzt würde ich am liebsten in Darmstadt bleiben.“
Vorsitz der Kirchenleitung, Finanzplanung, Sitzungen, Repräsentation… Trotz der Fülle an neuen Aufgaben hat Volker Jung Mit einem großen Vorsatz sein Amt damals angetreten:
Ich hab damals mit meiner Aussage in der Synode: „Ich will als Pfarrer Kirchenpräsident werden und als Kirchenpräsident Pfarrer bleiben“, versucht zu zeigen, dass das Pfarrer-Sein für mich eine Grundhaltung bedeutet. Und deshalb habe ich immer Wert darauf gelegt, in Gottesdiensten zu predigen, in Gemeinden zu sein, wenn ich eingeladen wurde, oft bei Jubiläen und Festen und dort auch mit Menschen zu reden und nahbar zu sein.
Und das Gespür dafür nicht zu verlieren, was die Menschen an der Basis bewegt. Volker Jungs Amtszeit war geprägt von den vielen Krisen, die in den vergangenen Jahren von außen auf die Gesellschaft und damit auch auf die Kirche zukamen, auf die er als Kirchenpräsident natürlich reagieren musste:
Damals, als ich anfing, war gerade die Finanzkrise das große Thema, die Weltfinanzkrise. Und dann kam kurz darauf Fukushima, der Ausstieg aus der Atomenergie. Das sind so die großen politischen Ereignisse. Immer war das Thema Aufnahme von Flüchtlingen, Migration und Integration ein großes Thema. Das reicht bis hin zur Corona-Pandemie, die uns vor Herausforderungen gestellt hat, die wir bisher überhaupt nicht im Blick hatten.
Für Volker Jung hat das bedeutet: Im Gespräch zu bleiben mit Verantwortungsträgern, Hilfsangebote für Geflüchtete zu schaffen, gemeinsam Wege zu suchen gegen Vereinsamung während Corona. Für Volker Jung eine herausfordernde Zeit, aber auch eine, die ihn persönlich sehr bereichert hat. Und obwohl ihn sein Amt so manches Mal an seine Grenzen gebracht hat, sagt Volker Jung heute:
Es hat mir aber auch unglaublich viel gegeben. Viele, viele Begegnungen. Es hat mir noch mal neue Horizonte geöffnet. Ich habe Kirche noch einmal anders verstanden, denken müssen auch aus der leitenden Funktion heraus und hab unglaublich viele spannende, interessante Menschen kennengelernt. Das möchte ich unbedingt behalten. Und das hat mich sicher auch verändert. Aber es hat mir noch mal die Fülle unserer Kirche gezeigt, die ich dadurch auch noch einmal auf eine andere Weise liebgewonnen habe.
Ich habe Volker Jung gefragt, ob das Amt als Kirchenpräsident seinen Glauben verändert hat, ihn manchmal vielleicht sogar auf die Probe gestellt hat:
Das ist für mich ganz schwer zu sagen, weil mit dem Amt auch natürlich bestimmte Aufgaben verbunden sind mit dem Amt auch bestimmte Erfahrungen, auch bittere Erfahrungen, auch der Blick in manchen Abgrund, auch in der Kirche. Das hat wehgetan und tut weh und stellt auch wirklich den Glauben auf die Probe. Es bedeutet immer, sich neu auf Gott auszurichten und auch Gott darum zu bitten, in solchen Situationen Kraft und Halt zu bekommen. Das habe ich, soweit ich es für mich selber sagen kann, zum Glück nicht verloren.
Sich den Abgründen stellen, Fehler und Verfehlungen – wie den Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Kirche - aufarbeiten und Konsequenzen ziehen für die Zukunft – das gehört für Volker Jung zum Amt eines Kirchenpräsidenten oder einer -präsidentin. Seiner Nachfolgerin, Christiane Tietz, die seit Jahresbeginn dieses Amt inne hat, wünscht er dafür die nötige Kraft und Weitsicht.
Ich wünsche meiner Nachfolgerin Christiane Tietz, die ich wirklich sehr schätze, dass sie in diesem Amt immer Wege findet, aus der theologischen Arbeit heraus auch Impulse in diese Kirche hineinzugeben. Und dass sie dabei selbst auch eine Erfüllung für sich findet. Und dann wünsche ich ihr auch viele Menschen, die mit ihr zusammen diese Kirche leiten, diese Kirche gestalten.
Als Kirchenpräsident hat sich Volker Jung in den Ruhestand verabschiedet. Aber Pfarrer zu sein, das ist seiner Überzeugung nach eine Lebenshaltung. Deshalb wird sich Volker Jung auch im Ruhestand weiter engagieren. Und wünscht seiner Kirche für die Zukunft,
dass das, was sie, glaub ich, wirklich auszeichnet, das gute Zusammenspiel von hauptamtlich und ehrenamtlich engagierten Menschen, dass das weiter gepflegt wird und dass das dann auch neue Kraft entfaltet. Für die nächsten Jahre und Jahrzehnte.
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Mose ist ein Prophet. Aber das war er nicht von Anfang an. Wie er das wurde, davon erzählt uns die Bibel. Mose lebt zu der Zeit, in der die Israeliten in Ägypten versklavt sind. Er erträgt das Leid seiner Landsleute nicht und erschlägt vor Wut darüber einen ägyptischen Sklavenaufseher. Und daraufhin muss er fliehen – muss weg aus Ägypten und flieht in die Wüste. Dort hütet er Ziegen und Schafe, zieht durch sandige und staubige Landschaften im Nirgendwo. Und hat dabei das Gefühl, dass auch er versandet; dass er nicht mehr weiß, in welche Richtung es gehen soll für ihn und sein Leben. Aber genau dort irgendwo im Nirgendwo hat Mose eine beeindruckende Begegnung. Ja, es ist wohl die Begegnung seines Lebens, erzählt die Bibel:
Mose ist allein unterwegs in der Steppe. Da sieht er, wie ein Dornbusch lichterloh in Flammen steht - und trotzdem nicht verbrennt. Mose will da näher dran. Aber Gott hält ihn zurück: „Zieh erst mal Deine Schuhe aus.“, befiehlt er: „Du betrittst hier heiligen Boden, meinen Bereich.“
Mose begegnet also Gott selbst - aber warum er deshalb seine Schuhe ausziehen muss, das leuchtet mir nicht sofort ein. Andererseits - ich würde ja auch nicht mit meinen schmutzigen Gartenschuhen zu einer wichtigen Verabredung gehen. Oder in die Kirche zum Gottesdienst. Eine wichtige Begegnung verdient es, dass ich nicht den Staub und den Schmutz von dem, was hinter mir liegt, an den Füßen mitschleppe.
So ist es auch bei Mose: In dem Moment, in dem Mose Gott begegnet, verlässt er seinen bisherigen Alltag. Und was er bei diesem Zusammentreffen erlebt, das richtet sein Leben völlig neu aus. Gott gibt ihm eine Richtung: Im Namen Gottes soll er zum Propheten werden, zum Anführer für sein Volk. Er soll die Israeliten aus Knechtschaft und Unterdrückung in Ägypten befreien. Das ist die neue Richtung für sein Leben. Sein neuer Alltag, dem er „begegnet“ bei der Begegnung seines Lebens.
Und für diesen neuen Alltag muss Mose seine Schuhe auch wieder anziehen. Er braucht gutes Schuhwerk. Denn auch die neuen Wege werden staubige Wege sein. Aber er weiß jetzt, dass es Gott ist, der ihn auf diese Wege geschickt hat. Die Wege werden deshalb nicht leichter, aber sie bekommen Sinn und Ziel. Und auf ihnen liegt Gottes Versprechen: „Ich bin bei dir. Zieh deine Schuhe an und geh los!“
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41510SWR1 3vor8
Kaum geboren, schon auf der Flucht. Das ist keine schöne Geschichte, aber sie gehört zu Weihnachten dazu. Sie passt so gar nicht zur Festtagsstimmung, zur ruhigen Zeit „zwischen den Jahren.“ Aber so geht die Weihnachtsgeschichte nun mal weiter: Gerade erst ist Jesus geboren und wurde begrüßt als ein ganz besonderes Kind. Sogar Könige aus fernen Landen machten sich auf und beteten dieses Kind an. Doch kaum ist der hohe Besuch aus dem Morgenland wieder gegangen, da muss der Säugling mit seinen Eltern vor König Herodes fliehen. Denn der sieht in ihm einen gefährlichen Konkurrenten und will ihn ausschalten. Herodes setzt all seine Macht ein und befiehlt, alle neugeborenen Kinder rund um Bethlehem zu töten. Da packt Josef seine kleine Familie auf einen Esel und flieht mit Frau und Kind nach Ägypten.
Ist die Geschichte genau so passiert? Ich weiß es nicht. Aber das ist auch nicht wichtig. Wichtig ist, dass sie so typisch ist für Jesus und sein Leben. Denn genauso wie am Anfang ist es ihm auch am Ende des Lebens ergangen: Erst wird er groß gefeiert und danach wird es lebensgefährlich. Am Anfang seines Lebens: Seine Geburt, zwar in einem armen Stall, aber, ein großer Engelschor und ein heller Komet, der den Königen den Weg gezeigt hat und auch noch kostbare Geschenke: Gold, Weihrauch, Myrrhe. Und dann: die Todesdrohung, die Flucht, Hals über Kopf in die Fremde. Und am Ende seines Lebens wieder das Gleiche: Der glorreiche Einzug in Jerusalem, zwar auf einem Esel, aber gefeiert vom Volk als Star, mit rotem Teppich und Hosianna-Rufen. Und kurz darauf: Verhaftung und Verurteilung durch Pontius Pilatus und der Tod am Kreuz.
Ja, typisch Jesus: Er hat sich nie beeindrucken lassen vom Jubel der Menschen. Er hat sich aber auch nicht beeindrucken lassen von denen, die meinen, die Welt zu beherrschen. Er ist Machtspielen aus dem Weg gegangen, denn er wollte sie ja gar nicht haben, diese Macht. Er ist einfach seinen Weg gegangen auf dieser Welt. Weil er genau wusste, wer wirklich Macht hat am Ende. Und er nimmt uns gerne mit auf diesen Weg, der an Weihnachten beginnt. Er hat uns nicht versprochen, dass es ein einfacher Weg ist. Aber es ist auf jeden Fall einer der sich lohnt, denn es ist ein guter Weg: Gottes Weg mit uns Menschen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41202Anstöße SWR1 RP / Morgengedanken SWR4 RP
Auf dem Platz vor unserem Pfarrhaus werden die Kastanien langsam reif. Die grünen Stachelhüllen sind prall gefüllt und platzen langsam auf. Die Grundschulkinder, die jeden Tag auf ihrem Schulweg über den Platz laufen, können das kaum erwarten. Sie warten nicht, bis die Kastanien von selbst runterfallen. Sie nehmen Stöcke und ihre Turnbeutel, werfen sie in den Baum und hoffen, sie so zu erbeuten. Die Kinder sind eifrig bei der Sache, geben nicht so leicht auf und jubeln über jede Kastanie, die sie schließlich in den Händen halten.
Und wenn es dann endlich so weit ist, dass die Kastanien von selbst von den Bäumen prasseln, dann ist die Aufregung und die Freude bei den Kindern jeden Morgen groß. So schnell wie möglich wird das kostbare Gut eingesammelt und die Schätze in die Taschen gestopft.
Ich beobachte das Treiben auf dem Platz und denke: Ja, am Anfang sind sie wunderschön, die Kastanien. Sie glänzen in allen Brauntönen und wenn man sie in die Hand nimmt, dann fühlen sie sich ganz glatt an und auch ein bisschen kühl. Aber ich weiß es ja aus langjähriger Erfahrung: Schon nach wenigen Tagen werden sie ganz matt und schrumpelig sein. All die Schönheit ist so schnell dahin.
Die Kinder lassen sich von dieser Vergänglichkeit nicht beeindrucken. Sie sehen das, was jetzt ist. Sie sehen den wunderschönen, glänzenden Schatz. Vielleicht ist es das, was der Apostel Paulus meint, wenn er sagt, dass wir Gottes Herrlichkeit, diesen Schatz, immer nur in zerbrechlichen Gefäßen haben (2. Korinther 4,7). Alles hier auf dieser Erde ist vergänglich, alles und alle werden alt und schrumpelig, stumpf und faltig. Und trotzdem steckt in allem Gottes Herrlichkeit. Und wir können sie erkennen in einer einzigen Kastanie. Ich hebe eine Kastanie auf, freue mich über ihre Schönheit und stecke meinen Schatz in die Tasche.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40697Anstöße SWR1 RP / Morgengedanken SWR4 RP
Es ist Nieder-Ingelheimer Kirchweih. Kerb – wie wir in Rheinhessen sagen. Und dazu gehört die ökumenische Eröffnung der Kerb am Freitagabend. Ein Lied wird bei der Eröffnung der Kerb auch immer gesungen. Und das eine Kirchenlied, das alle kennen, ist: Danke für diesen guten Morgen. Und weil es Abend ist, abgeändert in: Danke, für diese Abendstunde, danke, für den vergangenen Tag…
Nachdem die Kerb damit offiziell eröffnet ist, gehen wir über zum gemütlichen Teil des Abends. Alle verteilen sich über den Kerbeplatz. Es wird getrunken, gelacht, erzählt und plötzlich fängt eine an zu singen. Ich erkenne die Melodie sofort, es ist das Danke-Lied von eben aus unserer Andacht. Aber mit einem etwas abgeänderten Text: Danke für diese Kerbetage, danke für all den guten Wein, danke, für all die netten Leute und’s Zusammen sein.
Zuerst stutze ich, aber dann freue ich mich darüber, dass sich die Melodie offensichtlich als Ohrwurm in die Köpfe geschlichen hat und der Text so passend zum Anlass weiter gedichtet wird. Denn genau so ist das Danke-Lied entstanden: Mitten aus dem Leben heraus. Die Vorlage zu diesem Lied ist ein Gebet aus dem Jahr 1961. Es kommt aus Frankreich: dort gab es zu dieser Zeit Priester, die in Fabriken gearbeitet haben, um deutlich zu machen: Gott ist mitten im Leben dabei, nicht nur sonntags in der Kirche. Diese Arbeiterpriester haben das Leben mit den Fabrikarbeitern geteilt und das kann man in dem Gebet hören:
Danke Gott, für alles, was mich wach gemacht hat, für die Seife, die so gut riecht, für die erfrischende Zahnpasta. Dank für die Kleider, die mich bedecken, für ihre Farbe und ihren Schnitt. Dank für die Nahrung, die mich gestärkt hat… Einfach Danke, Gott, für all Deine Spuren, die ich in meinem Alltag entdecken kann… und auf der Kerb eben Danke für all den guten Wein. Danke, dass unser Alltag und unsere Festtage nicht gottlos sind.
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Im Ingelheimer Winzerkeller habe ich vor einiger Zeit eine Entdeckung gemacht, die mich begeistert hat: da sind eine ganze Reihe große Weinfässer ausgestellt. Das Besondere daran ist, wie aufwändig die Fassdeckel gestaltet sind.
Da finden sich für jedes einzelne Erntejahr ein geschnitztes Motiv und ein Jahresreim, so wie dieser: „1964 war ein Sonnenjahr, die Reben blühten wunderbar. Die Trauben waren kerngesund. Der Wein ist köstlich in aller Mund.“ Und zwischen Weinranken und Trauben schaut die Sonne hervor, die alles hat wachsen und reifen lassen.
Aber es gab auch andere Jahre. Zum Beispiel steht auf dem Deckel des Jahres 1961: „Mäuse und Schädlinge groß und klein, die zerstörten 1961 sehr viel Wein.“ Am Rebstock hängen nur ein paar verdorrte Blätter, aber umso mehr Tiere tummeln sich in den Zwischenräumen.
Jedes Jahr hat seinen eigenen Fassdeckel bekommen, mochte es gewesen sein, wie es wollte. Was für ein wunderbarer Brauch! So will ich es auch machen:
Alles, das Schöne und das Traurige, all die Ernte, die ich eingefahren habe, lege ich hinein in mein Fass und setze dann den Deckel drauf. Ich verschließe, was gewesen ist und lasse es ruhen.
Ich gebe es damit aus meinen Händen und lege alles, was war, in Gottes Hand. Ihm überlasse ich das Reifen und nehme ein altes Erntedanklied ernst: Da heißt es über Gott: "Er wickelt seinen Segen gar zart und künstlich ein".
Ich stelle es mir genau so vor: Dass Gott mein Fass mit seinem Segen umwickelt, damit die Ernte wirklich gedeihen und reifen kann. So kann ich das Gute erkennen und auch das Schwere bekommt seinen Platz in meinem Leben. Alles ordnet sich zu einem Bild und schließlich kann ich Danke sagen. Danke, Gott, du hast mich so reich beschenkt.
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