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SWR1 Begegnungen

01JAN2021
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Dorothee Wüst

Annette Bassler trifft Dorothee Wüst, designierte Präsidentin der evangelischen Kirche der Pfalz

Aufbruch
Ein erfülltes und gesegnetes Neues Jahr wünschen wir Ihnen! Und nach dieser stillen Silvesternacht einen hoffnungsfrohen Neuanfang. Dass aus all den Sorgen und Entbehrungen der letzten Wochen etwas Gutes erwächst. Vielleicht sogar neues Leben aufblüht. Dorothee Wüst hat in ihrer Kirche- der evangelischen Kirche der Pfalz- schon seit Wochen einen Neuanfang wahrgenommen.

Als Kirche sind wir eigentlich krisenerprobt seit Jahrtausenden. Und wir haben immer die Erfahrung gemacht, dass, wenn Krisen die Menschen beuteln, dann kommen sie zu uns, suchen Nähe und Gemeinschaft. Und genau das war dann nicht möglich. Das heißt, ich glaube, wir haben uns im vergangenen Jahr da auch ein Stück weit neu erfinden müssen. Und ich finde, an vielen Stellen ist uns das auch gar nicht schlecht gelungen.

Vielleicht haben Sie auch die Gottesdienste über die Feiertage geschätzt. Die im Internet, in Radio oder Fernsehen. Online- Andachten, Zoom- Diskussionsrunden- Kirche war kreativ digital. Und mehr noch:

Also an vielen Stellen ist Kirche, ist Gemeinde nach draußen gegangen, ist auf die Straßen gegangen, auf Felder gegangen, ist in Ställe gegangen, in den öffentlichen Raum. Und das finde ich, ist was Gutes, was wir als Kirche auch gelernt haben aus Corona. Kirche findet nicht nur drinnen statt, sondern Kirche muss auch im öffentlichen Raum sichtbar werden.

Zu Leuten reden, die sonst nix mit Kirche am Hut haben, das gehört für Dorothee Wüst seit über zwanzig Jahren zum Alltag als Pfarrerin. Wo sie das gelernt hat, na klar!

Ich habe es an meinen Kindern gelernt. Also ich finde Kinder erden ganz ungemein. Und wenn ich denen einen Text von mir vorlese und sehe nur in Fragezeichengesichter, dann weiß ich: das war nix. Also, das muss man auch mal überarbeiten, weil es sonst keiner versteht. Ich habe es zum Beispiel auch in der Rundfunkarbeit gelernt. Wenn man in SWR3 in Beitrag produziert, den die Leute nicht verstehen, dann kriegt man ganz klar gesagt: das war nix.

Und jetzt hat auch ihre Kirche einen Neuanfang gewagt. Ab kommendem März wird Dorothee Wüst ihr Amt als Kirchenpräsidentin antreten. Die erste Frau in diesem Amt im gesamten Südwesten. Dabei sind es erst 62 Jahre her, dass Frauen zur Pfarrerin ordiniert werden durften. „Pfarrer im Sinn des Dienstrechtes ist auch die Pfarrerin“, so die damalige Dienstordnung. Mich freut, wie realistisch und souverän Dorothee Wüst mit den heutigen Geschlechterklischees umgehen kann.

Also eine Chance liegt bestimmt darin, dass man einem als Frau auch Fähigkeiten zutraut wie: zuhören können, wahrnehmen können, Gefühl zeigen können.  Was manchmal schwieriger ist: Wenn man als Frau mal so auf den Tisch haut, dann wird das schnell auch merkwürdig beäugt. Dann geht das schnell so in die Richtung von Hysterie, wo man bei einem Mann vielleicht sagen würde, der hat jetzt aber mal klar seine Meinung gesagt.

Und Dorothee Wüst tut das auch. Sie hat ein Zukunftsbild von Kirche im 21. Jahrhundert. Ideen und Visionen, die sie umsetzen will.

Weg der Barmherzigkeit

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist.“ Das ist die Losung der evangelischen Kirche für das Jahr 2021. Dorothee Wüst- ab März die erste Kirchenpräsidentin im Südwesten, findet „barmherzig sein“ ungemein alltagstauglich.

Barmherzig sein finde ich, kann eigentlich jeder. An vielen Stellen im Evangelium kriegen wir ja gute Botschaften gesagt, wo man erst mal so ein bisschen Schnappatmung kriegt im Sinne von:  du, lieber Himmel. Was für ein Anspruch, das schaffe ich nicht. Aber barmherzig sein, das kann im Prinzip jeder und auch jeder in seinem persönlichen Umfeld.

Barmherzig sein heißt aber auch, ein bisschen über seinen eigenen Schatten springen wollen.

Ich muss mein Gegenüber wahrnehmen. Und unter Umständen ist der in der Situation, die ich nicht gut finde. Tut Dinge, die ich nicht gut finde. Aber ich erkenne bei meinem Gegenüber eine Not und die ist vorrangig. Und ich wende mich spontan dieser Not zu. Das ist für mich Barmherzigkeit.

Dorothee Wüst hat viel Erfahrung als Pfarrerin in der Gemeinde und in der Kirchenleitung. Als ich sie nach sowas wie einem „10 Punkte Plan“ als Kirchenpräsidentin frage, sagt sie, dass sie genau das nicht will. Ansagen machen, denen andere folgen sollen. Sie will in ihr Amt erst mal eine andere Haltung einbringen. Und dazu auch andere verlocken.

Eine Haltung, frei denken zu dürfen, kreativ sein zu dürfen, innovativ sein zu dürfen. Und tatsächlich ja, in einer gemeinschaftlichen Art und Weise zu gucken, wie wir das Schiff, das sich Gemeinde nennt, in die Zukunft schaukeln können.

Vielleicht hat das auch mit dem Frausein zu tun. Unsre Mütter haben das in der Familie vorgelebt. Haben dafür gesorgt, dass alle sich entwickeln können, dass kein Kind übersehen und alleingelassen wird. Haben dafür sich selber lieber erst mal zurückgenommen. Um der Gemeinschaft willen. Diese Haltung wünscht sich Dorothee Wüst auch zwischen den Kirchenengagierten und den eher Kirchenfernen.

Wenn man wirklich auf das hören will, was andere Menschen bewegt und was sie anspricht, kann das unter Umständen auch heißen, mich in Teilen von dem verabschieden zu müssen, was mir lieb und teuer ist. Das geht halt einher mit Veränderung.

Vielleicht ist die Zeit wirklich reif, dass wir uns nicht mehr auseinanderreden, sondern zusammenreden. Uns auf die Welt des Anderen einlassen, sie wahrnehmen ohne sie gleich zu bewerten. Das bedeutet auch Verzicht auf lieb gewordene Gewohnheiten. Verzicht auf das „ich zuerst“. Um der Gemeinschaft willen. Für Dorothee Wüst eine Vision, die mit Barmherzigkeit zu tun hat.

Für jeden Einzelnen ist es eine Wohltat, wenn er sich aufgehoben fühlen kann in einer solidarischen Gemeinschaft. Dazu gehört aber auch, dass ich die Menschen um mich herum wahrnehme, mit denen ich Gemeinschaft sein kann. Und das wäre, glaube ich, so mein Wunsch für das Jahr 2021, dass es uns gelingt, mit Gottes Hilfe und mit dem, was wir mit Herz und Seele zu bieten haben, tatsächlich solidarische Gemeinschaft zu sein.

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SWR1 Begegnungen

06DEZ2020
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Hartmut Rosa © juergen-bauer.com

Annette Bassler trifft Prof. Hartmut Rosa, Professor für Soziologie an der Universität Jena

Advent als Herausforderung
Unser Alltag wird immer schneller. Und das hat Folgen: uns kommen dabei berührende Begegnungen und sinnerfüllte Momente abhanden. Wir verlieren die „Resonanz“ mit anderen- so der Titel seines Buches. Und jetzt kommen durch Corona auch noch Kontaktbeschränkungen dazu. Deshalb kann ich mit dem Professor für Soziologie in Jena nur telefonieren. Was mich doch ein bisschen wehmütig macht. Hartmut Rosa findet dafür kluge Worte

Was da verloren geht ist das, was wir „Ko-präsenz“ nennen. Gemeinsam in einem Raum zu sein bedeutet: ein gemeinsames Bewusstsein der Atmosphäre da drin zu haben, der Luft, der Geräusche, also man teilt eine Situation und wenn ich mit Ihnen über einen Bildschirm rede, dann teile ich nicht die Situation gerade nicht, was mich gerade dazu zwingt, die Situation auszublenden. Die Ermüdung, die daraus hervorgeht, zeigt uns deutlich, dass wir leibliche Wesen sind.

Das habe ich mir gar nicht so klar gemacht. Ich habe nicht nur einen Körper, den ich fit halten muss. Ich bin auch Körper. Und der prägt mein Lebensgefühl und mein Denken. Deshalb muss ich mehr als sonst auf mein seelisches Gleichgewicht aufpassen. Auch ohne Angst vor Jobverlust. Woher sie kommt, unsere Lebensenergie, darüber denkt Hartmut Rosa schon eine Weile nach.

Ich unterrichte grade zur Frage „kann man das auch als soziale Eigenschaft denken“, nämlich im Hinblick darauf, dass Energie entsteht in der Interaktion, in der Begegnung mit Menschen, im gemeinsamen Tun. Dann ist Energie nicht meine Energie oder Ihre Energie, sondern es ist etwas, was zwischen uns entsteht.

Immer wieder erlebe ich das. Wie die Funken sprühen, wenn ich mit anderen über ein Problem nachdenken. Energie zwischen uns. Arbeit, die belebt. Vielleicht müssen wir in Zukunft das „Miteinander“ noch viel wichtiger nehmen als bisher. Hartmut Rosa ist überzeugt:

Ohne Interaktion, ohne aktive Begegnung, die immer auch ein leibliches Moment hat- wir sind leibliche Wesen- ohne die können wir dauerhaft nicht existieren. 

Aber- zum Glück gibt es in gewisser Weise auch Ersatz für die leibliche Begegnung. Hartmut Rosa wollte mit mir telefonieren. Lieber als per Video reden.

Darüber hinaus ist es so, dass wir dieses Moment der Berührung auch anders kennen, mit Haustieren zum Beispiel oder eben durch Musik, die uns berührt, durch ein Buch aber dieses Moment- ich nenn das manchmal auch „Verflüssigung unsres In-der-Welt-Seins“, wo man sich plötzlich wieder lebendig spürt, wo man sich verbunden fühlt, das kann man schon auf andere Weise versuchen, in sich aufzubauen und um sich aufzubauen.

Und für die, die in diesen Zeiten auch noch um ihre wirtschaftliche Existenz bangen müssen, hat Hartmut Rosa einen wichtigen Rat.

Es ist nicht individuelles Versagen, dass man jetzt in eine schwierige Lage gerät, sondern es ist eine Art von kollektivem Verhängnis. Was natürlich bedeutet, dass auch das Gemeinwesen, dass wir alle solidarisch sein müssen, aber es entlastet ein bisschen von dem Versagensgefühl, was ganz ganz wichtig ist.

Advent als Versprechen
Hartmut Rosa hat für seine Bücher und Vorträge viele Preise bekommen. Der 55 jährige unterrichtet und forscht an der Uni Jena als Professor für Soziologie. An seiner Sprachmelodie habe ich ihn sofort als Badener erkannt. In seinem Heimatdorf hat er als Jugendlicher sogar Orgel gespielt. Er kennt sich aus in der Bibel und im Gesangbuch. Von Weihnachtsliedern kann er gar nicht genug bekommen.

In gewisser Weise bin ich, seit ich ein Kind war, Advents- und Weihnachtsfan. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich als kleiner Junge total überwältigt war von einem Weihnachtsbaum in unserem Dorf. Da gabs nur einen draußen, einen elektrischen. Und ich bin auf dem Schulweg immer einen Umweg gegangen, um das anzuschauen, jeden Morgen eigentlich und stand da immer staunend davor.

Dieses kindliche Staunen ist vielen Erwachsenen abhandengekommen. Weil es im Advent oft zu viel war: zu viele Lichter, zu viel Arbeit, zu viele Geschenke, zu viel Rummel. In diesem Jahr ist das anders. Schmerzlich für viele. Aber es liegt auch eine Chance darin.

Ich bin echt gespannt darauf zu sehen, was dieses Jahr passiert, wenn eben keine großen Weihnachtsmärkte mehr stattfinden und wenn wir die soziale Distanz einhalten müssen. Ob dann plötzlich diese eine Kerze im Fenster oder dieses verlorene Lied, das von irgendwo tönt, tatsächlich nochmal diese Innigkeit herstellen kann.

Denn Weihnachten ist das Fest, an dem in der Tiefe der Seele etwas zum Schwingen kommt.

Aus meiner Sicht ist eigentlich Weihnachten ein Resonanzversprechen. Also weil die Idee von Weihnachten, die ganze Praxis von Weihnachten hängt an der Vorstellung, dass am Grund meiner Existenz einer ist, der mich hört und der mich sieht und der mich meint und dass ich nicht ins Leere rufe in meiner Existenz, sondern eine entgegenkommende Antwort erfahre.

Vielleicht sind wir an Weihnachten deshalb so sensibel. Wir gehen zurück auf den Anfang. Zu dem Kind in uns, das mit einem Schrei und mit der Sehnsucht nach Resonanz geboren worden ist.

Diese Grunderfahrung erfahren wir natürlich schon als Kind. Ich glaube, ein Säugling wird zu einem Subjekt, in dem Moment, wo es sich erkennt in den Augen der Mutter oder des Vaters, wo es plötzlich feststellt, da gibt’s eine Beziehung und ich kann das Andere auch erreichen und es meint mich, es ruft mich, es hält mich und trägt mich.

Hartmut Rosa nennt dies „die reinste Form der Resonanz“. Eine Beziehung, geprägt von tiefer, wechselseitiger Liebe. Und darum geht es in der Weihnachtsgeschichte: Das göttliche Kind wird arm und schutzlos geboren. Dort im Stall von Bethlehem. Aber der Glanz der göttlichen Liebe, der Glanz reinster Resonanz, der leuchtet umso heller. So gesehen findet Hartmut Rosa Weihnachten geradezu logisch.

Und deshalb wundert es mich eigentlich nicht, dass diese Grundidee diese basale Erfahrung oder Einsicht, dass am Grunde unserer Existenz auch eine Antwortbeziehung stehen kann, dass die symbolisiert wird mit Hilfe eines Kindes scheint mir eigentlich naheliegend.

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SWR1 Begegnungen

02AUG2020
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Alea Horst

Annette Bassler trifft Alea Horst, Fotografin

Sich anrühren lassen

Wir treffen uns in ihrem Haus im Taunus. Vom Esstisch schaut man auf eine Blühwiese mit Hochbeeten und scharrenden Hühnern. Ringsum Wald. Natur und Stille. Hier kann ihre Seele heil werden. Nach ihren Reisen in die Flüchtlingslager dieser Welt. Ihre erste Reise ging nach Moria auf Lesbos. Dort ist ihr am Strand ein junger Mann quasi entgegengefallen. Der war aus Syrien übers Meer gekommen.

War alleine unterwegs und schrie, er wolle ein Handy haben, er wolle ein Handy haben und ich hatte im ersten Moment ein bisschen Misstrauen. Der will ein Handy, wenn ich dem das gebe, läuft der vielleicht damit weg. Und dann hab ich ihm das Handy gegeben. Und dann hat er zu Hause seine Mutter angerufen und er sagte was auf Arabisch und die Mutter jubelte im Hintergrund. Jubelte „lalalalalala“ und er lachte und beide lachten und weinten. Dann legt er einfach auf, gibt mir das Handy und rennt zum Bus, wo die Flüchtlinge dann abtransportiert wurden ins Camp.

Begegnungen wie diese haben ihr Leben von Grund auf verändert. Vorher war die 38-jährige eine preisgekrönte Hochzeitsfotografin, verheiratet, zwei fast erwachsene Kinder, schönes Haus. Aber als vor 5 Jahren die vielen Geflüchteten bei uns angekommen sind, da ist ihr Gewissen Sturm gelaufen.

Und ich hab mich gefragt: wie möchte ich auf mein Leben zurückschauen, wenn ich alt bin? Ich möchte nicht auf mein Leben zurückschauen und sagen: warum hab ich nur lethargisch auf der Couch gesessen und gesagt: wie schlimm ist das, wie schlimm ist das! Und ich hab aber nur meinen Hintern nicht hochbekommen.

Seitdem reist sie um die Welt. Grade ist sie zum dritten Mal im Lager Moria auf Lesbos gewesen, wo 20 Tausend Menschen leben.

Es gibt seit vier Jahren dort keine anständige Müllabfuhr! Seit vier Jahren! Ein Großteil der Menschen lebt in aus Paletten gebauten mit Plastikfolie und kleinen Wasserflaschendeckeln improvisierten eigenen gebauten Minihütten. Es gibt keine Container, wo man sagt, das ist wenigstens wasserfest, es gibt überhaupt kein warmes Wasser, wenn man sich vorstellt mit 7000 Kindern und es gibt dort kein warmes Wasser! Das ist einfach beschämend.

Alea Horst erinnert mich an Jesus. Der hat gesagt: Was ihr den Geringsten angetan habt, das habt ihr mir getan. Ich glaube, es macht etwas mit unserer Würde, wie wir uns den Geringsten unter uns umgehen. Alea Horst begegnet den „Geringsten“ einfach als Mensch.

Ich hab das jetzt, im Laufe dieser Jahre gemerkt. Was wirklich meine Seele berührt ist Zwischenmenschlichkeit, Mitmenschlichkeit, sich die Zeit zu nehmen, miteinander zu reden. Man bekommt so viel mehr innere Zufriedenheit.

Verwandelt werden

Alea Horst zu begegnen war für mich heilsam. Obwohl oder gerade weil sie mir von den heillosen Zuständen im Flüchtlingslager Moria erzählt hat. Als Fotografin hat sie gelernt, genau hinzuschauen. Das tut sie jetzt in den Flüchtlingslagern. Was für viele von uns nur eine bedrohliche Größe ist, hat für sie je ein Gesicht und eine Würde. Und an die geht sie ganz nah ran. Mit der Kamera und mit ihrem Herzen.

Ich habe eine Mission! Ich möchte etwas verändern, ich möchte etwas verbessern. Für diese Menschen! Und da muss ich meine eigene Scham neben liegenlassen. Das hilft mir auch, in Fotos, mich frei zu machen von allen Vorurteilen von dieser Scham. Alles wird besser, wenn ich mich so weit wie möglich öffne.

Ihre Bilder ziehen mich hinein in die Welt dieser Menschen. In der dann die Unterschiede von Religion und Kultur keine Rolle mehr spielen.

Die Sehnsucht nach Harmonie, Frieden und Liebe, die verbindet uns alle.  Egal…wie die Leute aussehen, im inneren Kern sind wir alle gleich und haben die gleichen Sehnsüchte. Deswegen fühl ich mich mit diesen Menschen besonders verbunden.

Auch wenn die Flüchtlingslager der EU noch so katastrophal sind, alles ist für diese Menschen besser ein Leben in Krieg und Verfolgung, weiß Alea Horst. Europa ist für sie zwar ein Land des Friedens, aber:

In jedem Flüchtlingslager der Welt sagen die Menschen: wir wollen wieder nach Hause. Alle sagen: mein größter Traum wäre, wieder nach Hause gehen zu können.

Ich bewundere, mit welcher Energie sie aufbricht und fremde Welten aufsucht. Ich könnte das nicht, sage ich. Und sie meint: man muss das auch nicht, um zu helfen.

Man muss nicht in diese Länder fahren, man muss auch nichts Großes machen. Ich muss kein Arzt oder Rechtsanwalt sein, nein, ich kann mit meinen Händen irgendetwas machen. Und ich habe hier in Deutschland in verschiedenen Initiativen tolle Menschen gesehen. Die einen stricken irgendwas, andere reparieren irgendwelche Gegenstände und andere hören einfach nur zu. Man muss sich nur fragen:  Was kann ich geben? Und dann muss man nur einen Schritt machen. Dass man damit anfängt. Und dann bekommt man so viel zurück.

AleaHorstVielleicht ist dies das Geheimnis eines glücklichen Lebens. Offen sein, sich berühren lassen von der Not von Menschen. Und darauf vertrauen, dass man hineingenommen und getragen wird vom Geist der Liebe und der Mitmenschlichkeit.

Mein Ziel ist es, am Ende meines Lebens ein glückliches Leben zu haben, nicht unbedingt ein reiches Leben und deswegen geh ich so gern in den Dialog und ich gebe und bekomme große befriedigende Gefühl zurück, was wirklich Richtiges zu tun.

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SWR1 Begegnungen

03MAI2020
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Dr. Thomas Posern Dr. Thomas Posern

Annette Bassler trifft Dr. Thomas Posern, Beauftragter bei ev. Kirchen bei der Landesregierung in Rheinland- Pfalz

Segen von Institutionen

Wegen der Corona- Pandemie sind unsere Freiheitsrechte stark eingeschränkt. Unsere Demokratie steht derzeit unter einer Bewährungsprobe. Wovon lebt- wie funktioniert Demokratie? Das habe ich Thomas Posern gefragt. Seit zehn Jahren vermittelt er die Anliegen der evangelischen Kirche in die Landesregierung von Rheinland- Pfalz. Er ist sozusagen ein Lobbyist für die Interessen der Institution Kirche. Aber:

Die Kirche ist zum einen eine Institution, die sich eben nicht nur für sich selber einsetzt, sondern die versucht, zusammen mit und anwaltschaftlich für Menschen in Not und in schwierigen Lebenslagen zu sprechen und solche Themen ins öffentliche Bewusstsein zu bringen.

So haben sich Diakonie und Caritas am Anfang dieser Pandemie besonders um Arme, Alte und Kinder aus prekären Wohnverhältnissen gekümmert. Kirche war da, wo staatliche Unterstützung nicht oder noch nicht angekommen ist. Das hat damit zu tun, wofür die Kirche steht- als Institution in unsrer Gesellschaft.

Es ist die Botschaft der Kirche, die für die Gesellschaft wichtig ist. Die biblische Botschaft, das Evangelium, was wichtig ist.

Und Kern des Evangeliums ist: jeder Mensch ist ein Geschöpf Gottes, ist wertvoll und wichtig. Und dieser Wert hängt nicht davon ab, was jemand geleistet oder erreicht hat. Das versucht Thomas Posern ganz konkret in das politische Tagesgeschäft hinein zu vermitteln.

Wir haben zum Beispiel viele Pfarrerinnen und Pfarrer, Seelsorgerinnen und Seelsoger in der Justizvollzugsanstalt, mit denen treffen wir uns regelmäßig und können deren Anliegen zB. dem Justizminister vortragen. An all diesen Stellen gibt es wichtige Dinge, die dann zur Kenntnis genommen und oft auch umgesetzt werden auf Regierungsseite.

Demokratie, so lerne ich, lebt von Menschen, die sich für andere einsetzen- ganz besonders für die, die sonst keine Lobby haben. Demokratie lebt von Institutionen, die diesem bürgerschaftlichen Engagement finanzielle Mittel, Raum und Struktur geben. Wenn Pfarrer Thomas Posern die Anfragen und Bitten seiner Kirche an die Regierung weiterleitet, muss er seine persönlichen Interessen oft hintanstellen.

Es sind nicht meine eigenen Dinge, die ich hin- und hertransportiere, sondern es sind Anliegen der Kolleginnen und Kollegen oder der Synoden oder von Kirchenvorständen und Presbyterien, die Eingang in meine Arbeit finden.

Das bedeutet: Hinhören, miteinander verhandeln, Kompromisse finden- oft in langen Sitzungen. Das ist nicht jedermanns Sache. Als Pfarrer ist Thomas Posern hier in seinem Element.

Am meisten Freude macht mir die ganze Zeit, dass ich mit unglaublich vielen unterschiedlichen Menschen zu tun habe. Die Hauptaufgabe in dieser Funktion ist, mit den Leuten zu reden!

Mit den Leuten reden. So einfach- und doch auch so mühsam. Gerade jetzt.

Woraus sich Demokratie nährt

Seit zehn Jahren pendelt er hin und her zwischen Kirche und Staat. Thomas Posern, Pfarrer und kirchlicher Beauftragter bei der Landesregierung in Rheinland- Pfalz. Wenn es um Absprachen, Austausch und Diplomatie geht, ist er in seinem Element. Denn die Kirchen sind bei uns unabhängig vom Staat. Zugleich aber übernehmen sie stellvertretend für den Staat viele soziale Aufgaben. Ein Blick in die Nachbarländer zeigt: so ein partnerschaftliches Miteinander hat viele Vorteile für alle.

Der Vorteil ist, dass in diesem partnerschaftlichen Miteinander viele Fragen miteinander bedacht werden können. Kirche kann ihre Stimme unmittelbar einbringen und es gibt vorgesehene Routinen dafür wie zum Beispiel regelmäßige Gespräche mit der Regierung, mit Ministerien oder Ähnliches.

Und so kommen routinemäßig die Interessen derer zu Wort, die sonst wenig Lobby haben: Eigentlich wichtig. Trotzdem ist der Einfluss der Kirche als Institution geschwunden. So wie der von anderen Institutionen. Warum finden viele Menschen für sich „Institutionen“ nicht mehr so wichtig?

Weil alles gut lief, hat man den Eindruck, man braucht den anderen nicht, man braucht die Institutionen nicht, Parteien nicht, Kirchen nicht, die Gewerkschaften nicht. Das hat dazu geführt, dass viele Menschen denken: Es läuft doch ohne mich!

Jetzt in der Krise aber können wir alle sehen, wie wichtig es ist, dass es Institutionen gibt. Parteien, die den Kommunalpolitikern den Rücken stärken, Gewerkschaften, die um besseren Lohn kämpfen, Kirchen die sich um Einsame und Kranke bemühen. Kurzum: Christenmenschen.

Menschen, die sich vom Glauben getragen wissen, dazu auch angespornt werden, davon etwas weiterzugeben- sowohl im Sinn der Glaubensbotschaft als auch in dem Sinn, dass sie beide Hände frei haben. Weil sie sich nicht nur um sich selber kümmern und abstrampeln müssen.

In diesen Tagen sind viele dankbar für die, die sich für Andere engagieren, dankbar dafür, einfach nur gesund zu sein. Ich finde: diese Dankbarkeit ist sehr kostbar. Sie gibt mir den langen Atem, den ich derzeit brauche. Und einen sensiblen Blick für Ungerechtigkeit in unsrem Land.

In der Tat gibt es eine Kluft in unserer Gesellschaft im Blick auf die Vermögen. Und das hat dazu geführt, dass mit Macht und Einfluss verbundene Vermögen eben sehr viel Einfluss haben und dadurch auch die Anliegen bestimmter Schichten aus dem Blick geraten sind.  Und dann sagen sich manche Leute: Dann brauchen wir uns nicht mehr beteiligen, wenn wir sowieso nix mehr beeinflussen können. Und andere, zu denen ich gehöre, sagen: Grade deshalb müssen wir uns an diesen Dingen beteiligen und so gut es geht versuchen, Einfluss darauf zu nehmen.

Auch wenn in unserem Land vieles besser werden kann und muss: ich bin in diesen Tagen dankbar, in einer Demokratie wie der unsrigen leben zu dürfen. Und dass es viele Ehrenamtliche gibt, die sich innerhalb und außerhalb der Kirche engagieren.

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SWR1 Begegnungen

12APR2020
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Fulbert Steffensky Fulbert Steffensky

Annette Bassler trifft Prof. Fulbert Steffensky

Auferstehung – jetzt?

Seine Bücher und Predigten haben mich auf kluge und ehrliche Weise aufgerichtet. Die Bücher seiner verstorbenen Frau Dorothee Sölle haben mir geholfen, Geistliches und Politisches miteinander zu verbinden. Und jetzt darf ich dem 86-jährigen vor Ostern begegnen. Am Telefon. 420 Kilometer sind es zwischen Mainz und Luzern, wo er lebt. Wie er Ostern feiern wird?

Gottesdienste fallen weg, das Treffen der Freunde fällt weg, es wird vielleicht sogar ein intensives Ostern werden, weil man nicht draußen verzettelt ist.

Intensives Ostern? Gewiss, draußen ist alles grün und die Vögel zwitschern. Aber drinnen sind die Sorgen davon nicht weg. Aber Ostern ist ja auch kein Frühlingsfest. An Ostern geht es um Auferstehung. Was das ist, mag Fulbert Steffensky nicht gern erklären, lieber erzählen.

Vielleicht könnte man erzählen die Schönheit oder das Revolutionäre der Geschichte, dass ein Mensch, von Gott auserwählt, der das Recht suchte in seinem Leben, der Gott suchte in seinem Leben, dass der nicht im Tod gelassen wurde. Der Tod hält ihn nicht gefangen.

Und das können wir heute feiern. Überall stehen Pfarrerinnen und Pfarrer allein in der Kirche und die Gemeinde sitzt zu Hause vor dem Radio, dem Fernseher oder dem PC. Man kann mitsingen wie früher: „Christ ist erstanden von der Marter alle- des soll‘n wir alle froh sein, Christ will unser Trost sein.“

Es kann schon sein, dass mein Mund, der die Auferstehungslieder singt, klüger und frömmer als mein Herz, das noch nicht nachkommt. Und das ist eben so. Wir sind ja zum Glück nicht nur Mund, sondern auch Herz.

Eine wunderbare Ostergeschichte ist für mich die, wie Maria von Magdala zum Grab geht, um ihren toten Jesus zu salben. Und ihn nicht findet, weil der Stein vor dem Grab weggerollt ist. Fulbert Steffensky liebt die zärtliche Begegnung zwischen Maria und Jesus- auf Abstand.

Es ist da diese Frau, manche haben sie eine Sünderin genannt. Sie weint und sie fragt: „Wo ist mein Herr, hast du ihn weggetragen?“ Und der Auferstandene nennt sie beim Namen und sie erkennt sich selbst und sie erkennt die Szene. Und sie darf ihn nicht berühren.

Die Lieben sehen. Und sie nicht berühren dürfen. Mich schmerzt das in diesen Tagen. Aber es verbindet mich auf andere Art mit ihnen. Maria geht es ähnlich. Selbst der Tod hat ihre Liebe zu Jesus nicht zerstören können. Dafür wird sie kämpfen.

Auferstehung hat etwas mit Aufstand zu tun. Dass nicht nur einer auferstanden ist, sondern dass Menschen aufstehen, auf die Beine kommen, die Hoffnung nicht verlieren. Insofern- der Glaube ist ja kein Fürwahrhalten, es ist ein Glaube mit Hand und Bein und steht auf und kämpft für etwas und liebt etwas und freut sich am Leben.

Was könnte sich bei uns verändern?

Hoffnung lernen

In diesem Jahr feiern wir Ostern ganz anders als sonst. Stiller, privater. Ohne Osternacht in der Kirche, ohne Festessen im Freundes- und Familienkreis. Der Theologe Fulbert Steffensky sieht darin auch eine Chance. Ostern mal anders feiern. Innerlicher. Denn Ostern ist kein Fest, das Leid und Tod ausblenden will. Ostern hilft, das Tal von Leid und Not durchschreiten zu können. Einen wichtigen Schritt sieht er darin, sich selber realistischer zu sehen.

Vielleicht kann man neu lernen, uns unsere eigene Sterblichkeit einzugestehen. Dieses Corona ist ja etwas, man spürt, es wackelt etwas, die Selbstverständlichkeiten sind hin. Die falschen Selbstverständlichkeiten.

Falsche Selbstverständlichkeiten. Vielleicht gehört dazu, das Leben würde einfach so weitergehen wie bisher. Oder - dass es an mir liegt, wenn etwas nicht so gut läuft. Weil ich mich einfach nicht genug angestrengt habe. Im Blick auf die Pandemie stellt sich vieles als Illusion heraus. Die Alternative zu dieser Haltung ist: Ich kann – und ich muss mir im Leben vieles eben nicht „erarbeiten“. Es ist Gnade. Fulbert Steffensky beschreibt sie so:

Ich bin nie nur, der ich bin, ich bin nicht mein eigener Schöpfer. Das heißt eigentlich Gnade, dass man nicht nur sein muss, der man ist, sondern dass man ernährt wird von Broten, die man nicht selbst gebacken hat. Und einen Wein trinkt, den man nicht selbst gekeltert hat. Das ist das Herrliche, der Charme: ich bin nicht gezwungen, nur authentisch mit mir selbst zu sein, sondern ich bin der, den andere lieben, ich bin der, den andere trösten. Das heißt Gnade

Und aus dieser Gnade zu leben- das würde sich Fulbert Steffensky wünschen. Dass wir das für uns lernen. Und als Gesellschaft. Dass wir dieser Gnade, dem Unverfügbaren in unserem Leben, einen Stellenwert geben.

Die eigene Endlichkeit lernen, sich nicht wie Götter benehmen, wie wir es tun, nicht meinen, die Welt wäre auf uns zugeschnitten und wissen, man muss sterben. Wissen, alles hat seine Zeit und ist vergänglich.

Alles ist vergänglich. Aber was hält und trägt uns in dieser Vergänglichkeit? Am Ende unseres Gesprächs frage ich Fulbert Steffensky nach seiner Hoffnung.

Ich muss einfach sagen: meine Kinder, meine Enkel, die Kinder in den Lagern Griechenlands, das sind meine Hoffnungsbilder. Weil ich an ihnen lerne, was sie brauchen und was ihnen nicht angetan werden soll. Und an ihnen verlerne ich die Frage, ob man Hoffnung haben kann. Wer liebt, der tut zumindest, als hoffe er, indem man für sie arbeitet, für die schreit, für sie sich empört. Alle die, die ernsthaft gearbeitet haben an der Hoffnung, die haben diese Frage nicht gestellt „kann man hoffen?“. Sie haben gearbeitet und sie haben die Hoffnung darüber gelernt.

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SWR1 Begegnungen

05APR2020
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Albrecht Bähr

Annette Bassler trifft Albrecht Bähr, Geschäftsführung der Diakonie in Rheinland- Pfalz Evangelische Kirche

Die Armen im Blick

In diesen Tagen ist die Diakonie besonders gefordert. Denn die Zahl der Menschen, die in wirtschaftliche Bedrängnis geraten, wächst. Als Landespfarrer für Diakonie weiß Albrecht Bähr, wo in Rheinland- Pfalz momentan die Not am größten ist. Ich bin ihm - ausnahmsweise - am Telefon begegnet.

es gibt drei Gruppen, die besonders bei uns im Fokus stehen. Das sind die Kinder, das sind die Menschen, die in sehr prekären Situationen leben und das sind die Alten.

Jedes 10. Kind in Deutschland lebt in Armut, in einer engen Wohnung. Jetzt sind Schulen und Kitas geschlossen. Für sie bedeutet das:

in der Schule hatten sie Bewegungsfreiräume, ebenso in der Kita, sie haben ein warmes Essen bekommen, ein gesundes noch hinzu…. Und sie hatten Kontakte. Und das alles bricht jetzt weg.

Die Eltern dieser Kinder hatten schon vorher keine Rücklagen, haben schon immer von der Hand in den Mund gelebt. Und nein, es sind nicht die, die faul sind.

wir haben sehr viele Menschen, die fleißig daran arbeiten, dass sie ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten können, die einen Zweit- und einen Drittjob haben und das alles funktioniert jetzt nicht mehr….. das macht große Sorge, es rufen immer mehr Familien an, die schlicht und einfach Geld brauchen oder Lebensmittel brauchen um über den Tag zu kommen.

Und auch für die Alten, die sich tapfer in ihren eigenen Wohnungen über Wasser halten, entsteht eine besondere Not, weiß Albrecht Bähr. Viele sind sehr einsam..

wo Hauswirtschaftskräfte nicht mehr ins Haus kommen, wo die osteuropäischen Hilfskräfte auch nicht mehr da sind, weil sie in ihre Heimatländer gereist sind.

In diesen Tagen bin ich besonders dankbar dafür, dass wir nicht nur einen Sozialstaat haben, sondern auch kirchliche Einrichtungen wie die Diakonie. Und dass viele von uns- anders als in vielen europäischen Ländern- Kirchensteuer zahlen.

die Landeskirche und das diakonische Werk haben zunächst einmal 40 Tausend Euro bereitgestellt als Soforthilfe, dann haben wir unseren Kinderhilfsfond…und wir fordern die Bevölkerung auf zu spenden, um dieses Geld dann sehr unbürokratisch und sehr schnell an die betroffenen Familien geben zu können.

Ich bin dankbar für dieses große Netz der Solidarität, das wir noch haben. Viele engagieren sich in diesen Tagen. Und sie tun es, weil sie spüren: das tut mir auch gut. Es hilft mir selber, mit dem Schrecken und der Ohnmacht in diesen Tagen klarzukommen. Das erlebt Albrecht Bähr auch immer wieder.

wenn ich mit Menschen spreche, auch Ehrenamtliche, die versuchen, jetzt sich zu engagieren. Wenn ich in ihre Augen schaue und merke, da ist etwas sehr Segensreiches, was ich wahrnehme und was weitergegeben wird.

Geteiltes Leid ist halbes Leid, sagt man. Ich glaube, es ist sogar mehr. Ich glaube, dass Gott uns nah ist, wenn wir unser Leid teilen. Deshalb bedenken wir in der kommenden Woche Jesu Leiden, deshalb feiern wir nächsten Sonntag seine Auferstehung.

mitleiden und mitverwandelt werden

Heute ist Palmsonntag. Der Sonntag, an dem Jesus umjubelt von den Leuten auf Palmzweigen in Jerusalem eingezogen ist. und der Anfang seines Leidenswegs. Als Landespfarrer für Diakonie hat Albrecht Bähr die im Blick, die unter Krankheit und materieller Not leiden. Jetzt sind es so viele. Und sie brauchen Geld. Aber auch noch mehr. Nämlich Trost. Keine Vertröstung.

Trost könnte sein, dass man ihnen das Gefühl gibt: wir haben euch im Blick. Wir blenden euer Schicksal nicht aus.

Wir haben euch im Blick. Nicht die ganze Welt, aber euch. Ich kann nicht alle im Blick haben. Aber vielleicht die Nachbarin, die nicht raus kann. Oder den Freund, der schon immer zur Traurigkeit geneigt hat. Ich muss sie nicht retten, aber im Blick haben. Ihr Leiden nicht kleinreden.

Das ist so etwas, was mich ….manchmal irritiert: die Menschen sind alle sehr optimistisch und bringen das auch sehr gut rüber, es tut auch manchmal gut, aber entscheidend ist, dass man mit den Menschen auch gemeinsam leiden kann,

einfach nur dasein, den anderen im Blick haben, auch wenn es sich nach wenig anfühlt, so ist es doch ganz viel.

wenn man weiß, es ist ein Mensch, der allein lebt und der eigentlich hilfsbedürftig ist, dass man sagt: lass uns einen Kontakt aufbauen, man kann sich auch am Fenster unterhalten. Oder ich steh am Garten und du stehst an deinem Fenster.

Vielleicht erleben derzeit viele so etwas Ähnliches wie Jesus. Sie müssen viel Schmerzliches ertragen und verstehen nicht, wozu. Ich glaube, dass sie wie Jesus dennoch von Gottes Nähe umfangen sind, auch wenn sie das nicht so recht spüren können. Albrecht Bähr geht es ähnlich.

ich hab manchmal auch traurige Gedanken und manchmal bin ich auch matt in dem Tagesablauf, den ich zu bewältigen habe. Aber meine Grundüberzeugung ist die, dass wenn wir Menschen das versuchen einzusetzen, was wir an Gaben haben, dass darauf Segen liegt.

Was ihr einem der Geringsten unter uns getan habt, das habt ihr mir getan. Hat Jesus gesagt. Darum bin ich überzeugt; es liegt ein Segen darauf, wenn wir einander beistehen. Da ist eine göttliche Kraft drin. Eine göttliche Kraft, die uns über uns selber hinauswachsen lässt. Vielleicht gehen wir eines Tages als Gesegnete aus dieser Krise hervor, Albrecht Bähr wünscht sich das jedenfalls.

wenn wir wirklich wollen, und auch was lernen wollen aus der Krise, dann ist es auch das, dass alle zur Gemeinschaft gehören, dass alle einen Anspruch auf die Fülle des Lebens haben und nicht die einen privilegiert durch diese Krise gehen und die anderen mit noch mehr Leid mit noch weniger Gesundheit mit noch mehr Entbehrung ihren Tagesablauf gestalten müssen. Ich bin sehr gespannt, was nach der Krise geschieht.

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SWR1 Begegnungen

01JAN2020
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Annette Bassler trifft Dr. Dr. h.c. Volker Jung, Präsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

Zauber des Anfangs
Heute ist alles auf Anfang gestellt. Auch für den Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Dr. Volker Jung. Er steht für eine Kirche mit 1,5 Millionen Mitgliedern- das ist viel Arbeit und Verantwortung. Aber heute freut er sich einfach nur.

Ich freu mich eigentlich immer am 1. Januar, dass ein neues Jahr beginnt, weil ein neues Jahr auch immer neue Möglichkeiten eröffnet.

Und neue Chancen! Es anders machen, besser! Mehr Sport, gesünder essen- für mich gehört das immer dazu. Man muss nur wollen, dann schafft man es! Sagen manche. Und wenn es nicht klappt, dann liegt es eben an deinem Willen. Volker Jung sieht das anders.

Allein etwas zu wollen ist nicht die Kraft, die auch alles bewirkt… Glauben als eine Kraft, die alles bewirken kann, bedeutet ja nicht, dass allein der Glaube hilft, auch alle Dinge so zu sortieren und so hinzubekommen, wie wir es gerne hätten.

Disziplin und ein fester Wille sind prima. Aber damit haben wir nicht alles in der Hand. Weder unsre Gesundheit, noch unser Wohlergehen. Es braucht noch eine andere Kraft. Die Kraft Gottes, die uns über uns selbst hinauswachsen lässt. Das betrifft auch die Frage, wohin es gehen wird mit der Kirche.

Es gibt einen neuen Zukunftsprozess, weil wir uns darauf einstellen müssen, dass wir weniger Kirchenmitglieder haben, das ist eine Herausforderung, weil das bedeutet, dass man weniger Geld zur Verfügung haben wird.

Und was ihn am meisten umtreibt: es sind die jungen Leute, die sich von der Kirche abwenden, so das Ergebnis einer Studie. Und trotzdem ist die Situation für Volker Jung auch eine Chance.

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir auch wenn wir weniger sein werden, trotzdem noch gebraucht werden und dass wir als Kirche eine Botschaft haben, die es wert ist, sich neu darauf zu besinnen: was sind eigentlich unsere Aufgaben? Und so möchte ich diesen Prozess gerne angehen.

Bisher war die Aufgabe der Kirche vor allem, vom Gott der Bibel zu erzählen und sich um die Benachteiligten und Schwachen in unserer Gesellschaft zu kümmern. Mit großer Sorge nimmt Volker Jung eine zunehmende Spannung wahr. Er spürt einen Riß quer durch die Gesellschaft. Weniger ein Riß zwischen Arm und Reich. Er sieht einen Riß entlang der Frage: wie hältst du es mit dem Vertrauen?

Da sind auf der einen Seite Menschen, die plötzlich allem und jedem misstrauen. Und dann gibt es auf der anderen Seite diejenigen, die sagen: nein, Misstrauen macht Leben kaputt, zerstört Zusammenleben. Wir brauchen Vertrauen, wir brauchen Vertrauen, dass es auch für uns eine Zukunft gibt nur so können wir wirklich gestalten.

Und genau hier sieht er die Kirche besonders gefordert. Um Vertrauen werben in Zeiten der Verunsicherung und Angst. Und zwar Vertrauen in Gott.

Es bedeutet, sich einer Kraft anzuvertrauen, die größer ist als wir selber, die uns aber in die Lage versetzt, auch mit den Dingen zurecht zu kommen, die uns entgegenstehen.

Vertrauen wagen

Seit 11 Jahren ist Volker Jung oberster Repräsentant der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. In dieser Zeit ist ihm viel Verantwortung zugewachsen. So ist er die Stimme der Evangelischen Kirche Deutschlands in Fragen der Medien, hat ein Buch übers Menschsein im Digitalen Zeitalter geschrieben. Und er erlebt, dass viele sich von der Kirche abwenden. Weil sie an den Gott der Bibel so nicht glauben können. Und weil sie mehr Zweifel als Glauben haben. Die Jahreslosung der Kirchen für das Jahr 2020 bringt es auf den Punkt.

Die biblische Jahreslosung „Ich glaube, hilf meinem Unglauben“ drückt das für mich aus, dass es da auch immer ein Wechselbad gibt und der Glaube nichts ist, was wir einfach verfügbar haben, sondern auch immer zugleich mit dem Zweifel konfrontiert ist. Und es ist trotzdem die große Ermutigung, grade aus dieser Geschichte heraus, sich Gott anzuvertrauen.

In der Geschichte bittet ein Vater Jesus darum, seinen kranken Sohn zu heilen. Aber er hat Zweifel, ob Jesus das kann. Heute fragen sich viele: wer kann Gott für mich sein?
Volker Jung sieht das so

Die Gottesfrage ist für mich eigentlich die große Vertrauensfrage. Kann ich mich Gott anvertrauen, sodass ich sage: ich spüre an mir selber: das Leben ist für mich ein Geschenk, da ist mir was gegeben worden, da bin ich selbst Teil einer Kraft, die das Leben gestaltet. Und auf diese Kraft vertraue ich.

Aber was tun, wenn die Zweifel einfach übermächtig sind?

Für mich ist das Gebet der Ort, wo ich auch diese Zweifel in Worte fasse oder dem Ausdruck gebe und mich dann selbst wieder an Gott klammere und sage Gott bitte erhalte mir mein Vertrauen, grade in solchen schwierigen Situationen.

Manchmal geht mir das auch so. Da rufe ich nach Gott, obwohl ich in dem Moment gar nicht daran glaube, gehört zu werden. Doch schon das Rufen löst etwas von meinem Lebenskrampf. Für Volker Jung ist es eine Grundhaltung. Den Kontakt mit Gott suchen und mit ihm im Kontakt bleiben, auch wenn man es nicht glaubt. Ich glaube, hilf meinem Unglauben.

Wenn man es im Glauben lebt, spürt man immer wieder, wie grade in solchen Momenten des Zweifels auch neues Vertrauen entstehen kann und auch neue Kraft zukommen kann.

Vertrauen haben ist für Kinder selbstverständlich. Für Erwachsene nicht. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass Vertrauen auch missbraucht werden kann. Deshalb ist Vertrauen immer auch ein Risiko. Aber es gibt nichts Wichtigeres, als es immer neu zu wagen. Das wünscht Ihnen Volker Jung für das neue Jahr.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie mit Vertrauen in dieses neue Jahr gehen können. Und ich wünsche Ihnen ganz besonders, dass Sie spüren, wie Gott Ihr Vertrauen stärken kann, wie Ihnen von Gott Lebenskraft und Hoffnung zukommt und dass Ihnen das auch Zuversicht schenkt, sich den Fragen zu stellen, die wir uns alle gemeinsam stellen müssen, nämlich eine gute Zukunft miteinander zu suchen.

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SWR1 Begegnungen

22DEZ2019
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Cornelia Coenen-MarxAnnette Bassler trifft Cornelia Coenen-Marx, Pfarrerin, Unternehmerin

Wider die Einsamkeit an Weihnachten

Was braucht die Seele, damit sie heil werden kann? Und was muss Politik und Gesellschaft dafür tun? Das war schon immer ihre Frage- ob als Gemeindepfarrerin, als Leiterin einer diakonischen Einrichtung oder als Oberkirchenrätin der EKD in Hannover. Heute, mit 67 Jahren betreibt sie ihre eigene Agentur „Seele und Sorge“. Wie kommt man heil durch die Weihnachtstage? Ist meine erste Frage an Cornelia Coenen Marx. Und sie erzählt von ihrer großen Verwandtschaft, die sich am ersten Weihnachtstag alljährlich trifft.

Bei den Kleinen sieht man, wie sie wachsen und bei den Älteren sind auch schon welche gegangen. Jetzt sind Schwiegerkinder dabei, die aus der Slowakei kommen und ich merke, wie die europäische Veränderung sich in dieser kleinen Großfamilie niederschlägt

Weihnachten- ein ziemlich aufwendiges Unterfangen ist, allein schon die Anreise.

Es gab schon mal die Idee, ob wir uns nicht besser im Sommer treffen sollen, weil da kein Schnee liegt und die Fahrerei nicht so schlimm und ich hab‘ immer gedacht: wenn wir das anfangen, dann ist es vorbei. Wir brauchen dieses Fest, um uns zu spüren.

Weihnachten als Möglichkeit, einander besser zu spüren. Wenn man es denn kann- bei all dem Stress und der Dünnhäutigkeit. Für manche ist dann die Familie mit den- übers Jahr ungelösten Konflikten zu viel. Oder die Trauer um die abwesende Familie zu groß. Sie fliehen dann lieber aus dem Weihnachtszauber. Weihnachten für die Seele geht aber auch ohne leibliche Familie und ohne Flucht.

Wir hatten in der Kirchengemeinde, wo ich lange war, einen so genannten Gemeindeladen, wo mein Mann und ich an Heiligabend die Leute eingeladen haben, schönes Essen, ein Glas Wein. Das Weihnachtsritual, die gemeinsamen Lieder, die alle haben, die helfen, dass man sich ein bisschen wie Familie fühlt und wenn man ein bisschen erzählt, dann kommt auch was in Gang.

Vielleicht spürt man, dass man sie mit anderen teilen kann- die eigene Bedürftigkeit, die Sehnsucht nach einer besseren Welt und den Glauben, dass wir nicht gottverlassen sind. Dass er mitten unter uns ist, wenn wir singen und beten. Das verbindet auch an einer tiefen Stelle der Seele. Auch wenn man nicht miteinander verwandt ist.
Einsamkeit ist an Weihnachten besonders schmerzlich. Sie ist aber kein privates Problem, meint Cornelia Coenen- Marx. Einsamkeit ist unsere neue Volkskrankheit. Und einen großen Anteil daran hat verfehlte Sozialpolitik.

In Großbritannien gibt es ein Ministerium für Einsamkeit seit 2018. Und das ist superinteressant, weil die sich ganz besonders um Menschen in den Regionen kümmern, wo die Verkehrsmittel nicht fahren, wo die Kneipen geschlossen sind, wo Leute wirklich vereinzeln, weil sie nämlich gar nicht rauskommen, um mit Anderen was zu machen.

Menschen werden krank, wenn sie sich nicht austauschen können, wenn sie zwar versorgt, aber nicht mehr wichtig für andere sind. Unser soziales Leben braucht eine Seele.

Die Seele des Sozialen

Das Soziale braucht nicht nur finanzielle Ausstattung, es braucht auch eine Seele. Meint Cornelia Coenen- Marx. Wenn Sozialarbeit funktionieren soll, braucht es einen besonderen Spirit. Und den hat Cornelia Coenen- Marx entdeckt, als sie sich mit der Geschichte der Diakonissen beschäftigt hat. Warum haben die Diakonissen so lange Zeit die Gemeinden so gut versorgt? Drei Dinge sind da zusammengekommen.

Das ist auf der einen Seite dieses Engagement, dass Leute etwas finden, wo ihr Herz schlägt und die leiden, wenn sie keine Zeit haben, das zu tun. Was heute ja auch passiert. Das zweite ist Gemeinschaft, ich glaube für das Soziale brauchen wir Teams, wir brauchen Austausch, auch mal jemand, der mitträgt und vertritt und so. Und das dritte ist Spiritualität. Zu wissen, dass da was ist, was mich unmittelbar angeht, wo ich auch unvertretbar bin.

Arbeiten, wo das Herzen schlägt, arbeiten im Team, und arbeiten mit der inneren Gewissheit von sowas wie einer Berufung. Das ist es, was Soziale Arbeit beseelt und was Freude schenkt. Aber viele Arbeitsplätze im sozialen Bereich lassen dafür nicht genug Zeit. Umso wichtiger, dass es das Ehrenamt gibt. Wo Menschen mit großer innerer Befriedigung ihrem Herzen folgen und sich in Teams engagieren.

Es gibt eine Kirchengemeinde in Württemberg, die machen einen so genannten Wägelestreff. Das heißt, die treffen sich am oder im Gemeindehaus und von da aus geht man durch die Kleinstadt mit Rollstuhl, Rollator, alles, was die Leute haben und macht gemeinsam in dem Tempo, das die Leute brauchen, einen Spaziergang. Wägelestreff.

Unglaublich, was es in Deutschland da alles gibt rund um die Kirchengemeinden! Schwärmt Cornelia Coenen- Marx. Ob Wägelestreff, Flüchtlingsarbeit oder Trauercafé, im Grunde läuft alles auf eins hinaus: die ganz einfache Begegnung von Mensch zu Mensch. Und genau das hat was mit der Botschaft von Weihnachten zu tun.

Gott wird Mensch- unter Umständen, die wir gar nicht göttlich finden. Wir sagen Stall und Krippe oder Notunterkunft oder auf der Flucht. Da wird Gott Mensch. Und wenn ich jetzt davorstehe, dann sehe ich ja nicht: aha, hier wird Gott Mensch! Sondern dann sehe ich: da liegt ein schreiendes Kind, das braucht Versorgung. Da sind Menschen auf der Flucht, die brauchen Essen und ein Dach über dem Kopf!

Und genau hier etwas zu suchen, was über das Schmerzliche hinausgeht- dazu will Weihnachten verlocken. Weihnachten will meine Augen und mein Herz dazu verlocken, da nicht stehenzubleiben. Weihnachten will sagen: gerade hier und jetzt will Gott mir begegnen.

Indem ich mich auf den Alltag einlasse, also auch auf ein Fest, was ich mal allein feiern muss. Indem ich mich einlasse, steckt in meinem Herzen die Hoffnung, dass ich was entdecken kann von diesem: Gott wird Mensch. Dass er doch in dieser Situation bei mir ist.

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SWR1 Begegnungen

06OKT2019
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Annette MehlhornAnnette Bassler trifft Dr. Annette Mehlhorn, Pfarrerin der deutschsprachigen Gemeinde in Shanghai

Heimat finden im Glauben
Seit 6 Jahren lebt und arbeitet sie in Shanghai. Als Pfarrerin für die deutschsprachige Gemeinde dort.

Shanghai ist eine absolut faszinierende Stadt, ich hab in Rom, in Jerusalem und in Berlin gelebt, aber Shanghai übertrifft sie alle.

Stadt der Zukunft, so nennt sie ihr katholischer Kollege. Mit dem sie diese „ökumenische Gemeinde“ leitet. Eine Community von 9000 Deutschen lebt in Shanghai. Wirtschaftsexperten, Manager, Vertreterinnen internationaler Firmen.

Die Deutschen, die man hier trifft, das sind alles Pioniere, sonst würden die nicht hierherkommen. Und das heißt, du hast hier mit Menschen zu tun, die eine sehr hohe Bereitschaft haben, sich hier auf ein Wagnis einzulassen, auf ein Experiment und das find ich für mich sehr vorteilhaft, weil ich auch eine war, die immer gern ausprobiert hat.

So organisiert sie Spaziergänge durch die Stadtviertel, in denen sie von der christlichen Geschichte und Kultur der Stadt erzählt. Diese Community weiß es aber vor allem sehr zu schätzen, dass die beiden Geistlichen gut ausgebildete und dem Beichtgeheimnis verpflichtete Seelsorger sind. Oft ist sie und ihr Kollege der letzte Anker, ein Fels in der Brandung.

In der Seelsorge geht es oft um handfeste Probleme in den Familien: die Männer, die fremdgehen, die Männer, die mit ihrem Leistungsverhalten nicht klarkommen und die Frauen, die nicht damit klarkommen, dass die Männer dauernd weg sind. Die Kinder, die zum Teil dann auch von den Eltern viel alleingelassen werden und deshalb dann über die Stränge schlagen.

Diese Expats- Menschen, die im Ausland leben- oft führen sie ein unstetes Leben. Wechseln manchmal alle zwei Jahre das Land, die Sprache, das Zuhause, den Bekannten- und Freundeskreis. Was für eine Herausforderung! Auch und gerade für den Glauben. Annette Mehlhorn versucht Antworten auf Fragen wie: Was gibt mir Halt in dieser Heimatlosigkeit? Was macht mich stark, wenn meine Leistungsfähigkeit nicht genügt?

Zum einen ist für die Deutschen sehr wichtig, dass sie in der Gemeinde einen Ort haben, wo es eben nicht um Leistung und Erfolg und Größe und Stärke und Geld geht, sondern wo es um eine andere Wertigkeit.

Nicht Leistung, sondern Liebe macht uns zu denen, die wir sind. Und die können wir uns nie erarbeiten, die ist ein Geschenk. In der Fremde habe auch ich die Botschaft von der Gnade Gottes ganz neu entdecken können. Und so geht es den Deutschen, die in Shanghai leben.

Die Uhren ticken hier schneller. Dass man einen Moment innehalten kann, dass man einen Moment zur Ruhe kommt- selbst die Konfirmanden. Ich frag ja am Ende des Konfirmandenjahrs immer: was hat euch am besten gefallen? und sie sagen: die Gottesdienste und die Predigten. Das hab ich in Deutschland selten von Konfirmanden gehört.

Fremdheit kann beflügeln

Seit 6 Jahren ist Annette Mehlhorn Pfarrerin der deutschsprachigen Gemeinde in Shanghai. Sie wohnt in einem Hochhaus im 24. Stock inmitten von Chinesen. Auf dem Weg zu ihrer Wohnung schlendere ich durch eine supermoderne Einkaufsmall und durch ein Sträßchen mit niedrigen Häusern. Vor jedem Haus sitzt jemand und verkauft etwas.  Eine junge Frau zum Beispiel sitzt inmitten von Plastikschüsseln mit  Fischen drin. Vor meinen Augen holt sie einen Aal aus dem Wasser, tötet ihn, nimmt ihn aus und reicht ihn einer Kundin. Daneben ihr Baby in der Wippe. Annette Mehlhorn kennt und mag ihre Nachbarn, macht jeden Morgen mit ihnen Tai Chi im Park. In der Wohnung angekommen, lädt mich Annette Mehlhorn zum Tee ein. Als ich ihr von ihren Nachbarn erzähle, lacht sie.

Die sind unglaublich neugierig hier, die Leute und kontaktfreudig und gesellig fröhlich und die wollen was wissen und.- die Menschen hier sind auf eine ganz eigene Art und Weise demütig, bescheiden, grad so die einfachen Leute.

Aber gerade die- widerspreche ich ihr, die kümmern sich nicht darum, wenn ein Fremder auf der Straße liegt und sichtlich in Not ist. Da ist nix mit „barmherziger Samariter“. Das – erklärt sie mir- hat was mit der Kultur hier zu tun.

Wenn du Menschen nicht kennst und keine Beziehung zu denen hast, hast du auch keine menschlichen Verpflichtungen denen gegenüber. Aber wenn du Menschen kennst, dann sind die von einer Freundlichkeit und einer Gastfreundschaft und einer Beziehungsstärke, die ist wirklich bemerkenswert.

Schroffheit im öffentlichen Raum und überwältigende Herzenswärme, wenn man sich kennt- genau das habe ich auf Reisen auch erlebt. Müssten wir einander nicht einfach besser kennenlernen?

Ich bin eine vehemente Vertreterin des Dialogs schon immer gewesen. Ich glaube, der Dialog ist das Mittel, Menschen miteinander zu verbinden und ihnen auch zu helfen, ihre Interessen miteinander auszuwägen. Das ist nicht ganz einfach hier, weil das eigentlich nicht sehr gewünscht wird. Aber auf der anderen Seite: wenn du signalisierst, dass du Interesse an den Leuten hast, dass du etwas vorantreiben willst, dann haben die auch einen sehr hohen Respekt vor dir und unterstützen dich.

Am Ende meines Besuches macht mich Annette Mehlhorn neugierig. Sie erzählt mir von chinesischen Christen, die sie kennt.

Was ich immer total spannend finde ist, wenn ich mit chinesischen Christen über ihren Glauben rede und darüber, wie chinesische Geschichte und Kultur in ihren Glauben einfließt und wie die sich dort wiederspiegelt.

Annette Mehlhorn entdeckt das besonders daran, wie die Chinesen die Bibel in ihre Sprache übersetzen. Für die meisten Chinesen stehen das Wohl der Gemeinschaft und materieller Wohlstand an erster Stelle. Dass das Wohl des Einzelnen wertvoll ist- noch bevor er etwas geleistet hat, dass Gott jeden Menschen voraussetzungslos liebt- in Shanghai hat für mich diese Botschaft Jesu einen ganz neuen Glanz bekommen.

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SWR1 Begegnungen

11AUG2019
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Martin SchleskeAnnette Bassler trifft Martin Schleske, Geigenbaumeister aus München
 
Klangsucher und Gottsucher
Es ist schon eine Weile her, dass ich ihn getroffen habe, aber was er gesagt hat, wird mir immer wichtiger. Wie finde ich Ruhe in dieser aufgeregten Zeit? Und was ist meine Aufgabe, was kann ich beitragen zum Frieden? Martin Schleske meint: durch Musik. Indem ich Musik zu mir sprechen lasse. Martin Schleske war sein ganzes Berufsleben auf der Suche nach dem richtigen Klang. Als Geigenbaumeister. Und als Gottsucher. Und er meint: Musik ist die Sprache, in der Gott zu uns spricht.

Ich sag manchmal meinen Kunden, ganz egal ob die gläubig sind oder nicht, sage ich: Du hast einen priesterlichen Dienst. Da gucken die mich ganz groß an. Warum priesterlichen Dienst? Und dann sage ich: Du hast das Recht bekommen, dadurch dass du Musiker bist, die Menschen zu segnen, die Seelen zu segnen mit der Musik.

Martin Schleske ist ein faszinierender Mensch. Allein schon äußerlich. Mit seiner Lederkappe und Weste über dem Hemd- erinnert er mich an Bilder alter Handwerksmeister. Und das will er auch sein. Ein Nachfahre von Geigenbauer wie Stradivari. Und zugleich als Diplomphysiker ein Experte auf dem Gebiet der Geigenakustik. Auf der Suche nach dem einen, besonderen Klang.

Und das geschieht, ob du es merkst oder nicht, wenn du quasi der Musik dienst. Also wenn du  nicht dein Ego auf der Bühne rausspielst – was viele machen – sondern wenn du sagst, nein ich diene einer Wahrheit, die geht über mich hinaus. Und das ist die Musik. Und darin segne ich die Menschen. Sonst würde keiner ins Konzert gehen, wenn es nicht heilsam wäre.

Heilsam- das hat  was mit Heil zu tun. Mit dem, was Leib und Seele zusammenbringt und lebendig macht. Was die Seele aufatmen lässt, dass man sich wie neu geboren fühlt.

Und das ist für mich so das, wo ich als Instrumentenbauer hinterher bin. Nicht einfach banal ein guter Klang, sondern. Ich such den heilsamen Klang. Und das ist das, was meine Berufung ist als Instrumentenbauer, diesen heilsamen Klang zu schaffen.

Lange hat er sich mit den Stradivarigeigen aus dem 18. Jahrhundert beschäftigt. Deren  Klang hat ihm die Ohren geöffnet, seitdem kennt er die wahre Schönheit von Musik. Seitdem ist er auf der Suche nach dem rechten Klangholz, dem rechten Schwingungsverhalten und dem richtigen Lack. Und er mag sie, diese Unruhe. Diese Sehnsucht.

Also ich lass mir das nicht mehr aufoktroyieren, man müsse zufrieden oder glücklich sein. Ich sag das sind keine kreativen Eigenschaften. Sondern so ne gewisse Unzufriedenheit, die ne Leidenschaft hat, einen Klang schaffen zu wollen.Man spielt das Instrument und steht wie in so einer Klangwolke, einer Wolke von Schönheit. Und man wird, man wird im Grunde wie in ne andere Welt versetzt. Es entsteht ein vollkommen angstfreier Raum, weil  sie einen einnimmt, durch ihre Schönheit.

Und dieser angstfreie Raum verändert den, der ihn durchschreitet. Macht ihn stärker, ja auch liebesfähiger. Darum geht’s nach dem nächsten Titel.

Musik hilft, die Schattenseiten des Lebens anzunehmen

Martin Schleske hat als Geigenbaumeister viele klangvolle Geigen gebaut. Dabei aber hat er einen neuen Zugang zu Gott gefunden. Für ihn ist Musik ist eine der Sprachen, in der Gott zu uns spricht. Musik hilft, die Welt sehen und ertragen zu können so, wie sie ist. Voll von Krieg und Hunger und Leid. Wie gehen wir damit um, mit diesem Leid, mit dem Kreuz, das viele tragen müssen? Der Tod Jesu am Kreuz ist eine Antwort auf diese Frage.

Das Kreuz, das Kreuz Jesu  habe ich  ganz neu begriffen durch meinen Beruf. … - zu begreifen, was es heißt, dass Gott verletzbar ist. Und wirklich es gibt nichts und nichts Verletzbareres als Gott. Weil:  es ist die Verletzbarkeit der Liebe.

Gott ist verletzbar, weil er die Liebe ist. Und das bedeutet: wenn wir verletzt sind und leiden, dann sind wir Gott ganz nah. Dann sind wir wie er Liebende. Sind eben nicht abgestumpft und kaltherzig.  Sondern gemeinsam mit Gott unterwegs auf einem Weg, der nicht mit dem Leiden endet, sondern mit der Auferstehung.

Und Auferstehung heißt, dass doch eine Ahnung davon entsteht. Am Ende kommt doch die Liebe Gottes zum Ziel. Es kommt zum Ziel, aber es braucht lang. Viel Zeit!

Wann kommt sie endlich zum Ziel-  die Liebe Gottes? Wann verwandelt sie die Herzen? Und wo kann ich sie jetzt schon erfahren, diese Liebe Gottes, die am Ende zum Ziel kommt?

Ja, es klingt vielleicht pathetisch ein bisschen, aber  es spricht etwas zu meiner Seele. Und die Musik ist für mich eigentlich die Sprache Gottes oder das Gebet Gottes. Die Musik ist fast so was wie: dass Gott in die Welt hineinspricht, schlicht und ergreifend, damit wir die Welt ertragen können. Ohne Musik könnten wir unser Leben, glaube ich, nicht ertragen. Oder wir könnten die Welt nicht ertragen.

Die Schönheit von Musik. Der heilsame Klang, mich macht das geradezu sehnsüchtig.

Einfach nur der Seele zu erlauben, zu singen und sich zu freuen am Klang und, ja Musik ist in Klang gegossenes Gebet. Also ich muss keine Worte machen, um zu beten. Es ist, ich sag es so: Gott hört den Klang meines Herzens. Den kann ich jetzt noch formulieren in Worte, die sind oft sehr unbeholfen. Aber mein Gebet, unser Herz, betet sowieso.

Gott erlauben, dass er zu mir spricht. Mit der Musik ist das möglich. Wenn ich bereit bin, dass sie mich umgibt mit ihrem Klang,  in einem Raum voller Schönheit. Für mich sind das die Violinkonzerte von Mozart, die Matthäuspassion von Bach. Aber auch Pop- und Jazzmusik. Da hat jeder seine eigenen Vorlieben. Für Martin Schleske ist vor allem wichtig, sich das Herz berühren zu lassen. Vom Zauber der Musik.

Wenn wir in der Liebe sind werden Dinge zu uns sprechen, werden Menschen zu uns sprechen, werden Situationen zu uns sprechen und Gott wird ständig zu uns sprechen, weil wir es erlauben durch die Liebe. Das ist das Tor, das sich öffnet.

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