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SWR2 / SWR Kultur

 

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SWR Kultur Wort zum Tag

05MRZ2025
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Unter der Woche beginnt jeder Tag bei mir genau gleich. Ich versuche, den Wecker möglichst lange zu ignorieren: solange mein Trommelfell das gerade noch mitmacht. Dann schlurfe ich mit halbgeschlossenen Augen in die Küche und greife im Dunkeln nach dem Wasserkocher. Das Wasser wird heiß, ab in die Teekanne, drei lange Minuten – und endlich das, worauf ich gewartet habe: der erste Schluck Tee – ahhh, wunderbar. Ich spüre die Hitze und die anregende Bitterkeit im Mund. – Aber mit dem ersten Schluck fließt nicht nur wohlige Wärme in meinen Körper. Es ist, als ob das Leben selbst in mich hineinströmt. Ich öffne die Augen ganz, blinzle ein wenig und sehe das erste Mal mit Zuversicht, was der aufziehende Morgen so bringt. – Der erste Schluck Tee, und es kommt neues Leben ins Leben.

Jetzt, wo der Frühling in Sicht ist, schaffe ich es manchmal, später am Vormittag Sport zu machen. Ich schwitze auf dem Rennrad, ich bin ganz außer Atem, und zurück in der Küche greife ich zuerst zur Wasserflasche. Aber es ist ein ganz anderer Durst, den ich da stille. Ein anderer Durst als der am frühen Morgen. Ich fühle mich schon ganz ausgetrocknet. Die Kehle ist rau, der Körper zittrig. Hastig schütte ich große Schlucke Sprudel in meinen Mund, Hauptsache Flüssigkeit.  

Zweimal trinken: einmal aus der Not heraus, schnelles Wasser nach dem Sport. Das andere Mal zur Eröffnung eines neuen Morgens, aus dem Halbschlaf des Alltags heraus.

Neulich habe ich in einem Gottesdienst das Abendmahl ausgeteilt – kleine Brotstücke zuerst, und dann den Traubensaft. Am Schluss habe ich auch selbst beides empfangen. Und während ich den Schluck Traubensaft getrunken habe, habe ich mich gefragt: Woran erinnert mich dieses Trinken mehr? Ähnelt es dem Trinken nach dem Sport? Hauptsache Flüssigkeit, um nicht zu verdursten? Oder ähnelt es dem ersten Schluck Tee am Morgen – mit dem neues Leben ins Leben kommt?

Vielleicht ist es auch beides – weil Jesus beides verspricht. Er hilft mir in äußerer und in innerer Not. Er stärkt mich, wenn meine Kehle ganz trocken ist. Oder meine Seele. Ausgetrocknet nach den Anstrengungen des Lebens. Dann fängt Jesus mich auf und erquickt mich. Und Jesus bringt auch neues Leben in mein Leben. Er lässt mich aufwachen aus dem Halbschlaf des Alltags und ermöglicht mir, groß zu träumen. Er ermöglicht mir auch heute, wach und mit Zuversicht ganz lebendig zu leben. 

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SWR Kultur Wort zum Tag

04MRZ2025
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Er ist der wichtigste Dichter der Ukraine: Serhij Zhadan. Doch seit einem dreiviertel Jahr dient er als Soldat. Im Krieg gegen Putins Russland. Denn er will seinem Land nicht nur mit Worten dienen. Sondern auch mit Taten. Wie so viele andere durch den Einsatz von Leib und Leben.

Serhij Zhadan wurde 1974 in der Ostukraine geboren. Mit wilder Entschlossenheit hat er sich für den Demokratisierungsprozess der Ukraine engagiert und bei der „Orangenen Revolution“ auf dem Maidan in Kiew 2014 gekämpft. Und er hat geschrieben: Romane, Essay und vor allem Gedichte. Als Putin 2022 die Ukraine überfällt, macht er erst weiter wie bisher – Worte sind seine Waffen. Er gibt Interviews in allen großen Medien Europas und schreibt Reportagen und Gedichte. Dann die Wende – Worte als Waffen reichen ihm nicht mehr. Er meldet sich freiwillig zum Militärdienst, im April 2024.

Und nun hat Zhadan ein Buch mit neuer Poesie veröffentlicht. Und erkundet darin die Tiefendimensionen unseres Menschseins. Er schreibt: – „Doch an den traurigsten Tagen/kreis über mir – Vogel des Vertrauens./Und in den trübsten Zeiten, inmitten von Lärm und Erstarrung, bleib bei mir, Sprache – Sprache des Zweifels,/Sprache der Freude,/Sprache des Dankes.“

Vertrauen ist das eine, was wir Menschen brauchen, um zu leben. Um zu überleben und um menschenwürdig zu leben. Egal, ob wir Freudenfeste auf dem Maidan feiern oder im Krieg gegen einen Diktator kämpfen. Gerade auch an den traurigsten Tagen, wenn Menschen um uns herum sterben und das Leben verkümmert, brauchen wir Vertrauen. Und ahnen zugleich, dass wir es nicht selbst hervorbringen können. So dass wir darum bitten müssen: Doch an den traurigsten Tagen/kreis über mir – Vogel des Vertrauens.

Aber wo landet der Vogel des Vertrauens? Zhadan sagt: in unseren Worten. Vertrauen muss zur Sprache kommen, um unser Herz zu erreichen. Wenn wir verstummen, verkümmert auch das Vertrauen zwischen uns Menschen. Denn wir sind Wortwesen. Daher schreibt er: „Und in den trübsten Zeiten, inmitten von Lärm und Erstarrung, bleib bei mir, Sprache – Sprache des Zweifels,/Sprache der Freude,/Sprache des Dankes.“

Zhadan dient der Ukraine mit seinem Militärdienst. Und er dient allen Menschen auf der Welt mit seinen Worten. Indem er zur Sprache bringt, was wir zu wahrem Leben brauchen.

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SWR Kultur Wort zum Tag

03MRZ2025
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Gestern ist die Vesperkirche in Ludwigsburg zu Ende gegangen. Drei Wochen lang haben wir in der Friedenskirche jeden Tag Mittagessen angeboten. Für 500 Menschen. Eine warme Suppe, ein reichhaltiges Hauptgericht und einen leckeren Kaffee. Und jeden Tag waren über 60 Ehrenamtliche im Einsatz. Schnippeln, kochen, backen, abwaschen und vor allem servieren. Drei Stunden lang laufen sie zwischen der Essensausgabe und den Tischen hin und her. Immer aufmerksam und freundlich: „Sie wollten den Kaffee ohne Milch, nicht wahr? Bitteschön!“ Schade, dass die Tische und Stühle in den Seitenschiffen jetzt wieder abgebaut werden. Ich mag es, wenn es in der Kirche nach Gulasch riecht und überall Leute herumwuseln.

Noch mehr beeindruckt mich allerdings, wer da alles zusammengekommen ist. Einmal habe ich an einem Tisch mit zwei älteren Frauen aus der Ukraine gesessen. Die haben mich in gebrochenem Deutsch freundlich begrüßt – „Hallo, alles klar, mein Herr?“ Noch ehe ich antworten konnte, hatten sich schon zwei Schülerinnen dazugesetzt. Sie kichern miteinander und schauen dann doch auf. „Die sich gerade noch hinsetzt – ist das nicht unsere Erste Bürgermeisterin?“  Schließlich steuern noch zwei Damen mit weißen Schürzen die letzten freien Plätze an: „Eigentlich bedienen wir hier. Guten Appetit allerseits!“

Acht Menschen aus vier ganz verschiedenen Lebenswelten. Die meisten werden sich vorher und nachher nicht mehr begegnen. Und doch sitzen sie hier an einem Tisch, für eine gute halbe Stunde. Schauen auf, lächeln vorsichtig, beginnen zu sprechen. Verlassen ihre Komfortzone, öffnen sich füreinander. Ganz flüchtig, aber ganz real.

Die Kulturwissenschaftler sagen: Das ist ein „Dritter Ort“. Ein Ort der Begegnung von Menschen, die jeweils ihre vertrauten Orte verlassen haben. Ihre Blasen, wie wir heute sagen. Dritte Orte – an ihnen entsteht etwas Neues. Ganz spontan verstehen sich zwei ganz unterschiedliche Menschen. Und entwickeln eine inspirierende Idee – „ach, vielleicht könnte ich bei unserem Nachbarschaftstreff ja auch mal internationales Essen anbieten. Kommen Sie doch mit Ihrer ukrainischen Suppe bei uns vorbei!“

Ein dritter Ort: Für mich ist das auch ein gesegneter Ort. Weil hier Leben ins Leben kommt. Und manchmal glaube ich zu sehen, wie Gottes Geist über dem Tisch schwebt und lächelt.

Gestern ist die Vesperkirche in Ludwigsburg zu Ende gegangen. Ich vermisse ihre gesegneten Dritten Orte schon jetzt. Und ich frage mich, wo ich in dieser Woche für ein paar Minuten mit Menschen aus einer ganz anderen Blase ins Gespräch kommen kann. Ganz flüchtig, aber ganz real.   

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SWR Kultur Wort zum Tag

11DEZ2024
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„Die Nacht ist vorgedrungen – der Tag ist nicht mehr fern – So sei nun Lob gesungen – dem hellen Morgenstern“ – so beginnt eines meiner liebsten Adventslieder. Noch ist es ganz dunkel, morgens, wenn ich zur Arbeit gehe. Doch ich sehe aus manchen Fenstern einen Weihnachtsstern leuchten. Oder eine angestrahlte Krippe. Zeit, den Morgenstern zu loben – Jesus Christus, der alle Finsternis erhellt.

„Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern“: Jochen Klepper hat diese Zeilen gedichtet, 1938. In einer Zeit, die er selbst wie eine tiefe Nacht erlebt hat. 1903 wurde er als Pfarrersohn geboren und hat dann selbst Theologie studiert. Schon damals ist er ein Außenseiter, nicht nur, weil er unter Asthma leidet. Eine schwere Nervenkrise zwingt ihn, das Studium abzubrechen. Er wird Journalist und Rundfunkassistent.

Dann kommen die Nazis an die Macht, und Jochen Klepper verliert seine Anstellung. Denn er ist seit 1931 mit Johanna Stein verheiratet, einer Jüdin, die zwei Töchter mit in die Ehe bringt.

Er arbeitet als freier Schriftsteller und schreibt vor allem Texte für geistliche Lieder. Texte, die sich der Dunkelheit entgegenstellen, die seine Zeit prägen. „Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein – der Morgenstern bescheinet – auch deine Angst und Pein.“ Während die eine Tochter nach England ausreisen kann, wird der entsprechende Antrag für seine Frau und die andere Tochter abgelehnt. Ein letztes Mal macht sich Jochen Klepper auf und geht persönlich zu Adolf Eichmann, um die Ausreise zu erwirken. Doch er kehrt unverrichteter Dinge zurück. Da beschließt Jochen Klepper, mit seiner Frau und der Tochter gemeinsam aus dem Leben zu scheiden, am 11. Dezember 1942. Er schreibt in sein Tagebuch: „Wir sterben nun – ach, auch das steht bei Gott. Wir gehen in der Nacht gemeinsam in den Tod. Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben.“

Ich hoffe, dass für Klepper gilt, was er selbst im dritten Vers seines Adventslieds geschrieben hat: „Beglänzt von seinem Lichte – hält Euch kein Dunkel mehr. Von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her.“ Mich lassen diese Zeilen getrost in den Tag starten. Egal, ob mich am Morgen eine äußere oder eine innere Dunkelheit bedroht – Gott wird mit seinem Licht mein Leben erhellen. Es ist Advent.

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SWR Kultur Wort zum Tag

10DEZ2024
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„Leise rieselt der Schnee“. So singen wir alle Jahre wieder. Ob der Schnee in dicken Flocken vom Himmel fällt oder als Eisregen, spielt dabei keine Rolle. Schnee ist Schnee. Die Inuit freilich, die in arktischen Regionen der Erde leben, kennen viele Dutzend Bezeichnungen dafür. Nutaryuq – das ist der gerade gefallene Neuschnee. Kanevvluk – das ist der leichte Schnee, der etwas pulvrig ist und schon von wenig Wind weggepustet wird. Und utvak bezeichnet den Schnee, der ganz fest ist und gut zusammenhält, eine Art „Schneeblock“. Nutaryuq – kanevvluk – utvak: drei von vielen Worten für das, wofür wir im Deutschen nur ein Wort haben: „Schnee“.

Indem die Inuit verschiedene Ausdrücke für das eine deutsche Wort „Schnee“ benutzen, beschreiben sie genauer, was ihnen im Leben wichtig ist. Nutaryuk – das ist nicht einfach nur Schnee. Sondern das ist der Neuschnee, der gerade erst die Tundra bedeckt. Das Herz hüpft vor Freude, dass nun endlich der Winter beginnt. Der Neuschnee ist da, auf dem man die Pfotenabdrücke der Hasen gut sieht. So viel leichter wird Jagd dadurch! Neuschnee, das ist der Bote eines besseren Lebens.

Ich frage mich, ob wir nicht für unser Wort „Glauben“ auch viel mehr verschiedene Ausdrücke bräuchten. Ich merke das, wenn ich gefragt werde: „Glaubst Du eigentlich?“ Am liebsten würde ich antworten: „Die Frage ist mir zu ungenau. Vielleicht, weil wir nur das eine Wort ‚Glauben‘ haben – für etwas, was ich als so unterschiedlich erlebe. Am Anfang ist der Glaube vielleicht wie nutaryuq, wie Neuschnee. Er lässt das Herz hüpfen, weil ich das Leben als wunderschön und glitzernd erlebe. Voller Freude sehe ich überall Spuren Gottes in meinem Leben wie Pfotenabdrücke im Schnee.“

„Dann erlebe ich Phasen, an denen mein Glaube wie kanevvluk ist, wie leichter Schnee. Ein Windstoß fährt durch mein Leben. Ich mache einen Fehler oder erlebe etwas Schwieriges. Schon wird mein Glaube in großen Teilen weggepustet. Meine Seele liegt ganz bloß da, kaum schaffe ich es mehr, mich an Gott zu wenden in meiner Not.“ „Aber dann erlebe ich auch wieder Menschen, deren Glaube wie utvak ist, fest wie ein Schneeblock. Die erzählen mit großer Freude von ihrem Glauben auch dann, wenn sie die einzigen Christen in einer großen Gruppe sind. Das beeindruckt mich und lässt auch meinen Glauben ein wenig mehr wie utvak sein.“

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SWR Kultur Wort zum Tag

09DEZ2024
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Vergesset nicht
Freunde
wir reisen gemeinsam

So beginnt ein Gedicht von Rose Ausländer.

Vergesst nicht – Freunde – wir reisen gemeinsam
besteigen Berge
pflücken Himbeeren
lassen uns tragen
von den vier Winden

Die Worte von Rose Ausländer gehen mir zu Herzen. Die Zärtlichkeit, mit der sie das gemeinsame Reisen von uns Menschen beschreibt: „Wir besteigen Berge, pflücken Himbeeren, lassen uns tragen von den vier Winden.“ Die ganze Menschheit auf gemeinsamer Lebensreise wie auf einem Sommerausflug. Beinahe paradiesisch.
Doch zugleich ist die Welt geteilt. In politische Lager, extremistische Parteien, kriegsführende Völker. Menschen werden vernichtet: Migranten, Jüdinnen, Kinder in Kriegsgebieten. Auch das findet sich in ihrem Gedicht: 

Vergesset nicht, schreibt sie,
vergesset nicht,
es ist unsre
gemeinsame Welt
die ungeteilte
ach die geteilte
Die uns aufblühen lässt, die uns vernichtet.

Ach, die geteilte Welt. Voller Hass und Hetze. Die uns zu vernichten droht. Rose Ausländer hat das selbst erlebt. Sie wird 1901 in eine jüdische Familie. Die Nazis erobern die Stadt, Rose Ausländer wird ins Ghetto gesperrt, ihr Leben ist täglich bedroht. Sie überlebt diese Zeit nur mit Glück in einem Kellerversteck. Es heißt, dass sie auch danach Zeit ihres Lebens aus Koffern gelebt hat. Eine wirkliche Heimat in äußeren Orten hat sie nie mehr gefunden. Sie bleibt ruhelos: zieht erst wieder in die USA und dann doch zurück nach Europa, nach Wien, schließlich nach Deutschland. Von 1966 bis zu ihrem Tod lebt sie in einem jüdischen Seniorenheim in Düsseldorf und verlässt dort die letzten zehn Jahre ihr Zimmer nicht mehr. Ein Zuhause findet sie nur noch in Wörtern, im Wort. Sie schreibt hunderte von Gedichten und wendet sich mit ihren Worten der Welt zu, in der sie so Furchtbares erlebte.   

Vergesset nicht
es ist unsre
gemeinsame Welt
die ungeteilte
ach die geteilte

die uns aufblühen läßt
die uns vernichtet
diese zerrissene
ungeteilte Erde
auf der wir
gemeinsam reisen

Für mich ist das eine Botschaft, die zum Advent passt. Gemeinsam reisen – trotz aller Hass und Hetze. In der Familie, am Arbeitsplatz, im Verein eine gemeinsame Aktion starten. Gemeinsam einem Licht entgegen reisen, das jeden Tag ein wenig heller leuchtet.

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SWR Kultur Wort zum Tag

07AUG2024
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Viele sind zutiefst erschüttert von den Ereignissen vom 07. Oktober, von dem Terrorangriff der Hamas auf Israel. Vom Morden der Hamas. Aber auch von den vielen Toten auf palästinensischer Seite durch die Reaktion Israels. Und viele Menschen sind davon erschüttert, wie sehr sich die Gräben weiter vertiefen zwischen den Israelis und den Palästinensern im Nahen Osten. Eigentlich sind sie sprachlos. Und doch gibt es einige, die sagen: gerade jetzt müssen wir „trotzdem sprechen.“

„trotzdem sprechen“ – so heißt ein Buch, das ich vor ein paar Wochen angefangen habe zu lesen und das mich seitdem aufwühlt. Darin kommen Menschen aus Deutschland zu Wort, die aus dem arabischen Raum stammen. Und die erzählen, wie sich auch ihr Leben hier in Deutschland nach dem 07. Oktober verändert hat. Herausgegeben hat das Buch Lena Gorelik – sie ist eine deutsche Schriftstellerin aus jüdischer Familie, die enge Verbindungen mit diesen Menschen pflegt.

Mich hat besonders der Beitrag von Nazih Musharbash berührt. Er ist ein Christ wie ich und besitzt wie ich die deutsche Staatsbürgerschaft. Doch er erlebt Deutschland momentan ganz anders als ich, das Mitglied der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Weil Musharbash geborener Palästinenser ist und somit auch wie ein Araber aussieht, wird er oftmals nicht für einen Deutschen gehalten. Und da viele Deutsche nicht wissen, dass es eine christliche Minderheit in Palästina gibt, wird er mit seinem arabischen Aussehen automatisch für einen Muslim gehalten. Als arabischer Muslim aber wird er verdächtigt, Sympathien für die Hamas zu haben. In jedem Radiointerview, das er gibt, wird er aufgefordert, sich ausdrücklich von der Hamas zu distanzieren. Er, der christliche Deutsche, der seit 58 Jahren hier lebt, er, der im Stadtrat und im Kreistag von Osnabrück gesessen hat, um Deutschland mitzugestalten: Er wird seit dem 07. Oktober in der Öffentlichkeit allzu oft für einen Unterstützer der Hamas gehalten. Jeden Tag muss er sich gegen Worte und Blicke zur Wehr setzen, die von seinem Äußeren auf seine Gesinnung schließen wollen.

In dieser Situation sagt er: Ich will trotzdem sprechen. Mein Glaube gibt mir die Kraft dazu. Mit den Menschen will ich trotzdem sprechen, die mir Nähe zum Terror unterstellen, und mit allen Menschen, die andere aufgrund ihres Aussehens beurteilen. Denn trotz unserer verschiedenen Aussehen pulsiert in den Adern von uns allen dasselbe Blut. Und in Gottes Augen sind wir alle gleichermaßen seine geliebten Kinder. Davon will ich gerne „trotzdem sprechen“.

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SWR Kultur Wort zum Tag

06AUG2024
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Seit über 1000 Jahren ist die Insel Reichenau im Bodensee schon besiedelt. Und genauso alt sind die Klosterkirchen, die die Mönche dort errichtet haben. Besonders beeindruckt haben mich bei meinem Besuch die Wandgemälde in St. Georg. Sie stellen verschiedene Szenen aus dem Leben Jesu dar. Auf dem ersten Bild sehe ich, wie sich Jesus mit segnender Hand einem Menschen nähert. Er steht außerhalb der Stadtmauern: Es ist ein Aussätziger, ausgestoßen von der ganzen Gesellschaft. Indem sich Jesus ihm nähert, erfährt der Aussätzige wieder menschlichen Kontakt. Buchstäblich und auch im übertragenen Sinne – er wird von Jesus aus seiner Einsamkeit herausgeholt und in die Gemeinschaft hineingebracht.

Das Bild daneben stellt die Geschichte von der Auferweckung der Tochter des Jairus dar. Die Tochter ist schwerkrank. Die Eltern sind verzweifelt und rufen nach Jesus. Während Jesus zu ihr eilt, kommen ihm Diener entgegen und sagen, dass sie bereits gestorben ist. „Sie schläft doch nur“, erwidert Jesus, fasst sie an der Hand und sagt: „Steh auf – auferstehe – heraus aus Deiner schweren Krankheit, hinein in dein junges Leben“. Und tatsächlich steht das Mädchen auf, reibt sich die Augen und hat Hunger.

Zuletzt ein Bild von der Auferweckung des Lazarus. Lazarus ist tatsächlich bereits ins Reich der Toten gegangen. Vier Tage zuvor ist er gestorben, und das heißt nach antiker Tradition: Jetzt ist er wirklich mausetot. Aber Jesus lässt auch Lazarus nicht im Totenreich, sondern ruft ihn zurück ins Leben. 

Was verbindet diese Bilder? Für mich zeigen sie verschiedene Formen von Auferstehung. Jesus holt einen Menschen aus seiner sozialen Isolation zurück in die Gemeinschaft. Außerdem schenkt er neue Lebensgeister in schwerer Krankheit. Und er lässt selbst die nicht allein im Totenreich, die schon länger gestorben sind.

Wenn ich heute Menschen begegne, will ich genau hinhören, welche Form der Auferstehung sie brauchen Brauchen sie Auferweckung aus der Einsamkeit? Oder erlebe ich bei meinem Nachbarn eine schwere Krankheit, die ihn vom Leben abschneidet? Oder hoffe ich für einen verstorbenen Verwandten, dass sein Tod ihn nicht von Gott trennt?

Ich lasse mir die Bilder in St. Georg gefallen. Und ihre Grundaussage – dass Jesus genau diejenige Form der Auferstehung schenkt, die ein Mensch gerade braucht. Im Leben und im Tod.  

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SWR Kultur Wort zum Tag

05AUG2024
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Wenn ich müde bin, lege ich mich auf mein Sofa und schaue durch das Fenster auf den Perserteppich, der bei meinem Nachbarn an der Wand hängt. Es ist ein riesengroßer Perserteppich voller wunderbarer Blumen. Und ich erinnere mich an die gute Tradition persischer Teppichknüpfer, in jeden noch so kunstvollen Teppich einen kleinen Fehler hineinzuarbeiten. Einen Webfehler. Eine faszinierende Idee: Denn dadurch werden die Perserteppiche menschlicher. Wärmer. Und die Teppichknüpfer bringen zum Ausdruck, dass nur Gott perfekt ist. Kein Mensch, auch kein noch so begabter Handwerker. Neulich bin ich an einem Plakat vorbeigekommen, das diese Kunst auf den Punkt gebracht hat. Darauf stand: „When too perfect, lieber Gott böse“ – wenn es zu perfekt ist, dann ist der liebe Gott böse.

Der Spruch stammt von dem koreanischen Künstler Nam June Paik. Paik hat sich mit moderner Technik auseinandergesetzt und sie gefeiert, aber auch kritisiert. Denn die moderne Technik zielt ja auf Perfektion: Mein neues Smartphone liegt nochmal besser in der Hand als das Vorherige. Seine Fotos sind fast so gut wie die von einer professionellen Kamera, und die sieht mittlerweile viel besser als jedes menschliche Auge. Moderne Technik zielt auf Perfektion, und im Alltag profitiere ich ja oft davon. Aber manchmal hat dieses Streben nach Perfektion auch etwas Ermüdendes. Während ich als Mensch mit meinen Fähigkeiten langsam abbaue, setzt der Fortschritt immer noch eins drauf. Geradezu unmenschlich kann das sein.

Gott aber mag es nicht, wenn Menschen so tun, als wären sie Gott – mit Paik gesprochen: „When too perfect, lieber Gott böse“. 

Der Satz ist eigentlich auch eine gute Zusammenfassung der Rechtfertigungslehre. Steh zu deinen Fehlern, zu deinen Unzulänglichkeiten. Stehe zu deinem Menschsein. Gott verlangt garkeine ständige Perfektionierung von mir. Ich denke den Gedanken weiter. Vielleicht so: „When not perfect, lieber Gott lächelt“ – wenn ich nicht perfekt bin oder wenn ich einen Fehler mache, dann lächelt Gott. Weil er will, dass wir auch lächeln. Ich denke über mich selbst nach: Wie oft ärgere ich mich über einen Fehler von mir. Manchmal liege ich eine halbe Nacht wach und komme kaum zur Ruhe, weil ich etwas nicht perfekt gemacht habe. Anstatt voller Groll dazuliegen, werde ich in Zukunft versuchen, darüber zu lächeln. Oder ich hänge am nächsten Morgen ein Plakat auf, leicht schräg, und mit dem Spruch drauf: When too perfect, lieber Gott böse.“

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SWR Kultur Wort zum Tag

18MAI2024
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Seit 800 Jahren liegt es malerisch am Rhein, das Schloss Beuggen direkt an der Schweizer Grenze. Heute erstrahlt es in frischem Glanz und ist ein Erholungsort für die Bessergestellten unserer Gesellschaft. Aber vor 200 Jahren war das Schloss fast ganz zerfallen – und dennoch begann gerade damals das vielleicht eindrücklichste Kapitel seiner langen Geschichte. Denn 1820 hat Heinrich Christian Zeller dieses Schloss zum Rettungshaus für arme Kinder und Jugendliche umgewandelt und damit eine Bewegung begründet, die in ganz Deutschland Schule gemacht hat. Heute ist Zellers Gedenktag, und ich freue mich, von ihm für unsere Gegenwart zu lernen.

Zeller wird in eine gutbürgerliche Familie hineingeboren, die erst bei Tübingen und dann in Ludwigsburg wohnt. Der Vater ist ein angesehener Jurist. Doch die Schulzeit ist für den klugen, aber ruhigen Zeller eine Qual. Schläge sind an der Tagesordnung, und die Kinder werden vor der ganzen Klasse bloßgestellt, wenn sie ihre Aufgaben nicht gut lösen.

Zeller tritt in die Fußstapfen des Vaters, studiert Jura und beginnt, als Anwalt zu arbeiten. Seinem Naturell und seiner christlichen Prägung entsprechend hat er jedoch gar kein Interesse daran, für seine Mandanten einen Sieg zu erringen. Schließlich sieht auch der Vater ein, dass aus dem Sohn kein guter Jurist wird, und erlaubt ihm, Lehrer und Schulinspektor in der Schweiz zu werden. Doch dann gibt Zeller diese gesicherte Stellung auf und beginnt das große Abenteuer seines Lebens: den Aufbau einer Schule für „verwahrloste“ Schüler. 1820 bekommt er dafür Schloss Beuggen zur Verfügung gestellt und unterrichtet nach seinen eigenen Grundsätzen. Der Tag beginnt mit einer Andacht, und diese besteht nicht in einer abstrakten Belehrung, sondern in einem Gespräch mit den Schülern. Ebenso wie die angehenden Lehrer erhalten auch die Schüler eine handwerkliche Ausbildung. Und die Rute bleibt dort, wo sie hingehört – nämlich draußen.

Was Heinrich Christian Zeller geleistet hat und wie konsequent er seinen Weg gegangen ist, beeindruckt mich auch heute noch. Weil er dafür die Muster seiner eigenen Kindheitserfahrungen verändert hat. Indem er das nicht weitergegeben hat, was er an übergroßer Härte selbst erfahren hat. Sondern aufgrund von schlechten eigenen Erfahrungen eine neue Umgangsweise für kommende Generationen entwickelt hat. Offener, im echten Gespräch miteinander und ganzheitlich. – Aus Glaubenszuversicht eigene negative Kindheitserfahrungen in positive Muster umzuwenden: Darin will ich selbst zum Schüler des großen Lehrers und Schulgründers Zeller werden.  

Pfarrer Martin Wendte aus Ludwigsburg von der Evangelischen Kirche 

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