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SWR4 Sonntagsgedanken

31DEZ2023
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Auf dem Flur vor meinem Büro steht eine altehrwürdige Standuhr aus Holz. Sie sieht schön aus, aber das Uhrwerk hat schon lange seinen Dienst quittiert. Zwecklos steht sie da und erzählt nur noch von vergangenen Zeiten. Ein Spaßvogel hat sie irgendwann einmal eingestellt. Sie zeigt jetzt 5 vor 12. Immer. Manchmal spüre ich die Warnung, den Aufruf, der in dieser Uhrzeit steckt: Die Zeit läuft davon! Manchmal muss ich aber auch schmunzeln. Ich weiß ja, dass der Zeiger nicht weiter geht. 

Heute Nacht wird das anders sein. Kurz vor Mitternacht werde ich irgendwo mit Freunden stehen und diese ganz eigene Silvesterspannung spüren. Hektisch eingegossene Sektgläser. Parat gelegte Wunderkerzen. Und dann die Zeiger der Kirchturmuhr beobachten und die letzten fünf Minuten runterzählen. Sie werden ganz gewiss vergehen, bis ein Gemisch aus Feuerwerk und Kirchenglocken das neue Jahr ankündigt. Und ganz sicher werde ich mir auch eine Träne wegwischen. An Silvester bin ich melancholischer als im Rest des Jahres.

Am letzten Tag des Jahres stehen mir die Momente und Zeiten des zu Ende gehenden Jahres nochmal deutlich vor Augen. An Silvester spüre ich alles gleichzeitig. Das Staunen über die vielen schönen Momente, die mir das Jahr geschenkt hat. Die Trauer über die schweren Momente, als ich Abschied nehmen musste. Als Hoffnungen zerbrachen und Leben zu Ende gegangen ist. Ich spüre die Leere in der Ecke in meinem Herz, in dem so vieles offen geblieben ist. Direkt daneben sitzt die Dankbarkeit für schöne Zeiten. An Silvester spüre ich das alles gleichzeitig. In der Bibel ist das großartig in Worte gefasst.

Alles hat seine Zeit,
Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit;
pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit;
töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit;
abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;
weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit;
klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit;
Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit;
herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit;
suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit;
behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit;
zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit;
schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit;
lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit;
Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.
(Prediger 3)

Alles hat seine Zeit. Aber nicht alle Zeiten sind deswegen gleich. Mir gefällt der Gedanke, dass Gott uns die Ewigkeit ins Herz gelegt hat – dass wir sie aber nicht ergründen können. Manchmal kann ich das spüren: In meinem Herz ist so viel Platz für mehr als für die Dinge, wie sie sind. Da ist Platz für Sehnsucht nach mehr Halt, mehr Frieden, mehr Liebe, da ist Energie für Dinge, die Mut und Entschlossenheit und Gottvertrauen brauchen. Mein Herz ist der Ort, in den Gott die Fenster zur Ewigkeit gesetzt und geöffnet hat. Nichts von dem, was mir im letzten Jahr den Kalender gefüllt, viel Lebenszeit gekostet und manchmal auch genommen hat, nichts von dem, was mich oft über Tage in Beschlag genommen hat, hat grenzenlose Bedeutung. Alles, was passiert, hat einen Anfang und ein Ende. Nur Gottes Ewigkeit ist anders. Der Prediger in der Bibel, der uns diese poetischen Worte geschenkt hat, zieht daraus eine klare Folgerung: Was uns am Ende bleibt, ist: fröhlich sein und sich gütlich tun im Leben.

Leichtigkeit in die Füße und ins Herz – auch am dünnhäutigsten Abend im Jahr. Das ist mal eine Ansage. Und ich lasse sie mir gern sagen. So kommt Luft in die Melancholie. Und über die vielen unterschiedlichen Zeiten des letzten Jahres weht ein frischer Wind.

Am Ende hält Gott jeden Augenblick in der Hand. Am Ende und von allem Anfang an hat alles seine Zeit aus Gottes Ewigkeit.

Dass ich daran glaube, führt auch dazu, dass sich am letzten Abend des Jahres mein Blick weitet. Weg von mir und dem, was mich beschäftigt hat, hin zu denen, die dieses Jahr so ganz anders beenden als ich. Hin zu denen, die so drängend und sehnsüchtig und konkret auf Frieden hoffen. Hin zu denen, bei denen jede Nacht begleitet ist vom Sausen und Pfeifen der Raketen und von der Angst um das eigene Leben. Hin zu denen, die an diesem Abend und an allen anderen Abenden des Jahres einsam sind und längst niemanden mehr haben, der ihnen ein freundliches Wort und Zuwendung schenkt.

Hin zu denen, die sich mit Sorgen fragen, wie das neue Jahr werden wird und wie sie über die Runden kommen. Hin zu Ihnen, mit welchen Gedanken und Gefühlen auch immer Sie diesen Tag heute begonnen haben. Ich glaube: Auch Sie sind in Gottes Ewigkeit aufgehoben. Ich wünsche Ihnen einen gelassenen Blick zurück und gesegnete Schritte in ein gutes Jahr 2024.

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SWR4 Sonntagsgedanken

26NOV2023
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Als Studentin war ich viel spazieren, um meine Gedanken zu sortieren. Oft hat es mich auf den verwunschenen Friedhof gezogen, der ganz in der Nähe war. Dort konnte ich meine Gedanken sortieren. Am Anfang war mir dabei noch etwas seltsam zumute. Heute mag ich Friedhöfe. Ich mag diese besondere Stille, die alten Bäume und die langen Alleen. Am Eingang jenes Friedhofs steht ein großer Torbogen. Dort sind Worte aus der Bibel zu lesen: „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“ Heute am Ewigkeitssonntag gedenken wir in der evangelischen Kirche der Menschen, die im vergangenen Jahr gestorben sind.

Die Wege auf dem Friedhof können lang sein. Für die Menschen, die einen geliebten Menschen verloren haben, ist es ein schwerer Weg von der Trauerhalle zum Grab. Jetzt wird es endgültig: der Sarg mit Omi, mit dem Ehemann, mit der Tochter, mit dem Freund wird begraben. Die Arbeitskollegin kommt nie mehr wieder, der Platz des Klassenkameraden bleibt leer, die Nachbarin winkt nicht mehr vom Zaun rüber. Auf diesem Weg fließen viele Tränen. Als Pfarrerin habe ich unzählige Male Menschen auf diesem Weg begleitet. Egal, ob es brütend heiß war oder ob es aus Kübeln geregnet hat, wenn ich als Pfarrerin diesen Weg gegangen bin, war das für mich oft ein sehr nachdenklicher Moment, fast meditativ. Als Pfarrerin gehe ich den Weg zwischen dem Toten im Sarg oder in der Urne und den Lebenden.

Oft ist mein Blick auf die Grabsteine rechts und links vom Weg gefallen. Auf Blitzlichter von gelebtem Leben. Auf dem Friedhof drängt sich mir die Endlichkeit meines Lebens auf. Wenn ich an Grabsteinen vorbeigehe mit einem Geburtsjahr, das nach meinem eigenen liegt, berührt mich das besonders. Wie werde ich einmal sterben? - Wird da jemand sein, der meine Hand hält? Beim Weg an den Gräbern entlang hatte ich oft noch die Worte aus dem letzten Buch der Bibel im Ohr, die bei der Trauerfeier gelesen wurden: 

Gott wird bei den Menschen wohnen ... und wird ihr Gott sein;
Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.

Diese Aussichten aus der Offenbarung des Johannes verändern meinen Blick auf die Vergänglichkeit. Wenn das Erste vergangen ist, dann wird Gott selbst den Trauernden die Tränen von den Augen wischen. Das hat mich oft getröstet.

Auf dem Friedhof und in diesen Novembertagen wird mir neu bewusst, dass mein Leben endlich ist. In der Bibel lese ich die Verheißung, dass Gott am Ende des Lebens auf uns wartet. Am Ende aller Tage wird der Tod nicht mehr sein und auch Leid, Geschrei und Schmerz werden ein Ende haben.

Im letzten Sommer bin ich den Weg von der Trauerhalle zum Grab anders gegangen. Betäubt und wie unter einem Schleier. Wir haben meinen Vater zu Grabe getragen. Dass er in diesem Jahr sterben würde, das hatten wir vor einem Jahr noch nicht kommen sehen. Wenige Tage vor seinem Tod habe ich ihn nochmal besucht. Dass es ein Abschied für immer würde, das habe ich nur sehr leise geahnt.

Die tröstlichen Worte der Pfarrerin drangen kaum in meine Seele. Die Musik hörte ich nur von Ferne. Ich sah vor mir den Sarg stehen, die Kränze und die Blumen, die wir als Familie ausgesucht hatten. „Befiehl du deine Wege“ haben wir gesungen und ich habe all meine Sehnsucht nach Halt in dieses Lied gelegt. Der Weg zum Grab fühlte sich so falsch an. Dass mein Vater da nun in die Erde versenkt wurde, dass sein Name auf dem Holzkreuz stand – all das fühlte sich so falsch an.

Heute, am Ewigkeitssonntag, wird auch der Name meines Vaters im Gottesdienst verlesen. Ich werde eine Kerze für ihn anzünden in einer Kirche, mir Zeit nehmen für die Erinnerung an ihn. Und ich denke dankbar an den Freund, der mir in den Tagen nach dem Tod meines Vaters täglich ein Bild schickte mit einer Kerze, die er für meinen Vater und für mich angezündet hatte. Das hat mich getragen. Wie die anderen behutsamen Zeichen von Nähe im richtigen Moment. WhatsApp-Nachrichten, Anrufe und Umarmungen. Es hat mich getragen, dass ich wusste und gespürt habe, dass Freundinnen und Freunde an mich gedacht haben und für mich gebetet haben.

Die Erinnerung heute, der Tod im Sommer und die Tränen, die sich manchmal unvermittelt ihren Weg bahnen – das alles ist leise und still.

Wieder habe ich die Worte aus der Bibel im Ohr: Und er wird abwischen alle Tränen von ihren Augen. In dieses Bild lasse ich mich gern hineinfallen, wenn ich wieder einmal im freien Fall bin. Ich brauche die anderen, die mir sagen, dass sich Gott mir einmal behutsam zuwendet und eigenhändig die Tränen von den Augen und Wangen wischt. Behutsam und liebevoll. Die meine Hoffnung hochhalten, dass Gott die Tränen der Verzweiflung und der Trauer sieht, die durchweinten Nächte und meine zerkratzte Seele.

Irgendwann einmal werden die Spuren von Leid und Geschrei, von Schmerz und Wunden nicht mehr sein. Gott wird meine Seele heilen. Dann wird der Schmerz über die Abbrüche und Abschiede in meinem Leben nicht mehr sein. Ja, Gott selbst wird einmal einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen. Bis es so weit ist, muss ich mich meiner Tränen nicht schämen. Nicht auf dem Friedhof und auch sonst nirgends. Gott wischt sie eigenhändig ab. Auch heute, wenn ich so ganz anders als sonst über den Friedhof gehe.

Ich wünsche Ihnen einen tröstlichen Sonntag und eine gesegnete Woche.

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SWR4 Sonntagsgedanken

04JUN2023
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Wie kann es sein, dass der Mensch Jesus zugleich Gott ist? Das haben sich vor über 1500 Jahren mehr als 2000 Theologen bei einem Konzil gefragt. Sie haben darüber gestritten: zwei ganze Monate lang! Das war in dem Ort Nicäa in der Nähe des heutigen Istanbul.

Zwei Monate haben sie gestritten und debattiert: Ist Jesus ein Mensch gewesen? Oder war er Gott – genau wie der, der Himmel und Erde erschaffen hat? Aber wie soll Jesus die Welt erschaffen haben? Er ist schließlich nicht schon immer da gewesen, sondern wurde irgendwann einmal geboren – wie alle anderen Menschen auch. Also doch nicht Gott? Wenn Jesus trotzdem genauso Gott ist, wie Gott der Vater – haben Christen dann nicht zwei Götter? Oder sogar drei – denn der Heilige Geist kommt ja auch noch dazu…

Heute kommen uns solche Diskussionen vielleicht weltfremd vor. Aber damals ging es darum, wie sich die Christen verstehen können. Es ging darum, wie sie den Glauben an den einen Gott vereinbaren können damit, dass Jesus Gottes Sohn war und der Erlöser der Welt.  

Am Ende des Konzils stand ein Kompromiss, und es wurde ein Glaubensbekenntnis formuliert, das in christlichen Gottesdiensten bis zum heutigen Tag an hohen Feiertagen gesprochen wird. Dort heißt es über Jesus, er sei „gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater.“

Zugegeben – auch das klingt immer noch sehr abstrakt.

Aber die Frage treibt mich auch heute um: Wo begegnet mir Gott? Und wer ist Gott für uns? Die Antwort der Theologen von damals lautete. Der eine Gott, das sind drei – der eine Gott, das ist Vater, Sohn und Heiliger Geist. Alle drei zusammen sind der eine Gott.

Mir hilft das, die verschiedenen Weisen zu sehen, mit denen Gott sich mir und der Welt zeigt. Der Vater ist der Schöpfer der Welt. Er hat die Welt ins Leben gebracht und Ordnung ins unendliche Universum. In Jesus Christus hat er uns seine Menschlichkeit gezeigt – und ist selbst Mensch geworden, mit allen Seiten, die das menschliche Leben so zu bieten hat. Mit Lust und Liebe, mit Schmerz und dem Einsatz für eine bessere Zukunft. Mit der Auferstehung Jesu von den Toten hat Gott uns allen die Aussicht auf ein neues Leben jenseits des Todes geschenkt. Der Heilige Geist ist der Windhauch und der Atem Gottes. Er hält den Glauben lebendig und er eröffnet ungeahnte Perspektiven.  

Wie Gott ist, wie wir ihn – oder sie – uns vorstellen können, das bleibt geheimnisvoll. Gott zeigt sich als der, der er ist – als Vater, als Sohn und als Heiliger Geist. Wir sind auf seinen Spuren unterwegs.

Das Geheimnis Gottes zu verstehen ist eine Aufgabe für mehr als ein Leben. Gott wirkt auf vielfältige Weise in unserem Leben, er ist Vater, Sohn und Heiliger Geist. Heute ist der Sonntag, der dem dreieinigen Gott gewidmet ist.

Trinitatis heißt der Sonntag heute. Gottes Wirken in meinem Leben ist oft rätselhaft, manchmal handfest wie der Schöpfer bei der Schöpfung, manchmal verwundbar und heilsam wie Jesus gewirkt und gelebt habt, manchmal leicht und weit wie der Heilige Geist, der dem Leben eine neue Richtung gibt. Die ganz unterschiedlichen Texte der Bibel, die von der Geschichte Gottes mit der Welt erzählen, sind Teil einer großen Suchbewegung. Wenn ich diese Texte lese, dann mache ich mich mit auf die Suche danach, was Hoffnung schenkt und Zuversicht über den Tod hinaus. Das, was Halt gibt und trägt, ist in ganz unterschiedlichen Worten und Stimmen zu hören. Die gute Nachricht wird nicht nur in geschliffenen Formeln hörbar, sondern auch im suchenden Stammeln.

Mich erinnert die Vorstellung von Gott als Vater, Sohn und Heiligem Geist daran, dass er mir auf unterschiedliche Weise begegnet und dass Gott in sich selbst so vielfältig ist wie das Leben und die Welt.

Dem Propheten Jesaja aus dem Alten Testament erscheint Gott gewaltig und groß. Da wird erzählt, wie er in einem überdimensionierten Gewand dasitzt und einen ganzen Raum füllt. Und um ihn herum schwirren besondere Engel. Seraphim. Jeder mit sechs Flügeln.

Ich denke auch an Maria von Magdala. Ihr begegnet Gott als Freund und Vertrauter, ganz nah. Den Jüngern begegnet Gott als Heiliger Geist, der sie mitreißt und wie ein frischer Wind hinaus aus den Mauern ins Leben bläst.

Gott zeigt sich dieser Welt auf ganz unterschiedliche Weise. Wie Göttliches und Menschliches zusammenwirken bleibt ein Geheimnis.

Aber so viel ist sicher: Gott lässt diese Welt als ihr Schöpfer nicht im Stich, er steht an unserer Seite und entreißt uns dem Tod als der Sohn Jesus Christus und er durchweht mein Leben mit seinem Geist, der mich in Bewegung setzt.

Ich wünsche ihnen einen bewegten Sonntag und eine gesegnete Woche.

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SWR4 Sonntagsgedanken

19MRZ2023
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Halbzeit! Von den 40 Tagen, die zwischen Aschermittwoch und Ostern liegen, ist die Hälfte geschafft. Viele, vielleicht auch Sie, fasten in diesen Tagen, verzichten auf Alkohol oder Süßigkeiten. Oder Sie haben sich etwas Bestimmtes vorgenommen. Etwas mehr Sport, ein dickes Buch zu lesen, oder auch mit einer bestimmten Haltung in den Tag zu gehen. „Leuchten! Sieben Wochen ohne Verzagtheit“, so lautet das Motto der diesjährigen Fastenaktion der evangelischen Kirche.

Und jetzt ist Halbzeit! Heute feiern wir ein Gipfelfest, ein kleines Ostern mitten in den Fastentagen. Der Sonntag trägt den lateinischen Namen „Laetare“, was „Freue dich“ bedeutet. Ostern kommt näher, daher hat dieser Tag einen fröhlichen und tröstlichen Charakter.

Tröstlich ist auch ein Vers des Bibeltextes, über den heute in den evangelischen Kirchen gepredigt wird. „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht Gott, der Herr, dein Erbarmer.“ Angesichts der verheerenden Erdbeben in der Türkei und in Syrien klingt das vielleicht wie ein billiger, ja zynischer Trost. Aber gesprochen sind diese Worte in eine katastrophale Krisensituation, dem sogenannten Babylonischen Exil im sechsten Jahrhundert vor Christus. Große Teile der Bevölkerung Jerusalems und Judas waren nach Babylon verschleppt worden. Nur einige Reste der armen Landbevölkerung blieben in Hunger und im Elend zurück. Jerusalem lag in Trümmern, war fast entvölkert. Von dem einst prächtigen Tempel war kein Stein mehr auf dem anderen geblieben.

Da stoßen wie Fanfarentöne die Worte des Propheten in die Situation. Er wendet den Blick im Namen Gottes in eine neue Zukunft. Aus der erdrückenden Perspektive ihres Leids heraus sollen Menschen wieder aufatmen und nach vorne schauen können. Denn nach Jahrzehnten der Zerstörung und des Leids kündigte sich nun am Horizont Befreiung an. Das Volk sollte wieder in sein Land zurückkehren, die Stadt wieder aufbauen und zum Leben erwecken können.

Hoffnungsworte, die mir persönlich Halt geben, wenn ich an die unzähligen Obdachlosen in den Erdbebengebieten denke. An die Menschen in der Ukraine, die in zerstörten Städten ohne Strom und Heizung ausharren. Glauben heißt, mit Widersprüchen zu leben, sie auszuhalten, weil wir der Gnade Gottes trauen. Gewiss gibt es viele Ereignisse, die wir niemals verstehen werden. Aber sich solchen Ereignissen auszuliefern und zu unterwerfen, das würde bedeuten, den Glauben aufzugeben. Der Glaube kapituliert nicht. Er hält sich an die Gnade Gottes und findet darin seinen Trost.

Glaube vertraut in der Tiefe auf Gott, denn gerade dort ist er bei uns. Der Prophet in Babylon, der damals dem Volk in der Krise des Exils Mut zugesprochen hat, ist ein Beispiel eines solchen Glaubens. Seine Worte haben seit Jahrhunderten immer wieder Menschen in schwierigen Situationen ermutigt und ihnen Halt und Zuversicht geschenkt. Hoffnungsstur und glaubensheiter, so spricht auch der Prophet im Exil.

Der Bund seines Friedens soll nicht hinfallen, spricht Gott durch den Propheten. Die Hoffnung auf Frieden ist nicht vergeblich. Gott sagt seiner Welt den Frieden zu. Am Ende wird er diese von Krieg und Zerstörung geschüttelte Welt verwandeln in ein Reich des Friedens. Aus dieser Hoffnung können wir inmitten einer von Gewalt entstellten Welt aus diesem Frieden leben. Unsere Sorge für den Frieden der Welt findet ihren Rückhalt im Vertrauen auf den Frieden Gottes, „der höher ist als alle Vernunft“. Gerade in diesen Zeiten kann das Gebet für den Frieden helfen, angesichts von Krisen und Bedrohungssituationen einen Willen zum Frieden zu zeigen, der auch unter uns wirksam wird.

Diese Hoffnung, dass das Leben den Tod überwindet und dass Gott zu seinen Zusagen steht, feiern wir heute an diesem kleinen Osterfest. Da ragt das Licht des Lebens in die Welt, auf der ein Todesschatten liegt. Es leuchtet uns in der Tiefe und lässt uns den nächsten Schritt gehen, selbst für Frieden und Gerechtigkeit einzutreten.

„Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Kinder Gottes heißen“. Mit diesem Wort Jesu aus der Bergpredigt wurde ich heute vor genau 34 Jahren konfirmiert. Für mich auch genau ein solches Trostwort, dass unser Einsatz für die Friedensarbeit, das Gebet für den Frieden, Schritte zur Versöhnung im persönlichen Umfeld, aber auch als Kirche, nicht vergebens sind. Sondern dass Gott uns den Rücken stärkt und die Kraft dazu schenkt. 

Noch liegen 20 Tage Fastenzeit vor uns. Ostern wird kommen. Noch liegen Zeiten der Finsternis, des Leids und der Angst vor uns. Ostern wird kommen. Und das Leben wird siegen. Ostern nimmt dem Tod die letzte Macht und reißt uns aus dem Bann des Todes. Versöhnung und Frieden sind noch längst nicht erreicht, aber nun kommt Ostern an den Horizont. Als ein Hoffnungsbild gegen die Bilder von Gewalt, Leid und Tod. Daran halte ich fest. Trotz allem vertraue ich schon heute auf die Kraft der Versöhnung, des Lebens und des Friedens.

„Denn meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“

Ich wünsche ihnen einen friedlichen Sonntag und eine gesegnete Woche.

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SWR4 Feiertagsgedanken

01NOV2022
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Über eine Million Mal ist er verkauft worden: Martin Luther – als Playmobil-Figur. Martin Luther im Plastik-Talar und mit Feder und Bibel in der Hand. Keiner kann da mithalten. Keine Playmobilfigur wurde je so oft verkauft.

„Darf man das?“ haben manche seinerzeit gefragt: Den großen Reformator als kleine Spielfigur vermarkten und ein Spielzeug aus ihm machen? Ich denke:  Dem Ernst tut’s keinen Abbruch. Und Humor schadet sowieso nicht. Auch nicht in der Kirche.

Der berühmteste Satz von Martin Luther hat es sogar auf Socken geschafft: „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.“ Das ganze Selbstbewusstsein des protestantisch-trotzigen Reformators liegt in diesem Satz. Mit ihm wurde Martin Luther für die einen zum Mythos, für die anderen zum evangelischen Heiligen. Das kam so:

Vor 501 Jahren ist Martin Luther nach Worms zum Reichstag zitiert worden. Dort wurde er kurz und knapp zu seinen Schriften befragt. Luther hatte darin dem Papst widersprochen. Das war damals ungeheuerlich! Und es war gefährlich! Luther wusste, dass er dafür vor Gericht landen konnte, aber er konnte und wollte sie nicht widerrufen. Er war davon überzeugt: Der Mensch ist vor Gott uneingeschränkt wertvoll. Und Christenmenschen können und sollen das, was sie in der Kirche erleben, kritisch an der Bibel prüfen. Selbst wenn es Worte des Papstes sind. Daran hat Martin Luther unverrückbar festgehalten.

Martin Luther vor dem Kaiser und seinen Leuten in Worms. Das ist eine legendäre Szene aus seinem Leben. Unzählige Kunstwerke zeigen sie.  Mit ihr verbindet sich vieles, was engagierte Christenmenschen sich auf die Fahnen geschrieben haben – von bürgerbewegten Protestanten bis zu aufrechten Verfechterinnen von Maria 2.0: Zivilcourage und Geradlinigkeit. Und der lautstarke Einsatz dafür, dass die Kirchen sich immer wieder reformieren müssen. Martin Luther ist zu einem Vorbild für authentisches und standhaftes Eintreten für eigene Überzeugungen geworden, eben für jene Sturheit, die mehr mit Beharrlichkeit als mit Bockigkeit zu tun hat.

Martin Luther selbst muss sehr stolz auf seine Standhaftigkeit gewesen sein. Sein Leben lang hat er immer wieder über die Szene in Worms erzählt.

Und wie das so ist mit den Geschichten, die wir aus unserem Leben erzählen – sie wurde immer größer, er wurde immer standhafter und der Satz am Ende des Verhörs immer donnernder. Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.

Die Geschichten, die Menschen aus ihrer Erinnerung erzählen, verändern sich mit der Zeit. Das Erlebte wird intensiver, schöner und dramatischer. Das war auch beim Reformator Martin Luther nicht anders. Im Laufe der Zeit verändert sich der Blick auf das, was ich erlebt habe. Die Geschichten meines Lebens verändern sich. Aus der harmlosen Episode am Rand des Schullandheims wird eine atemberaubende Mutprobe. Die Zufallsbegegnung mit weitreichenden Folgen wird zur großartigen Liebesgeschichte. Die Geschichten verändern sich, weil sich meine Sicht darauf verändert. Meist zeigt sich ja erst im Nachhinein, welche Momente im Leben Schlüsselmomente waren.

Das war bei Martin Luther nicht anders. Je älter er wurde, desto bedeutsamer kam ihm sein Auftritt beim Wormser Reichstag vor.

Dabei war der Luther der Tage in Worms nicht so sehr das unerschütterliche Mannsbild, sondern eher das mit sich und Gott ringende Mönchlein, das unter Magen- und Verdauungsbeschwerden litt.“

In unserer Erinnerung wird eben vieles größer. Manchmal wird es auch einfacher. Ich glaube, dass wir in diesen Tagen die Bereitschaft zum zweiten Blick brauchen. Wir brauchen den Mut, genauer hinzusehen und der Versuchung zu widerstehen, auf komplexe Fragen einfache Antworten zu geben. Es wäre so viel einfacher, wenn es Menschen gäbe, die sich dem Bösen unerschütterlich entgegenstellen. Mutige Kraftprotze, die wir dann zu Helden und Heiligen erklären. Aber Martin Luther ist für mich kein Heiliger, schon gar nicht ist er unerschütterlich.

Erst 300 Jahre nach dem Ereignis in Worms wurde Martin Luther zum unerschütterlichen Mannsbild. Da wurde nämlich die Bronzestatue von Johann Gottfried Schadow geschaffen und auf den Marktplatz in Wittenberg gestellt. Sie ist das Vorbild der millionenfach verkauften Playmobilfigur. Aber heilig ist Martin Luther nicht.

Heilig sind für mich die Erschütterten und die Ringenden, die Zweifelnden und die Sehnenden, die, die an der Hoffnung trotz allem festhalten, die Verletzlichen und die Verletzten. Sie alle tragen an sich etwas von Gottes Glanz und von seiner Heiligkeit. So sind sie alle Heilige. Heute und an allen anderen Tagen des Jahres.

Ich wünsche Ihnen einen glänzenden Sonntag und eine gesegnete Woche.

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SWR4 Sonntagsgedanken

10JUL2022
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Viereinhalb tausend Menschen haben hörbar den Atem angehalten. Ich war eine davon. Ein Moment bei den Passionsfestspielen in Oberammergau. Auf der Bühne: eine aufgebrachte Volksmenge.  Jesus auf der einen Seite, die Hohenpriester und aufgebrachte Gläubige auf der anderen Seite. Dann wurde eine Frau in die Mitte gezerrt. Sie hätte die Ehe gebrochen, sagen sie. In der damaligen Gesellschaft ein todeswürdiges Verbrechen. Dutzende Augenpaare schauen Jesus erwartungsvoll an. „Was sagst du dazu, Jesus?“, fragen sie hämisch. Soll die Frau hingerichtet werden?  Gesteinigt? So, wie es das Gesetz sagt?

Der Jesus auf der Bühne in Oberammergau ist angespannt. Er weiß, das ist eine Falle für ihn. Er ist ihnen ein Dorn im Auge. Ihn wollen sie zu einem Fehler verleiten.

Und was macht Jesus? Er kritzelt im Staub auf dem Boden herum. Beiläufig. So wie man eine Schreibtischunterlage beim Telefonieren bekritzelt. Das provoziert sie noch mehr.

Dann der Moment, in dem die Spannung zum Zerbersten war. Jesus richtet sich auf, einen faustgroßen Wackerstein in der Hand. Mit glühenden Augen hat er in die Menge gesehen und ihnen den Stein hingehalten. „Ist einer von euch ohne Sünde? – Der soll den ersten Stein auf die Frau werfen.“

Diese Worte kenne ich sonst eher als lapidares Sprichwort: „Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Aber an dem Abend im Mai im Oberammergauer Passionstheater war die Dramatik mit Händen zu greifen. „Was, wenn einer beherzt nach vorne tritt und den Stein nimmt?“ ist es mir durch den Kopf geschossen. „Die Frau hätte keine Chance.“

Totenstille – auf der Bühne und bei den 4000 Zuschauern. Dann, nach spannungsreichen Sekunden schleicht sich einer nach dem anderen aus der Menge davon. Am Ende waren Jesus und die Frau allein auf der Bühne. Er noch immer mit dem Stein in der Hand. Die Frau hat vorsichtig den Blick gehoben. Alle waren weg. „Hat dich niemand verurteilt?“, hat Jesus die Frau gefragt. Kopfschütteln.

 „Dann verurteile ich dich auch nicht. Sündige von jetzt an nicht mehr.“ Dann hat er den Stein aus den Händen gelegt.

Selten war mir so deutlich, wie diese Frau in der Geschichte aus der Passionsgeschichte der Bibel instrumentalisiert worden ist. Als Spielball im Streit um religiöse Rechthaberei. Ja, sie hatte einen Fehler gemacht und sich nicht gesetzeskonform verhalten. Das war ihr so klar wie allen anderen. Aber in Wirklichkeit ging es um viel mehr: um echte Treue zu Gott statt Rechthaberei. Deshalb die glühende Frage Jesu, wer denn hier ohne Sünde wäre. Der Grat ist schmal zwischen überheblichen moralischen Urteilen und dem ehrlichen Blick auf das eigene Verhalten. Jesus hat nicht eingestimmt in die selbstgerechten Massen. Damit hat er der Frau einen neuen Anfang ermöglicht.

Wenn alle meinen, sie hätten Recht und mit dem Finger auf die zeigen, die einen Fehler gemacht haben, braucht es einen, der die Selbstgerechtigkeit bremst. Jesus ist so einer.

Mir geht dieser Spannungsmoment noch nach. Jesus hat ziemlich viel riskiert. Was, wenn doch einer den Stein aus seiner Hand genommen und auf die Frau geworfen hätte? Der Mob wäre nicht mehr aufzuhalten gewesen. Nach den Buchstaben des Gesetzes hätte er nicht mal unrecht gehabt. Ehebruch war damals ein schweres Verbrechen. Das, was bei uns heute Familiendramen sind. Alles andere als harmlos. Jesus hat mit der aufgebrachten Menge nicht diskutiert. Schon gar nicht hat er um Verständnis für die Frau geworben. Er hat einfach irgendetwas in den Staub auf den Boden geschrieben. Was es auch war, Jesus hat es geschafft, dass die aufgebrachte Menge ins Nachdenken kam. Irgendwie ins Mark getroffen. Es braucht ja große Offenheit, um sich einzugestehen, was man selbst falsch gemacht hat. Es kostet Überwindung. Viel einfacher ist es, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Das ist heute nicht anders. Wenn irgendwer bei einer moralischen Verfehlung erwischt wird, ist die öffentliche Empörung nicht zu bremsen. Es hagelt Hasskommentare und sogar Drohungen – bei Facebook und auf den Leserbriefseiten der Zeitungen.  

Irgendwie gelingt es Jesus, dass die um ihn Herumstehenden einsehen: zu moralischer Überheblichkeit besteht kein Grund. Die eigene Empörung reicht nicht aus, um jemanden anderen zu richten. Ich bin froh, dass Schuld und Unrecht bei uns vor Gerichten ausgehandelt werden. Die allgemeine Empörung einer aufgeheizten Menge ist dafür nicht geeignet. Dass das Urteil über Recht und Unrecht nicht den Empörungswellen und Boulevardschlagzeilen überlassen wird, ist richtig. Wenn diese Wellen mal wieder hochschlagen, dann wünsch ich mir einen, der beherzt wie der Jesus auf der Passionsspielbühne den Spieß umdreht und fragt: Seid Ihr wirklich moralisch so einwandfrei wie ihr vorgebt?

Für ein gnädiges Miteinander braucht es Menschen, die der Verführung zur moralischen Überheblichkeit nicht nachgeben. Der Blick auf mein eigenes Verhalten ist gefragt. Wenn ich das mal wieder merke, dann will ich mich an diese spannungsvollen Minuten im Oberammergauer Passionstheater erinnern. Und daran, dass Jesus alles riskiert hat für diese Frau, die einen so unerwartet neuen Anfang geschenkt bekommen hat.

Ich wünsche Ihnen einen Sonntag zum Aufatmen und eine gesegnete Woche.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=35737
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SWR4 Sonntagsgedanken

08MAI2022
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Die Bilder gleichen sich auf erschütternde Weise. Heute vor genau 77 Jahren war der Zweite Weltkrieg endlich zu Ende. Städte wie Pforzheim und Mainz lagen in Schutt und Asche. Unendliches Leid war in den Gesichtern der Überlebenden zu lesen. Jahre des Mordens und der Zerstörung waren vorbei. Aufatmen und ein neuer Frühling!

Heute sehe ich die Bilder aus Mariupol, Charkiw und Kiyw: Trümmer, Chaos, Tohuwabohu. Und ich frage mich: wann ist es endlich vorbei? Und wie soll dann ein neuer Anfang möglich werden?

Am Anfang der Welt, vor allen Zeiten, war nichts als Chaos, Tohuwabohu. Wüste und Leere. Die Bibel beschreibt den allerersten Anfang in den allerersten Versen.

Als Gott sich daran machte, den Himmel und die Erde zu schaffen – die Erde war noch wüst und leer und ein Gotteswind schwebte über dem Wasser – da sprach Gott: Es werde Licht!

Die ersten Verse der Bibel wagen einen Schritt vor allen Anfang zurück.
Gott setzt mit der Schöpfung einen neuen Anfang, bringt Ordnung ins Chaos und Leben dorthin, wo es so gar nicht nach Leben aussieht. Dieser Anfang gibt mir Hoffnung dafür, dass es auch heute Anfänge gibt, wo alles in Trümmern liegt. In Kriegstrümmern in den zerstörten Städten. Und in Seelentrümmern, die vielleicht erst mit der Zeit sichtbar werden, wenn ich so gar nicht aus noch ein weiß. Es dauert manchmal länger, Seelentrümmer zu beseitigen als Städte wiederaufzubauen.

Als Gott sich daran macht, den Himmel und die Erde zu schaffen, da war überall Wüste und Leere. Da war eine dunkle und tosende Urflut und über dieser Flut, über den Wogen, die bedrohlich brodelten, da bewegte sich der Geist Gottes, der Wind, der Atem Gottes, wie es wörtlich in der Bibel heißt.

Tohuwabohu, das ist mehr als ein bisschen Unordnung. Tohuwabohu, das ist bedrohliche und unwirtliche Öde. Leblos, grau, dürr und verkrustet. Erstarrte Zerbrechlichkeit. Trümmer und schroffe Kanten. Furchen aus grauen Vorzeiten, die verfestigt und zerklüftet sind. Was soll daraus schon werden können? Die Welt wie sie ist, ist zerbrechlich und fragil, trocken und dürr.

Ich setze darauf, dass Gott sich an den großen Anfang seiner Welt erinnert und dass er auch heute dem Chaos und dem Tohuwabohu ein Ende setzt. Ich wünsche mir das so sehr. Dass aus den Trümmern etwas Neues entsteht. Dass es Frieden wird in der Ukraine, im Jemen, in Mali – und in mir. Dass Gottes Geist, der Wind, der Atem, sich wieder spüren lässt, dass ich aufatmen kann und dass das Chaos in meiner Seele und in dieser Welt aufgeräumt wird.

Mir gefällt dieses Bild vom Geist Gottes. Gottes Geist ist wie ein Wind. Manchmal fegt er wie ein gewaltiger Sturm das Chaos weg. Wie der Sturm, der das Totholz aus dem Wald fegt.

Manchmal wirbelt er alles durcheinander und nichts bleibt mehr an seinem Platz. Aber er kann auch zärtlich pusten auf verwundete Seelen. Wie eine Mutter, die auf die Wunde ihres Kindes pustet. Der Gottes-Wind kann wild sein und sanft sein. Beides ist heilsam.

Mir ist vor einiger Zeit ein Gedicht begegnet. Christian Wiman hat es geschrieben – kurz nachdem er seine Krebsdiagnose bekommen hat. Er spricht „ein kleines Gebet im scharfen Wind“

Wie durch ein lange herrenloses und nur noch halb stehendes Haus,
das nur jemand Verlorenes finden könnte,
mit seinen scheibenlosen Fenstern und durchhängenden Balken,
mit hunderten von Spalten und Klüften,
in denen sich hunderte von Lebewesen sammeln und nisten,
so scheint der Lebensgeist, der hier einst gewesen ist
und der lebendige Geist dieses verfallenen Ortes.
Der Wind sucht jede Wunde im Holz und er singt in jeder Wunde im Holz,
die offen genug ist, um ihn aufzunehmen.
zerschmettere mich, Gott, in meine tausend Töne.*


Ich stelle mir einen verfallenen Ort irgendwo im Nichts vor. Ein Haus, in dem einmal Leben war. Manchmal ist das Leben selbst wie so ein Haus. Gebaut auf einem soliden Fundament, mit Wänden, die Halt geben sollten: eine Beziehung, ein fester Glaube, Freundinnen und Freunde, mit Fenstern, die das stetige Fortkommen sichern sollten, mit einem Dach, das vor Regen und unerwarteten Gewittern schützen sollte.

Und jetzt ist dieses Haus verfallen. Die Beziehung steht in Frage. Krankheit macht das Leben brüchig. Immer lauter drängt sich die Frage auf, ob das alles noch trägt. Das Holz hat Risse. Alte Wunden und neue Fragen. So vieles erschüttert mich gerade und bringt unsere Welt durcheinander. Aber: durch die kleinsten Risse und Wunden in meinem Lebenshaus bläst der Gotteswind, Gottes Geist. Und dann wird daraus Musik.

Daran will ich mich festhalten. Daran, dass Gottes Geist aus den Wunden und Ritzen Musik des Lebens machen kann. Daran, dass der Wind Gottes aus den Trümmern der Kriegsschauplätze und aus den Brüchen auf meiner Seele wieder Neues wachsen lassen kann. Dass die Liebe blüht und dass es Frieden wird über den Trümmern. Ich wünsche Ihnen einen blühenden Sonntag und eine gesegnete Woche.

*Christian Wiman, Small Prayer in a hard wind, in: ders. Every Riven Thing. Poems,
New York 2011, 72, Übersetzung hier: Heike Springhart

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SWR4 Sonntagsgedanken

14NOV2021
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Der Mann auf dem Foto trägt deutlich die Züge meines Vaters. Ich habe ihn nie kennengelernt. Mein Vater auch nicht. Denn sein Vater – mein Großvater - ist im März 1945 von einer Granate getroffen worden. Von einer Granate, wie er sie selbst zig Mal zuvor abgefeuert hat. Als er starb, war mein Vater gerade einmal drei Wochen alt.

Ich weiß nur wenig von ihm. Er hat gut malen können. Als Graveurmeister hat er in einer Färbefabrik Stoffmuster in Rollen graviert. Ein nachdenklicher Mensch soll er gewesen sein. Eigentlich wollte er Pfarrer werden, aber zum Studium hat das Geld nicht gereicht. Vielleicht bringt ihn mir dieser Berufswunsch besonders nahe. Ich konnte mir diesen Wunsch erfüllen.

Vor ein paar Jahren haben wir uns auf Spurensuche begeben. Wir sind in das niederschlesische Dorf Niwnice gefahren. Wir haben gehofft, irgendeine Spur, vielleicht irgendwo den Namen meines Großvaters zu finden.

Eine Studentin aus Krakau hat zu dieser Zeit in Heidelberg studiert. Sie war Stipendiatin der Gerta-Scharffenorth-Stiftung. Auch die Spuren von Gerta Scharffenorth führen nach Schlesien. Sie ist nach Kriegsende in den Westen geflohen.  Aber zuvor hat sie als Arbeiterin auf dem ehemals eigenen Gutshof in Schlesien gelebt. Der polnische Verwalter des Gutes hatte den Krieg im Konzentrationslager überlebt. Die Begegnung zwischen diesen beiden Menschen hat den Samen für ihr lebenslanges Engagement für Versöhnung zwischen Deutschen und Polen gelegt. Schon sehr früh war sie davon überzeugt: „Es muss noch andere Geschichten geben, die Deutsche und Polen miteinander teilen.“ Solche Geschichten werden noch heute fortgeschrieben, wenn Studierende aus Krakau für ein Jahr nach Heidelberg kommen.

Dank dieser Studentin haben wir nämlich erfahren, dass es in der Nähe von Breslau den Friedenspark gibt. Das ist ein Soldatenfriedhof, auf dem seit 2002 16.000 Kriegstote begraben sind. Unzählige Namen sind inzwischen auf Stelen zu lesen. In einem Buch im Dokumentationszentrum haben wir schließlich den Namen meines Großvaters gefunden. Das war ein berührender Moment. Wir haben uns registrieren lassen, damit wir eine Nachricht bekommen, wenn auch sein Name auf eine Stele geschrieben wird.

Wochen später haben wir die Nachricht erhalten, dass sein Name nicht auf einer Stele erscheinen wird. Begründung: Er trug zu viel Verantwortung für die Gräuel, die in Niwnice passiert sind.

Heute am Volkstrauertag denken wir an die Toten der Kriege. Zu diesem Gedenken gehören auch Trauer und Schuld. Wir denken an so viele zerstörte Häuser und an zerstörte Leben. In der Bibel ist von der Sehnsucht zu lesen, dass die zerstörten Häuser und die zerstörten Lebensgeschichten nicht das Ende sind. Paulus schreibt in seinem 2. Brief an die Gemeinde in Korinth: „Wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel.“  Unter dem Blickwinkel der Ewigkeit ähneln unsere irdischen Häuser windschiefen Hütten. Wacklig und zugig. Manchmal sind die Lebenshäuser auch ramponiert von Schuld, die Menschen auf sich laden.

 

Der Blick auf die abgebrochenen Lebenshäuser ist nicht leicht. Ich musste meinen Vater ziemlich überreden, dass wir diese Reise nach Polen machen. Es war ein Risiko. Was wir finden würden, würde den Schmerz über den nie anwesenden Vater vielleicht erst so richtig spürbar machen. Und auch die Scham, über das, was er im Krieg getan hat.  Und doch braucht es das, dass wir auf die abgebrochenen Häuser sehen, unseren Schmerz und den der anderen aushalten. Dass wir die Trümmerhäuser vom Kriegsende in Pforzheim, Coventry und Warschau sehen. Aber auch die Häuserschluchten in Kabul und im Jemen und die zertrümmerten Lebensgeschichten. Wenn ich den Blick darauf wage, können alte Wunden heilen. Dann kann ich meinen Schmerz und die Scham an Gott abgeben. Neues kann entstehen, weil das Alte seine untergründige Macht verloren hat.

Auf unserer Reise nach Niwnice habe ich beides erlebt. Der Spaziergang durch den Wald, in dem irgendwo mein Großvater ums Leben gekommen ist, hat mich traurig gemacht. Nachdenklich und schweigend waren wir unterwegs. Und doch ist es tröstlich, den Ort jetzt zu kennen. Und zu erleben, dass die Menschen in den Dörfern uns freundlich begegnet sind. Obwohl ihre Eltern und Großeltern durch Menschen wie meinen Großvater Schlimmes erlebt haben.

Zur Trauer gehört auch die Frage nach der Schuld. Sie ist schwer erträglich. Auch Paulus kann das nur seufzend ertragen. Dass wir beschwert sind in unserer irdischen Hütte. Die einen von der Schuld, die sie auf sich geladen haben. Die anderen von dem, was andere ihnen angetan haben. Der Abschnitt aus dem 2. Brief an die Gemeinde in Korinth endet mit der Aussicht auf das Gericht Gottes. „Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi.“ – heißt es da. Christinnen und Christen glauben, dass Gott selbst das zurechtbringt, was Unrecht war und ist. Dass er das Recht aufrichtet und sich der zerstörten Lebensgeschichten erbarmt. Um der Menschen willen, deren Lebensgeschichten zerstört wurden. Und um der Menschen willen, die einen neuen Anfang brauchen. Recht und Barmherzigkeit gehen Hand in Hand. Das hilft mir, auch die schuldbeladenen Seiten meines Großvaters zu sehen – und trotzdem um ihn und die Toten der Kriege zu trauern.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen tröstlichen Sonntag und eine gesegnete Woche.

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SWR4 Sonntagsgedanken

15AUG2021
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Fast auf den Tag genau vor 60 Jahren gab es für die Menschen in Berlin an einem Sonntagmorgen ein böses Erwachen. Am 13. August 1961, in den frühen Morgenstunden wurde quer durch Berlin die Mauer gebaut. 28 Jahre lang zementierte sie die Teilung der Welt in Ost und West.

Besonders eingebrannt haben sich die Bilder aus der Bernauer Straße. Hier lief die Grenze entlang der Häuserfront. Die Bewohner der Straße wurden aus dem Schlaf gerissen, ihre Fenster Richtung Westberlin einfach zugemauert. Mich berühren die Bilder von den Menschen, die sich im letzten Moment aus den Fenstern an Leintüchern abgeseilt haben.

In der Bernauer Straße stand auch die Versöhnungskirche. Der Großteil ihrer Gemeinde lebte im Westteil der Stadt. Doch von einem Tag auf den anderen war den Menschen der Weg versperrt. Zugemauert im wahrsten Sinn des Wortes. Ihre eigene Kirche stand zum Greifen nah – und war doch so weit entfernt als würde sie auf einem anderen Kontinent stehen. Wenigstens die Gemeindeglieder aus dem Osten konnten noch drei Wochen lang Gottesdienst feiern.

Dann wurde die Versöhnungskirche auch von der anderen Seite zugemauert. Auch der Pfarrer mit seiner Familie musste das Pfarrhaus verlassen. Doch kurz vorher ist Jörg Hildebrandt, der Sohn des Pfarrers noch einmal auf den Turm geklettert, hoch zur Uhr über den Glocken. Er hat die Zeiger angehalten und hat sie auf 5 vor 12 gestellt.

Es ist 5 vor 12, so die Botschaft der großen Kirchturmuhr, weit sichtbar für alle Menschen in Ost und West.  „Es gibt keine Zeit mehr zu verlieren.“ – „Vergesst uns nicht.“

Das DDR-Regime meinte, der christliche Glaube habe ausgedient. Er liege im Sterben, und sie bräuchten nur noch die Kirchentüren zuzumauern und ihn endgültig begraben. Aber so leicht ging das nicht – das haben die Machthaber schnell gemerkt. Irgendwann haben sie die Zeiger wieder verstellt. Von 5 vor 12 auf 12 Uhr.

Über 20 Jahre lang stand die Versöhnungskirche auf dem Todesstreifen. Zugemauert wie ein Grab. Aber so leicht war sie nicht tot zu kriegen. Ihr hoher Turm ragte über die Mauer und noch wichtiger: er ragte in den Himmel. „Kirchtürme sind Finger Gottes“ – hat der Schriftsteller Marcel Proust einmal gesagt.

Ein Kirchturm als sichtbarer Fingerzeig Gottes, der die Absurdität der Berliner Mauer deutlich machte. Für die Regierung der DDR war das ein Dorn im Auge und wurde irgendwann unerträglich. 1985 ließen sie die Kirche sprengen.

Gegen die Macht von Mauern hilft manchmal schon der Blick auf Türme, die über die Mauern hinausragen. Nach dem Bau der Berliner Mauer vor genau 60 Jahren war das der Blick auf den Turm der Versöhnungskirche mit den gestoppten Zeigern – auf 5 vor 12.

Das Regime der DDR meinte, der christliche Glaube habe ausgedient. Der Magdeburger Bischof sprach davon, dass der Sozialismus der Kirche wohl nur noch ein „Sterbezimmer“ zugedacht hatte. Aber, so hat er angefügt: „Das sollten wir nicht tragisch nehmen, sondern in dieses uns zugedachte Sterbezimmer die Frischluft der Auferstehung blasen.“

Von der Frischluft der Auferstehung spricht auch Paulus im Brief an die Gemeinde in Ephesus. Er erinnert die Gemeinde an das, was sie trägt. „Gott ist reich an Barmherzigkeit. Mit seiner ganzen Liebe hat er uns geliebt und uns zusammen mit Christus lebendig gemacht...“, schreibt Paulus. Und er macht auch unsere Hoffnung lebendig – so wie die Hoffnung des Pfarrersohnes von der Versöhnungskirche in der Bernauer Straße. Sein Kirchturm war für ihn das Zeichen der lebendigen Hoffnung! Es gibt noch etwas anderes als die Trennung!

Das spricht mich an. Gottes Liebe setzt Zeichen in meinem Leben. Für alle Zukunft soll sichtbar sein, dass ich zum Leben bestimmt bin – egal, welche Mauern andere um mich errichten. Die Frischluft der Auferstehung bläst durch mein Leben.

Heute steht auf dem ehemaligen Todesstreifen an der Bernauer Straße in Berlin wieder eine kleine Kirche, die Kapelle der Versöhnung. In ihr läuten die geretteten Glocken der Versöhnungskirche. Sie ist durchlässig gebaut, aus Holz und mit Durchblick nach draußen – auf den Streifen, auf dem längst niemand mehr um sein Leben fürchten muss.

Heute feiern sie dort wieder Gottesdienste – Menschen aus Ost und West und Besucherinnen und Besucher aus aller Welt. Sie erinnern an die Toten der Mauer und an die Toten vor den Toren Europas. Gegen die Macht der Mauer öffnen sie den Horizont für die Frischluft der Auferstehung.

Mich richtet das heute morgen auf. Dass Gott in mein Leben immer wieder frischen Wind bläst. Ein sichtbares und spürbares Zeichen gegen alles und alle, die mich einmauern und zum Schweigen bringen wollen. Der Geist der Freiheit, der auch die Mauer zum Einsturz gebracht hat, die sie vor 60 Jahren in Berlin errichtet haben.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen belebenden Sonntag und eine gesegnete Woche.

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SWR4 Sonntagsgedanken

16MAI2021
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„Ihr müsst ja ein dehydriertes Land sein! Total vertrocknet und ausgedörrt.“ Immer wenn ich in den letzten Jahren meinen Freund Mike aus Chicago getroffen habe, haben wir über seinen ersten Eindruck aus Deutschland gelacht. Ein vertrocknetes Land. Das hat er nicht etwa über die Wälder und den Klimawandel gesagt. Sondern es war sein Eindruck nach ein paar Tagen in Heidelberg mit viel Zeit in Cafés und Restaurants. Der Kaffee wird in kleinen Tassen serviert und ein Glas Wasser muss man extra bestellen. In Amerika und vielen anderen Ländern ist das völlig anders. Da bekommt man als erstes ein großes Glas Wasser, noch bevor man überhaupt was bestellt hat. Für umme.

Durst stillen. Nichts ist grundlegender. Nach dem ersten Atemzug trinkt ein Neugeborenes. Und am Ende, wenn das Leben weicht und es fast nichts mehr braucht, benetzt man die Lippen der Sterbenden mit Wasser. Wenn ich so richtig Durst habe, dann kann ich nichts Anderes denken und fühlen. Die Sehnsucht nach etwas zu trinken steigt ins Unermessliche.

Manchmal habe ich solchen Durst auch, wenn es nicht um das Glas Wasser geht. In diesen Wochen spüre ich den Durst nach Leben besonders. Draußen explodiert das saftige Grün. Alles ist auf Aufbruch gepolt. Aber Corona macht mein Leben trocken. Viele erfrischende und belebende Begegnungen und Umarmungen fallen weg. Von feuchtfröhlichen Runden im Biergarten ganz zu schweigen. Meine Kehle ist trocken – und meine Seele auch. Ich habe Durst.

Die Bibel erzählt davon, dass Jesus diesen Durst kennt und die Durstigen ruft. Es war die Zeit des Laubhüttenfests in Jerusalem. Dem Fest, an dem Jüdinnen und Juden Gott für die Ernte des Jahres danken und ihn um Regen für die kommende Zeit bitten. Die Stadt war übervoll. Die Jünger haben Jesus zum großen Auftritt gedrängt. Aber er hat abgelehnt. Später ist er dann doch hoch zum Tempel gegangen. Im allgemeinen Gewusel der großen Feierlichkeiten ist er aufgetreten und hat die heiligen Schriften ausgelegt. Er stand zwar nicht auf der großen Bühne. Aber die, die ihn gehört haben, waren verwundert, woher er das alles weiß und kann. Doch Jesus will sich nicht mit Weisheit schmücken. Er baut nicht allein auf seine Klugheit, es geht ihm nicht darum, selber groß rauszukommen: Er redet aus einer Quelle, die von Gott selbst am Sprudeln gehalten wird.

Jesus schöpft aus einer Quelle, die von Gott selbst am Sprudeln gehalten wird. An den ersten Tagen des Festes hat er sich noch im Hintergrund gehalten. Aber am letzten Tag des Festes ergreift er in aller Öffentlichkeit das Wort. Seine Stimme hallt laut über das Festgetümmel.

Und Jesus stellt mit seinen Worten allen ein großes „Wasserglas“ hin. „Wer Durst hat, der soll zu mir kommen und trinken“, sagt er. Die vertrockneten Seelen und die dürr gewordenen Herzen werden neu erfrischt. Jesus redet vom lebendigen Wasser, das meinen Durst nach Leben stillt.

Solche Erfrischung kann ich mir nicht selbst geben. Ein Wasserglas, ein offenes Herz, eine Hand, die mir jemand reicht – das lässt mich das Leben wieder spüren. Auch in diesen Tagen. Wenn nach Monaten der Isolation unverhofft Freunde auf einen Kaffee auf den Balkon kommen. Wenn ich im Briefkasten einen Gruß finde. Dann spüre ich auch in mir wieder Hoffnung und dass der Glaube über das hinaussieht, was mein Leben hier und heute einschränkt.

Jesus hat auch davon geredet, dass die mit Wasser Erfrischten selbst zur Quelle für andere werden. Ich brauche die anderen Menschen, die mir den Himmel öffnen. Das Kindergebet, das ich in der Gebetsmauer in unserer Kirche finde. Mit Kinderschrift steht da: „Hallo, lieber Gott, hier ist Salome. Heute will ich Dir was Schönes erzählen!“ Da muss ich lächeln. Die fröhlichen Kindergartenkinder, deren ansteckendes Lachen auch in Zeiten von Notbetreuung nicht zu überhören ist. Dann weht plötzlich ein anderer Wind durch meine Seele.

Das Wasser und der Geist Gottes gehören zusammen. In der Bibel wird er manchmal als Wind bezeichnet. Und er ist auch das lebendige Wasser. Ich muss an den letzten Sommer an der Nordsee denken. Nirgends ist die Weite des Himmels und das Zusammenspiel von frischem Wasser und Wind so spürbar. In der Wucht des Windes, der Weite des weißen Sandes und im Tosen der Wellen kann ich mich selbst vergessen.

Das frische, lebendige Wasser muss ich nicht extra bestellen. Es wird mir einfach hingestellt. Es nährt mich vom ersten bis zum letzten Atemzug – und darüber hinaus.
Ich wünsche ihnen einen erfrischenden Sonntag und eine gesegnete Woche.

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