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Anstöße SWR1 RP / Morgengedanken SWR4 RP

22FEB2025
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Ein gebrochener, verheilter Oberschenkelknochen – das ist der älteste Beleg für wirklich menschliche Kultur. Nicht eine Höhenmalerei oder ein behauener Stein oder eine geschnitzte Skulptur. Der verheilte Knochen erzählt die Geschichte einer Gruppe von Urmenschen, die auf der Wanderung oder der Jagd waren. Eines ihrer Mitglieder hatte einen Unfall und brach sich den Oberschenkel. Die Gruppe ließ ihn nicht zurück, hilflos und unter diesen Umständen dem Tod geweiht. Sondern sie unterbrach ihre Wanderung, ließ die Tiere weiterziehen, die sie vielleicht verfolgte, und kümmert sich um den Verletzten. Dabei ging sie Risiken ein, verzichtete auf die Jagdbeute, pausierte an einem Ort, den sie sich nicht ausgesucht hatte. Erst als der Verletzte genesen war, zog die Gruppe weiter.
Wenn von menschlicher Evolution die Rede ist, entsteht oft das Bild einer naturgegebenen Rücksichtslosigkeit. Die Stärkeren überleben den harten Alltag der Vor- und Urmenschen und geben ihre Gene an ihre Nachkommen weiter. Veränderungen im Erbgut führen zu allmählichen Verbesserungen – die Überlebenden sind den anderen überlegen. So war der Homo Sapiens letztlich erfolgreicher als der Neandertaler. Die Schwächeren bleiben auf dieser Entwicklungsbahn zurück.

Der gebrochene und verheilte Oberschenkelknochen ergänzt dieses Bild jedoch auf ganz wesentliche Weise: Nicht Fitness, körperliche Überlegenheit oder fortgeschrittene Entwicklung alleine machen das Werden des Menschen aus. Von Anfang an spielt offenbar ein spezifischer Gemeinschaftssinn eine wichtige Rolle. Der Verletzte, der Schwache wird nicht zurückgelassen, die Starken machen sich nicht achselzuckend davon, sondern die Gruppe sorgt auch für den Hilfebedürftigen.

Für mich ergibt sich daraus: Auf dem Weg zur Menschwerdung waren Gemeinschaft und Sorge füreinander mindestens genauso wichtig wie der aufrechte Gang. Und das ist heute noch so: Nicht Rücksichtslosigkeit, starke Ellenbogen und egoistische Durchsetzung machen uns zu Menschen, sondern Sorge und Hilfe für und unter einander.

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Anstöße SWR1 RP / Morgengedanken SWR4 RP

21FEB2025
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Um ihre Volksnähe zu betonen, sprechen Politikerinnen und Politiker manchmal von den „einfachen Leuten“. Sie meinen damit Menschen, die fleißig und ehrbar sind, die nur ihre Arbeitskraft haben, um für ihr Auskommen zu sorgen. Menschen, die für ihr Leben einfache Ziele haben: Z.B. einen bescheidenen Wohlstand, gute Ausbildung für die Kinder und keine Armut im Alter. Und diese „einfachen Leute“, so lassen Politiker durchblicken, haben kein Interesse an hochfliegenden Ideen, an verschwurbelten Ideologien oder schwierigen politischen Programmen. Einfach, wie sie sind, wollen sie nur Sicherheit und privates Glück. Und das verspricht ihnen die Politik. Den Rest, das Komplizierte erledigen dann schon die Politiker.

Mir ist diese Rede von den „einfachen Leuten“ zu einfach. Auch Menschen mit bescheidenem Wohlstand schauen über ihren Tellerrand oder den Zaun ihres Einfamilienhauses. Auch diese Menschen wollen eine Vorstellung haben, wie es mit unserer Gesellschaft im Ganzen weitergehen kann. Wenn sie dann wenig Interesse an Ideologien und Programmen zeigen, liegt es vielleicht eher an den Programmen und Ideologien als an den Menschen.

Mein Unmut über die Rede von den „einfachen“ Leuten rührt vielleicht auch daher, dass die Bibel von ihnen ein ganz anderes Bild zeichnet. Jesus war als Zimmermann selbst einer von den „einfachen Leuten“. Und er machte einfache Menschen zu seinen engsten Mitarbeitern, z.B. Fischer und Zollbeamte. An sie richtete er seine Botschaft von der großen Liebe Gottes, die besonders den Kleinen und Armen gilt. Und mehr noch: Er traute seinen Jüngern zu, dass sie seine revolutionäre Botschaft weiterverbreiten, sie gerade auch für die anderen „einfachen Leute“ fruchtbar machen. Jesus machte die einfachen Leute nicht klein, sondern er dachte groß von ihnen.

Selbstverständlich können und sollen Politikerinnen und Politiker nicht das Reich Gottes versprechen. Aber sie können bei Jesus sehen, dass auch die sogenannten einfachen Leute einen Blick für das Ganze haben und dass Politik ihnen ruhig etwas zutrauen kann.

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Anstöße SWR1 RP / Morgengedanken SWR4 RP

20FEB2025
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Es ist unübersehbar: Die Kirche in Deutschland befindet sich in einer Krise. Kirchenaustritte, fehlender Nachwuchs, schwindende Kirchensteuer, weniger Gottesdienstbesucher und fragwürdiger Umgang mit Missbrauchsopfern – das sind nur einige Symptome dieser Krise. Manche meinen nun: Wir müssen zurück zur Urkirche, zum guten Anfang, als alles noch in Ordnung war. Nach der Bibel seien damals alle ein Herz und eine Seele gewesen und hätten alles gemeinsam gehabt. Alle seien sich einig gewesen in der Lehre der Apostel und im gemeinsamen Gebet. Zu diesen idealen Zeiten müssten wir wieder zurück.

Doch die Bibel zeichnet ein differenziertes Bild. Paulus und Petrus streiten sich bis aufs Messer darüber, ob Heiden direkt Christen werden können oder erst noch Juden werden müssen. In der Jerusalemer Gemeinde betrügt ein Ehepaar die Apostel um den Teilerlös aus einem Grundstücksgeschäft. Und Paulus verzweifelt fast an einzelnen seiner Gemeinden: Kaum ist er weg, gehen die Streitereien los, sogar regelrechte Irrlehrer machen sich breit. Schon in der jungen Kirche hat es gekracht und gab es Zerreißproben.

In der ganzen Kirchengeschichte ist keine Epoche ohne Streit, Spaltung und massive Fehler. Chaos und Krach sind ständige Begleiter.

Das bedeutet nicht, dass Christinnen und Christen die heutige Krise aussitzen sollten. Denn zu dieser Geschichte aus Streit und Fehlern gehört auch, dass die Krisen überwunden wurden. Meist von innen heraus. So ging von dem Kloster Cluny in Frankreich seinerzeit eine Reform aus, die zu einer neuen Frömmigkeit führte. Oder das Zweite Vatikanische Konzil erneuerte den katholischen Gottesdienst und schuf ein neues Verständnis von Kirche. Und von Mutter Theresa ging eine wichtige Inspiration für die christliche Nächstenliebe aus.

Wichtiger als nostalgische Verklärung ist deshalb die Ausschau nach Kräften, von denen heute ein Anstoß zur Veränderung ausgehen kann. Diese Kräfte zu unterstützen, ist das Gebot der Stunde. Denn Nostalgie löst nicht die Probleme von heute, sie zeigt nur das Chaos von gestern.

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Anstöße SWR1 RP / Morgengedanken SWR4 RP

13NOV2024
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Manchmal finden auch alte Hüte neue Freunde. Der Bischof einer evangelischen Landeskirche will dem Schwund und der Entfremdung der Kirchenmitglieder dadurch begegnen, dass jede Kirchengemeinde einen Besuchsdienst einrichtet. Menschen aus der Gemeinde sollen nacheinander alle Gemeindemitglieder besuchen, mit ihnen ins Gespräch kommen, ihre Bedürfnisse, auch ihre Kritik erfahren und über die Gemeinde informieren.
Früher gab es solche Besuchsdienste häufig, inzwischen sind sie vielerorts in Vergessenheit geraten - weil weniger Menschen zu dieser Aufgabe bereit sind, Gemeinden ihren Mitgliedern nicht auf die Pelle rücken wollen und die Gemeinden durch Zusammenlegung größer und anonymer geworden sind. Es gibt aber noch einen tieferen Grund. Wenn ich mit engagierten Gemeindemitgliedern spreche, dann höre ich oft die Klage: Wir machen doch so viel und es kommen so wenige – zum Gottesdienst, zum Familiensonntag, zum Bibelkreis oder was auch immer. Hier treffe ich auf die Erwartung, dass die Leute doch kommen müssten. Dass sie doch einsehen müssten, wie gut das Angebot der Kirche ist und wie hilfreich. Sie kommen aber nicht. Was können Gemeinden da tun?

Ich schaue auf die Anfänge der Kirche: Jesus selbst war ein Wanderprediger, und die Apostel sind in alle Winkel der damals bekannten Welt gereist, um das Evangelium zu verkünden. Sie sind dahin gegangen, wo die Menschen waren, an Brunnen, auf Plätze, an die Tore der Städte. Sie sind auf die Menschen zugegangen, haben nicht erwartet, dass sie kommen. Gewiss nicht alle, aber viele haben sie so für die Botschaft Jesu Christi gewinnen können.

Nicht die Methode, aber die Haltung lässt sich auf heute übertragen: Nicht warten, dass jemand kommt. Sondern auf die Menschen zugehen, mit ehrlichem Interesse an ihrer Situation, großem Respekt vor ihrer Meinung und hoher Sensibilität für ihre Bedürfnisse. Wenn diese Haltung hinter den neuen Besuchsdiensten steckt, dann könnten sie tatsächlich mehr sein als ein alter Hut. Dann sind sie ein Schritt zu einer zuhörenden und zugehenden Kirche.

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Anstöße SWR1 RP / Morgengedanken SWR4 RP

12NOV2024
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In einer Diskussion über das Bürgergeld und Flüchtlinge, die vorgeblich in unser Sozialsystem einwandern, wurde mir vorgehalten: Schon in der Bibel steht „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.“ Offenbar eine klare Ansage gegen die Faulen und Drückeberger. Und eine Unterstützung für die Fleißigen und Tüchtigen und deren Arbeitsmoral. Nur, so ist das gar nicht gemeint:

Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. Dieser Satz wird dem Apostel Paulus zugeschrieben. Er richtet sich an eine Gemeinde, in der es drunter und drüber geht. Viele Gemeindemitglieder glauben, dass Jesus noch zu ihren Lebzeiten wiederkommt und dass das Ende der Welt bevorsteht. Deshalb halten sie es für überflüssig, sich noch um die alltäglichen Dinge zu kümmern. Wozu denn noch Arbeit, Mühe und Sorge, wenn Christus sowieso bald wiederkommt? Diese Schwärmerei entsetzt Paulus. Er setzt sein eigenes Beispiel dagegen. Bei seinen Reisen durch die christlichen Gemeinden hat er Wert darauf gelegt, niemandem zur Last zu fallen und sich nicht durchfüttern zu lassen. Als gelernter Zeltmacher hat er selbst Tag und Nacht gearbeitet, um ein gutes Beispiel zu geben. Und das obwohl Paulus selbst von der Hoffnung auf das Kommen Christi durchdrungen ist. Aber er ist realistisch genug, um die Notwendigkeiten des Alltags anzuerkennen. Noch ist Christus schließlich nicht wiedergekommen. Paulus dämpft die Begeisterung der Frommen mit seinem eigenen Beispiel. Er selbst wartet sehnsüchtig auf das Kommen Christi, arbeitet dennoch weiter und kümmert sich um sein Auskommen. Damit er anderen nicht zur Last fällt.

Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. Paulus zieht hier nicht gegen die Faulen zu Felde, sondern gegen die Unrealistischen, gegen die frommen Schwärmer, die meinen, sich um nichts mehr kümmern zu müssen. Ihnen hält er vor: Wer heute nicht arbeiten will, wird morgen nichts zu essen haben und anderen zur Last fallen. Wer heute seinen Alltag nicht ordnet, wird morgen im Chaos versinken. Den Schwärmern hält Paulus eine realistische Predigt: Verratet nicht die Gegenwart um der Zukunft willen! Sondern hofft auf die Zukunft und bewältigt zugleich die Gegenwart!

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Anstöße SWR1 RP / Morgengedanken SWR4 RP

11NOV2024
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Ich war auf einer Veranstaltung zum Thema: „Krieg und Frieden aus christlicher Sicht“. Vieles kam zur Sprache: Lässt sich christliche Friedensethik mit Waffenlieferungen vereinbaren? Wie weit geht das Selbstverteidigungsrecht der Völker? Wie können Kriegsverbrecher zur Rechenschaft gezogen werden? Die Diskussion verlief ruhig und konzentriert. Unruhe entstand, als ein Teilnehmer Papst Franziskus zitierte. Franziskus hatte sich für Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland ausgesprochen, um den Krieg zu beenden. Das sei ja bodenlos, meinten die meisten: Wie sollen denn Verhandlungen aussehen? Worüber soll denn verhandelt werden? Soll die Ukraine etwa Land für einen Waffenstillstand aufgeben, so dass Putin am Ende mit seinem Überfall doch Erfolg hätte? Und außerdem ist Putin ja gar nicht verhandlungsbereit.

Ich kann diese Einwände nachvollziehen. Derzeit scheinen Verhandlungen kaum vorstellbar.

Zugleich habe ich den Eindruck: wir gewöhnen uns an den Krieg in der Ukraine. Zum einen dauert er schon so lange. Und alles, was lange dauert, bringt gewollt oder ungewollt Gewöhnung mit sich. Zum anderen fordern andere Kriege inzwischen auch unsere Aufmerksamkeit. Der Krieg in der Ukraine ist auf erschreckende Weise einer unter anderen geworden. Kriege werden auf eine zynische Weise alltäglich, wenn nicht gar gewöhnlich. Und schließlich kommt für mich ein Gefühl der Hilflosigkeit hinzu, ich kann ja doch nichts machen, und mein Alltag muss ja auch weitergehen. Dabei kann aus dem Blick geraten, dass ein wirklicher Friede unverzichtbar ist, der mehr ist als das bloße Schweigen der Waffen. Ja, die Voraussetzungen für einen solchen Frieden sind derzeit äußerst gering, politisch ebenso wie militärisch. Und dennoch ist er am Ende alternativlos.

Deshalb halte ich den Ruf des Papstes nach Verhandlungen doch für hilfreich. Er wirft damit einen Stolperstein auf den Weg, auf dem wir vielleicht allzu selbstverständlich immer weiter in Richtung Gewöhnung und Kriegslogik unterwegs sind. Der Papst ergreift nicht Partei für einen der Kriegsgegner. Er ergreift Partei für den Frieden. Und das ist schließlich seine Aufgabe.

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SWR1 Anstöße sonn- und feiertags

10NOV2024
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Jesus hat gerne in Gesellschaft gegessen und getrunken. Alleine im Lukasevangelium stehen neun Geschichten, wie er mit unterschiedlichsten Menschen an einem Tisch sitzt. In einer Welt ohne Kommunikationsmittel, Zeitungen und Fernsehen ist eine Tischgemeinschaft der wichtigste Platz für Austausch, Diskussion und Verständigung. Und wer zu einer Tischgemeinschaft dazugehört, der hat zumindest an diesem Tag für sein Essen gesorgt. Das ist wichtig in einer Gesellschaft, in der Armut überwiegt. Tischgemeinschaften entscheiden also darüber, wer dazu gehört, wer anerkannt ist. Wer dazu eingeladen wird, der sollte ein interessanter Gesprächspartner sein. Er sollte ein gewisses Ansehen haben, keine anrüchige Randfigur sein.

Jesus ist ein gesuchter Gesprächspartner. Pharisäer laden ihn ein, also gebildete, engagierte Juden, die auf religiöse Tradition halten. Jesus könnte sich als charmanter Gast geben, mit einem klugen Wort hier und einer intelligenten Bemerkung da. Doch er macht zwei Fehler:

Zum einen lässt er zu, dass sich Leute von sehr zweifelhaftem Ruf an seinen Tisch setzen. So akzeptiert er eine stadtbekannte Prostituierte bei sich am Tisch. Und zum anderen lässt er sich auch von zwielichtigen Leuten einladen, etwa von Zöllnern, den verhassten Steuereinnehmern der römischen Besatzungsmacht. Für Juden ist das eine heftige Provokation. Wie kann sich der beliebte Wanderprediger Jesus mit solchen Leuten abgeben! Er muss doch wissen, welches Gesindel das ist! Diese Leute färben doch auf ihn ab!

Jesus isst und trinkt aber trotzdem mit Sündern und Zöllnern. Dabei will er nicht die bestehende gesellschaftliche Ordnung umzustürzen. Er gibt den Menschen am Rand vielmehr eine Kostprobe. Als der entscheidende Repräsentant Gottes macht er ihnen klar: So wie ihr hier mit mir zusammensitzt, so lädt euch Gott bildlich gesprochen zu einem ewigen Gastmahl ein. Ihr bleibt nicht vor der Tür, ihr seid alle eingeladen. Das fängt jetzt schon an und darüber können wir uns jetzt schon gemeinsam freuen, hier an diesem Tisch. Was der Evangelist Lukas aufgeschrieben hat, gilt damals wie heute: Gott will die Menschen vom Rand mit am Tisch haben. Und an unseren Tischen sollten sie auch Platz haben.

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Anstöße SWR1 RP / Morgengedanken SWR4 RP

10AUG2024
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Mit zwei Enkelinnen, sieben und fünf Jahre alt, bin ich in der Stadt unterwegs. Am Straßenrand sehen wir einen Mann, der dort sitzt und bettelt. Der fasziniert und irritiert die Kinder zugleich. Warum sitzt er da, was will er haben – das Gespräch führt schließlich zu der Frage: Wie können wir ihm helfen? Das ältere Mädchen meint: Ich würde ihm Geld geben. Meine jüngere Enkelin sagt: Ich würde ihn mit nach Hause nehmen. Diese Antwort verblüfft mich. Ich dachte eigentlich mehr an Sozialstaat, Caritas und Ehrenamt. Aber ihn mit nach Hause nehmen?
Ohne es zu wissen hält sie mir einen Spiegel aus der Bibel vor, wo es auch darum geht, wen ich zu mir einlade: Dort wird erzählt, Jesus ist bei einem führenden Pharisäer eingeladen und schaut sich die übrigen Gäste an. Vermutlich alles so ehrenwerte angesehene Menschen wie der Gastgeber. Eine Gesellschaft, in der man sich gerne aufhält. Doch Jesus sagt zu dem Gastgeber: Wenn Du ein Essen gibst, lade nicht deinesgleichen ein. Die laden dann dich wieder ein und alles ist ausgeglichen. Lade lieber Arme, Krüppel, Lahme und Blinde ein, die es dir nicht vergelten können, und vertraue darauf, dass es Dir von Gott vergolten wird.

Ich gestehe ein, ich schaffe das nicht, die Menschen vom Straßenrand zu mir einzuladen. Natürlich haben sich die Zeiten geändert. Zur Zeit Jesu wäre die Einladung zu einem Essen für viele Arme die einzige Möglichkeit gewesen, überhaupt zu einer Mahlzeit am Tag zu kommen. Heute gibt es – wie gesagt – Sozialstaat, Caritas und Ehrenamt. Aber die Antwort meiner Enkelin piekst mich wie ein Stein im Schuh. In ihrer spontanen Reaktion macht sie darauf aufmerksam: Es geht um mehr als Essen. Es geht um Zugehörigkeit und Zuwendung, um Anerkennung und Respekt. Deshalb schlägt Jesus dem Pharisäer vor, Arme und Kranke zu sich einzuladen. Nicht damit sie abgefüttert werden, sondern damit sie dazu gehören.

Staatliche und gesellschaftliche Hilfe, Suppenküchen und Sozialämter sind hilfreich und bis auf weiteres unersetzlich. Keine Frage. Aber trotzdem bleibt etwas offen, mit dem ich noch nicht fertig bin und das in der Antwort meiner Enkelin liegt, wenn sie zu mir sagt: Ich würde ihn mit nach Hause nehmen.

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Anstöße SWR1 RP / Morgengedanken SWR4 RP

09AUG2024
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Ich habe mich in einem anderen Menschen getäuscht. Und in mir selbst.
Meine Frau und ich sitzen in unserer Lieblingspizzeria beim Mittagessen. Am Nebentisch essen vier gut gekleidete Männer. Offenbar freuen sie sich über einen beruflichen Erfolg, lachend und großspurig. Der Wortführer fällt mir besonders auf: Mit großen Gesten, lautstark und erfolgsverwöhnt redet er, mir ist er einfach unangenehm. - Der Verkäufer einer Obdachlosenzeitung geht von Tisch zu Tisch, bietet seine Zeitung an, bittet um eine Spende. Er kommt auch an den Tisch der vier Männer. Na, denke ich, die vier werden ihm was erzählen. Doch der großspurige Erfolgstyp wechselt den Ton und sagt: Eine Zeitung möchte ich Ihnen nicht abkaufen. Aber ich lade Sie zu einer Pizza und einem Getränk ein, nehmen Sie doch bitte Platz. Und der Verkäufer setzt sich an einen Tisch und bestellt sein Essen.
Diese Begebenheit erinnert mich an eine Geschichte, die Jesus erzählt: Zwei Männer gehen zum Beten in den Tempel, ein Zöllner und ein Pharisäer. Der Pharisäer ist ein respektierter, frommer Gelehrter. Der Zöllner ist ein verachteter Helfer der verhassten Römer, den die Leute meiden. Der Pharisäer fängt gleich an zu beten und legt Gott dar, wie er in jeder Hinsicht fromm und gottgefällig lebt. Und er dankt Gott, dass er nicht ist wie die anderen, wie zum Beispiel dieser Zöllner da hinten. Der bleibt nämlich ganz hinten stehen und sagte nur: Gott sei mir Sünder gnädig. Und Jesus lobt den Zöllner, der um Vergebung bittet, und nicht den Pharisäer, der glaubt – selbstsicher und arrogant wie er ist –, keine Vergebung zu brauchen.

Wann immer ich diese Geschichte lese, möchte ich mich gerne in dem Zöllner wiedererkennen, möchte meiner Fehler bewusst sein und um Vergebung bitten. Doch bei der Begebenheit in der Pizzeria finde ich mich unversehens in der Rolle des Pharisäers wieder. Da bin ich selbst in die Falle getappt und habe im Stillen gedacht: Na, so einer bin ich aber nicht, der sich da unangenehm großtut und herumprahlt. Doch die Großzügigkeit des anderen hat mich beschämt. Es ist nämlich nicht immer so klar, wer hier eigentlich der Pharisäer ist.

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Anstöße SWR1 RP / Morgengedanken SWR4 RP

08AUG2024
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Bis vor wenigen Jahren betonten die Wahlprogramme der Parteien die Werte „Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit“. Die einen sahen sich der Freiheit verpflichtet, andere mehr der Solidarität und wieder andere betonten die Gerechtigkeit. Meist kam eine Mischung aus den drei Werten heraus und gab dem Programm einen Rahmen. Durch Terrorismus und Kriege kam dann ein vierter Wert hinzu: Sicherheit. Nachvollziehbar, denn ohne Sicherheit sind die anderen Werte kaum zu verwirklichen.

Seit der Europawahl sehe ich aber eine wesentliche Veränderung. Auf den Plakaten und in den Programmen erscheint ein neuer Wert: Wohlstand. Und der verdrängt andere Werte. So plakatierte eine Partei nur noch: Freiheit, Sicherheit, Wohlstand. Gerechtigkeit und Solidarität kommen nicht mehr vor.

Ich verstehe Menschen, die Angst um ihren Wohlstand haben. Inflation, schrumpfende Wirtschaft und hohe Ausgaben für Krankheit und Pflege, Klima und Krieg – das kann ernsthaft beunruhigen. Zugleich frage ich, um wessen Wohlstand es der Politik geht. Die wirklich Wohlhabenden haben Mittel und Wege, ihren Wohlstand zu sichern. In der Pandemie steigerten die Milliardäre weltweit ihr Vermögen sogar um 60%. Wenn es wirklich um Wohlstand geht, dann doch um den gefährdeten oder den fehlenden Wohlstand derer, die nur knapp oder gar nicht über die Runden kommen: Viele Geringverdiener, Alleinerziehende, gesundheitlich Eingeschränkte, Menschen mit kleinen Renten und andere. Da geht es um eine gerechte und solidarische Beteiligung am Wohlstand unseres Landes. Und es geht auch darum, dass Menschen in anderen Ländern, die unseren Wohlstand sichern, Gerechtigkeit und Solidarität erfahren. Deshalb gehören für mich Wohlstand, Gerechtigkeit und Solidarität zusammen.

Der Apostel Paulus hat dafür ein ganz einfaches Rezept: Einer trage des anderen Last, sagt er, so erfüllt ihr das Gesetz Christi. Wer Lasten tragen kann für andere, insbesondere Ärmere, der soll das tun. Selbst wenn er für sich nichts erwarten kann. Denn er hilft so, unsere Gesellschaft etwas gerechter und solidarischer zu machen. Und darum sollte es in der Politik schließlich gehen.

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