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SWR2 Wort zum Tag

29APR2023
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Wie schön es wäre, wenn es diese ganze Informationsflut nicht geben würde, die mich täglich auf allen Kanälen überschwemmt. Wenn nicht permanent die Probleme der Welt auf mich niederprasseln würden. Wenn wir das alles gar nicht wüssten. Wenn das Leben noch vor Ort stattfinden würde. Wenn die Leute noch im Hier und Jetzt leben würden, wie man sagen könnte. Was woanders passiert, wäre dann egal, weil man nichts davon wüsste.

Dann würde es uns egal sein, ob irgendwo in der Ukraine, im Jemen, in Syrien, im Sudan oder in Afghanistan Krieg herrscht. Dann hätten wir kein Problem damit, wie andernorts mit Minderheiten umgegangen wird. Ob in China Uiguren unterdrückt würden, ginge uns nichts an. Von Uiguren hätten wir sowieso noch etwas gehört. Wir würden uns um unseren eigenen Kram kümmern. Da gibt es ja schließlich auch genug zu tun. Es ginge uns nichts an, ob irgendwo der Regenwald abgeholzt oder das Wasser verschmutzt wird. Staatsformen in anderen Ländern wären uns egal. Von Kinderarbeit wäre nirgends die Rede. Welche Stellung Frauen in anderen Weltgegenden haben, wäre kein Thema. Von Hungersnöten wüssten wir nichts. Ob woanders Dürre herrscht, die Erde bebt oder überschwemmt wird, bräuchte uns nicht zu beunruhigen. Ob irgendwelche Tierarten aussterben, würde uns nicht den Schlaf rauben...

Wir wüssten von alledem nichts. Die Welt wäre klein und überschaubar. Ja, vielleicht wäre das wunderschön. Aber es ist nicht so.

Wir leben nun mal in einer global vernetzten Welt und wir wissen über das meiste Bescheid, was auf ihr passiert. Damit müssen wir umgehen.

Ich finde das sehr schwer und es kann einen ganz schön ins Straucheln bringen. Es ist eine Gratwanderung zwischen Anteilnahme und einer Art Ignoranz, um sich selber zu schützen. So ganz kommen wir da nicht raus ohne entweder völlig abzustumpfen oder am Weltschmerz zu zerbrechen. Beides, denke ich, ist keine Option. Da ich selber mitten in diesem Konflikt stecke, habe ich keine richtige Lösung. Ich mache es wahrscheinlich wie die meisten: Ich tue, was ich kann. Ich versuche mich so gut es geht einzubringen. Auch wenn ich das Gefühl habe, dass es angesichts der riesigen Probleme nie ganz ausreicht. Deshalb finde ich es wichtig sich einzugestehen, dass die Möglichkeiten jedes einzelnen begrenzt sind. Gleichzeitig ist es aber auch wichtig sich immer darum zu bemühen, diese Grenzen immer weiter hinauszuschieben.

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SWR2 Wort zum Tag

28APR2023
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Anfang des Jahres habe ich als Reaktion auf eine Beitragsserie  folgende Mail erhalten:

Du nimmst dir das Recht heraus andere zu kritisieren, während Du wahrscheinlich selbst Kinder sexuell missbrauchst???? Was soll der Scheiß? Wir sehen uns in der Hölle!!!

Ich weiß nicht, worauf genau sich der Schreiber bezogen hat. Der Vorwurf, dass ich Kinder sexuell missbrauchen würde, hat aber vermutlich damit zu tun, dass ich im Namen der Katholischen Kirche spreche. Das Verhalten der Missbrauchstäter, die Unfähigkeit des Systems Kirche im Umgang mit den Tätern und noch mehr mit den Opfern - Das alles macht wütend und viele wenden sich angewidert ab. Dass ich da was abbekomme, wenn ich weiter im Namen der Kirche spreche, ist nicht überraschend und vollkommen in Ordnung. Die Art und Weise ist natürlich eine andere Sache.

Es soll jetzt aber gar nicht um mich gehen. Ich habe mich nur Folgendes gefragt: Wenn ich, der ich 3 mal 3 Minuten alle paar Monate in einem kleinen Licht der Öffentlichkeit stehe, schon solche Beleidigungen bekomme, wie mag es dann jemandem ergehen, der wirklich in der Öffentlichkeit steht?

Ich habe mich mit einer Freundin, die relativ prominent politisch aktiv ist, darüber unterhalten. Sie hat gemeint, dass diese Mail schon heftig ist, ich aber noch gut wegkomme. Zumal ich Glück habe, dass ich ein Mann bin. Sie hat mir dann Mails gezeigt, die sie bekommt und die sie nur aufgrund der Tatsache beleidigen, weil sie eine Frau ist. Ich möchte das hier nicht zitieren. Sie erzählte dann von Kommentaren, die eine Bekannte von ihr sich anhören muss, nur weil sie schwarz ist. Ein anderer Freund, weil er im Rollstuhl sitzt. Alles Personen, die sich für etwas engagieren, die ihr Gesicht für ihre Überzeugung zeigen und die Gesellschaft voranbringen wollen. Sicherlich auch die ein oder andere Person, die man durchaus kritisieren kann, wenn es um die Sache geht.

Aber wenn ich mir überlege, welcher Schmutz jeden Tag über die sozialen Medien verbreitet wird, wird es mir schwindelig. Das Problem ist längst bekannt und ich will jetzt nicht an die Kommentarschreiber appellieren das alles sein zu lassen. Obwohl sie das tun sollten – zumindest in dieser Form. Aber ich glaube, das bringt nichts. Ich möchte mich lieber bei denen bedanken, die sich trotz dieser permanenten Aggression nicht entmutigen lassen und weiter machen. Sich für die Gesellschaft und das Zusammenleben weiter engagieren. Sich diesem Gepolter nicht beugen. Ich hoffe, jeder findet einen guten Weg unbeschadet damit umzugehen.

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SWR2 Wort zum Tag

27APR2023
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„Ein ewig Rätsel will ich sein, mir und allen anderen“.

Dieser Ausspruch wird Ludwig II., König von Bayern, nachgesagt. Der Märchenkönig, wie man ihn häufig nennt, hat sich während seiner Regierungszeit immer weiter von der Welt und den Menschen entfernt. Er hat sich immer stärker in seine Traumwelten zurückgezogen. Warum - Man weiß es nicht genau. Auf jeden Fall hat er sich und seine Situation mit diesem Satz umschrieben: „Ein ewig Rätsel will ich sein, mir und allen anderen“.

Diese Formulierung ist ziemlich pathetisch. Denn der Inhalt des Satzes wirkt doch eigentlich ziemlich banal. Denn König Ludwig musste sich doch gar nicht darum bemühen ein Rätsel für andere zu sein. Er war es doch sowieso. Schon allein deshalb, weil er ein Mensch war. 

Ich glaube, wir können einen anderen Menschen nie ganz ergründen. Nie ganz dahinter kommen, wer in unserem Gegenüber steckt. Jeder ist immer anders als gedacht.

Allerdings habe ich den Eindruck, dass wir uns oft dagegen wehren. Wir neigen dazu uns ein Bild von anderen Leuten zu machen und wenn das fertig ist, versuchen wir es aufrechtzuerhalten. Ja manchmal zwängen wir den anderen geradezu in unser Bild hinein. Und alles, was er sagt oder tut, wird dann aus diesem Blickwinkel heraus interpretiert.

Zugegeben, das ist ein bisschen überspitzt ausgedrückt, aber es steckt ein wahrer Kern darin.

Ist der andere wirklich so wie ich ihn sehe, oder mache ich ihn zu dem, was er in meinen Augen ist. Oder schärfer gesagt: Was er in meinen Augen zu sein hat.

Ich für meinen Teil muss zugeben, dass ich mich manchmal dabei ertappe, mein Bild von jemandem mit aller Macht zu bestätigen. Es gibt ja auch Sicherheit, wenn ich jemanden kenne und einschätzen kann. Vielleicht ist das auch die Grundlage dafür, dass ich jemandem vertrauen kann. Gleichzeitig bin ich andererseits aber manchmal ganz erschrocken darüber, welch verkürztes Bild andere von mir haben. Ich bin doch ganz anders als sie denken. Viel vielschichtiger. Viel mehr. Und wenn ich dieses Bild, das ich von mir selber habe, berücksichtige, dann klingt das Zitat des Märchenkönigs gar nicht mehr so banal, wie ich es behauptet habe.  Denn vielleicht drückt der Wunsch „Ein ewig Rätsel will ich sein“ nicht aus, dass er schwer durchschaubar oder geheimnisvoll sein will. Sondern dass er einfach so sein und gesehen werden will, wie er ist. Wie wir Menschen eben sind: Rätselhaft und widersprüchlich. Auf jeden Fall mehr als das, was man sehen kann.

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SWR2 Wort zum Tag

04JAN2023
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Ich muss gestehen: Mit der Art und Weise wie manche Menschen für den Klimaschutz demonstrieren, tue ich mich schwer. Tomatensuppen auf Kunstwerke zu werfen, finde ich falsch. Denn für mich sind diese über ihren finanziellen Wert hinaus besonders kostbar. Sie machen sichtbar, wozu wir Menschen im positiven Sinne schöpferisch in der Lage sind. Ich finde, ganz gleich wie wichtig ein Anliegen ist, von der Kunst sollte man die Finger lassen.

Andererseits bin ich den meist jungen Menschen sehr dankbar für Ihren Einsatz. Sie versuchen unermüdlich, uns wachzurütteln. Dabei stoßen sie bei einigen zwar auf Verständnis, aber über das Verständnis hinaus geschieht wenig. Sie fordern uns auf, dass wir unser Leben ändern müssen und dass wir weniger haben und weniger verbrauchen sollen. Damit haben sie einen schweren Stand. Denn das will ja niemand hören. Wenn unsere Gewohnheiten in Frage gestellt werden, machen wir dicht. Das ist für die frustrierend, die sich für den Klimaschutz einsetzen. Noch dazu müssen sie sich ständig - zum Glück nur von einer Minderheit -  anhören, dass der Klimawandel doch gar nicht existiert und es Temperaturschwankungen immer gegeben hat. CO2 heißt es da, sei sowieso kein Problem. Und viele schieben die eigene Verantwortung von sich - mit Sätzen wie: „Solange es Kreuzfahrtschiffe gibt, kann ich noch lange mit dem Auto durch die Gegend fahren“.

Das alles schlägt den Aktivisten entgegen. Dabei haben sie alle Erkenntnisse der seriösen Wissenschaft auf ihrer Seite. Gleichzeitig spüren sie bedrohlich, dass sie Teil der letzten Generation auf dieser Erde sind. Ehrlicherweise kann ich da dann doch auch verstehen, dass irgendwann die Geduld ans Ende kommt und man irgendwas irgendwohin schleudern will. Ich vermute, sie werfen Suppen auf Kunstwerke, um folgendes zu sagen: Alle Errungenschaften menschlicher Kultur werden wertlos, wenn kein menschliches Leben mehr möglich ist. In diesem Sinne sind es also wir alle, die die Kunstwerke beschmutzen und zerstören. Denn wir zerstören die Lebensgrundlagen und zeigen damit, dass uns unsere eigene Kultur egal ist. Die Suppenwürfe sind nur ein krasses Symbol für die Folgen unserer Lebensweise. Diese Logik ist nachvollziehbar. Aber ich finde, es ist zu viel Provokation. Die führt nicht zu Einsicht, motiviert nicht zum Handeln, sondern lenkt ab. Ich glaube, sie bewirkt nur, dass sich Gräben vertiefen, dass nicht wenige Leute mit Ablehnung reagieren und sich verschließen. Ich befürchte, dass wir zu viel darüber diskutieren, welche Form des Protestes angemessen ist und nicht über die Sache selbst. Dadurch verlieren wir Zeit, die wir -da stimme ich den Protestierenden zu – bei diesem wichtigen Thema nicht haben.

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SWR2 Wort zum Tag

03JAN2023
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Ich beschäftige mich gern mit der Quantenphysik. Dabei geht es darum, wie die kleinsten Teilchen, die man messen kann, sich zueinander verhalten. Ich verstehe das letztlich nicht. Immer wieder bringt es mein Denken und mein Weltverständnis durcheinander. Immer wieder irritiert es mich und fordert mich heraus. Die Quantenphysik regt mich zum Denken an und stellt festgefahrene Überzeugungen in Frage. Deshalb mag ich sie so.

Besonders angetan hat es mir die von Albert Einstein so bezeichnete „Spukhafte Fernwirkung“. Dabei geht es ganz grob darum, dass zwei Teilchen über eine große Entfernung eine solche Verbindung haben können, dass sie sich genau gleich verhalten. Als würden sie Kontakt zueinander haben, ohne miteinander zu kommunizieren. Das finde ich unglaublich spannend.

Weil ich dabei Parallelen zu einem Phänomen finden kann, das mir immer wieder begegnet. Ja, ich glaube, jeder kennt solche unerklärlichen Erlebnisse, die ich jetzt beschreibe:

Ich denke an einen Menschen, der weit weg wohnt und den ich lange nicht gesehen habe. Und genau in dem Moment ruft er an. Manchmal melde ich mich bei jemandem und der sagt: „Ich habe gerade an Dich gedacht“. Es kommt auch vor, dass ich mich plötzlich ganz fest mit jemandem verbunden fühle und der andere erzählt später, dass es ihm etwa im gleichen Zeitraum genauso gegangen ist. Oder ich spüre, dass es jemandem nicht gut geht, melde mich und er erzählt, dass es tatsächlich so ist. Ich habe auch schon von jemandem geträumt und am nächsten Tag erfahren, dass er gestorben ist.

Solche Erlebnisse sind immer besonders. Und wir wundern uns, wie das sein kann. Gerne versuchen wir das mit Zufall zu erklären. Komischer Zufall, sagen wir dann. Aber vielleicht ist es gar kein Zufall. Vielleicht gibt es eine Verbindung zu Menschen, die weit weg sind, uns aber dennoch im wahrsten Sinne des Wortes „nahe stehen“. Eine Verbindung, die Einfluss auf unser Denken, Fühlen und Handeln hat. Eine Verbindung, die uns über hunderte Kilometer Entfernung mitfühlen, mitleiden, mitfreuen – eben mitleben lässt. Vielleicht gibt es so etwas wie eine spukhafteFernwirkungzwischen Menschen. Die Vorstellung finde ich schön. Und: Ich bin mir sehr sicher, dass es das gibt.

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SWR2 Wort zum Tag

02JAN2023
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You`ll never walk alone - Du wirst nie alleine gehen. Damit wollte Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Ansprache uns Bürgern zumindest die größten Sorgen vor der Zukunft nehmen. Er hat betont, dass wir als Gesellschaft in der Krise zusammenstehen müssen und versprochen, dass seine Regierung alles dafür tun will.

Das Zitat – You`ll never walk alone – stammt aus einem Fanlied des Fußballclubs FC Liverpool. Ein sehr pathetisches Lied. Der Text lautet etwa so:

 

Wenn du durch einen Sturm gehst,

dann halte deinen Kopf hoch erhoben

und hab keine Angst vor der Dunkelheit

Am Ende des Sturms ist ein goldener Himmel

und das süße silberne Lied der Lerche.

Geh weiter durch den Wind

Geh weiter durch den Regen

Auch wenn deine Träume umhergeworfen und weggeweht werden

Geh weiter  mit Hoffnung in deinem Herzen

und du wirst nie alleine gehen . . .

 

Schöne und starke Worte. Sie passen auch gut zum Anfang des neuen Jahres, machen Mut und Hoffnung. Motivieren zum Durchhalten. Für mich ist das beinahe ein religiöser Text. Er erinnert mich an Jesu Versprechen, dass er bei uns sein wird. Alle Tage bis zum Ende der Welt. Es ist eine Zusage, dass wir gehalten werden, dass wir eben nicht allein sind, ganz egal was kommt -

Trotzdem sind wir manchmal allein. Und viele Menschen sind immer allein. Die Lebenswirklichkeit ist oft eine andere. Derzeit erleben wir große Krisen, in denen wir versuchen, was der Kanzler anspricht: zusammenstehen und aufeinander achten. Aber das Leben vieler Menschen ist von dauernden persönlichen Krisen geprägt. Krisen, die einsam machen. Die kann der Staat kaum lösen. Und, auch wenn ich daran glaube, dass Gott bei uns ist, es ist doch schöner mit einem anderen Menschen zu sprechen, ihn zu berühren, in die Augen zu schauen. Mit einem Freund zusammen zu sein und gehalten zu werden. Ängste und Sorgen zu teilen.

Ich glaube, das ist das Wichtigste: Freundschaft. Mit ihr bewältigen wir alle Krisen. Freundschaft kann man aber nicht erzwingen und auch nicht verordnen. Man muss sie finden. Das wünsche ich jedem für das frisch angebrochene Jahr: Jeder soll Freunde finden. Dass wir uns in schweren Zeiten nicht nur auf so ferne und abstrakte Zusagen von einem Bundeskanzler stützen müssen. Dass es nicht nur der Glaube an den liebenden Gott ist, der uns die Einsamkeit nimmt, sondern die konkrete Begegnung mit einem vertrauten Menschen. Einem Freund. Damit das „You`ll never walk alone“ kein Regierungsversprechen mehr sein muss. Sondern spürbar Wirklichkeit ist.

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SWR2 Wort zum Tag

09NOV2022
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Der 9. November wird auch der Schicksalstag der Deutschen genannt. Zweifellos ist es ein Datum, an dem sich markante Ereignisse in unserer Geschichte häufen. Aber ob es unser Schicksalstag ist? Wenn von Schicksal die Rede ist, dann geht es um etwas, das von höheren Mächten bestimmt wird. Etwas geschieht, auf das eine Person oder eine Gruppe keinen Einfluss hat. Man ist seinem Schicksal ausgeliefert. Wenn ich den 9. November mit dem Schicksal verbinde, dann denke ich aber nicht nur daran, dass er für das Geschick der Deutschen bedeutsam ist. Noch mehr steht der Tag dafür, dass sich aus der Mitte der Deutschen eine große Gruppe dazu aufgeschwungen hat, das Schicksal über andere zu bestimmen. In den Pogromen, die um den 9. November 1938 stattgefunden haben, zeigt sich das. Da brannten Synagogen, jüdische Menschen wurden verprügelt und ermordet. Wenn es also um Schicksal gehen soll, dann doch eher um das Schicksal derer, die diesen organisierten Verbrechen zum Opfer gefallen sind. Deshalb ist der 9. November auch zurecht ein Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Was in dieser Zeit hier und in ganz Europa stattgefunden hat, ist in seiner Menschenverachtung, seiner Radikalität und Konsequenz einzigartig. Ich finde, wir dürfen nicht müde werden das zu betonen. Aber es gibt Menschen, die sagen, sie seien genau das: Müde. Sie wollen es nicht mehr hören. Da ist dann von Dingen wie „Schuldkult“ die Rede. Begriffe, die zu Schlagwörtern werden. Und in manchen Kreisen werden wieder antisemitische Symbole und Redewendungen alltäglich, Juden werden wieder mehr und mehr diffamiert. Sogar körperlich angegangen. Ähnliches passiert Sinti und Roma und anderen Gruppen, die als „andersartig“ bezeichnet werden.

Ich hatte nie Probleme damit, mich der Geschichte meines Landes zu stellen. Ich bin 1980 geboren und es gibt niemanden, der mir eine persönliche Schuld an der Zeit davor anlastet. Aber mittlerweile sieht es anders aus. Weil die Radikalisierung nicht aufhört und sich verbreitet, geht es auch mich an. Da stehe ich als Deutscher in der Verantwortung. Nicht für das, was meine Vorfahren getan haben. Sondern dafür, was ich jetzt in dieser Situation tue oder eben nicht tue. Die, die das Erinnern an die Schoah verweigern, bewirken keine Entlastung und keinen Schlussstrich. Sondern das Gegenteil. Indem sie die Geschichte kleinreden und verleugnen, holen sie etwas von der Schuld der Vergangenheit ins Heute. Wer wirkliche historische Schuld verleugnet, erneuert sie erst recht. Dann wird sie eine immerwährende Schuld. Das allerdings hat dann mit Schicksal nichts mehr zu tun.

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SWR2 Wort zum Tag

08NOV2022
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Jesus kommt in den Tempel von Jerusalem und stößt dort auf Händler, Krämer und Geldwechsler. Es herrscht ein buntes Treiben. Er wird wütend, vertreibt die Leute und ruft den bekannten Satz: „Ihr habt aus meinem Haus eine Räuberhöhle gemacht.“

Es ist ein zorniger Jesus, der uns da begegnet, keiner, der Verständnis zeigt und mitfühlend ist. Offenbar sind die Händler im Tempel zu weit gegangen. Sie haben eine Grenze überschritten, die Jesus nicht akzeptieren kann. Sie haben den Tempel zweckentfremdet.

Aus der Perspektive eines Händlers bietet der Tempel, wie man heute sagt: eine 1A Innenstadtlage. Leute kommen zusammen, es gibt einen zentralen Platz und jede Menge Laufkundschaft. Da lässt es sich gut Geld verdienen. Und jeder marktwirtschaftlich denkende Mensch wäre ja dumm, wenn er diese Vorzüge nicht nutzen würde. Da sind mindestens zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Man kann sich um sein Seelenheil kümmern und auf dem Nachhauseweg noch nötige Einkäufe erledigen. Die Händler gehen nur einer offenbar tief menschlichen Regung nach: Möglichst effektiv das eine mit dem anderen zu verbinden und Geld zu verdienen.

Aber nicht mit Jesus!

Ich weiß nicht, ob er was gegen Handel oder Geld an sich hat, ich denke eher nicht. Aber hier an diesem Ort hat das Geldverdienen nichts verloren. Ein Tempel ist ein Tempel, so könnte man seine Worte deuten. Ich halte das für einen sehr wichtigen Gedanken. Auch und gerade in unserer Zeit, in der Effizienz und Gewinnmaximierung bis ins Letzte ausgereizt werden.

Private Pflegeunternehmen schütten Millionengewinne an ihre Aktionäre aus. Gleichzeitig ist der Personalschlüssel bei den Angestellten viel zu schlecht und viele Bewohner von Heimen vereinsamen. Denn es wird vergessen: Ein Pflegeheim ist ein Pflegeheim. Da geht es um Pflege, Fürsorge und Heimat. Nicht um Gewinn.

Wenn in den Zeitungen steht, dass einzelne Abgeordnete mit Maskendeals oder anderen fragwürdigen Geldgeschäften in die eigene Tasche wirtschaften. Da muss man sagen: Ein Parlament ist ein Parlament. Da geht es um Demokratie, das Lenken eines Landes, um das Wohl der Bevölkerung. Nicht darum reich zu werden oder im Mittelpunkt zu stehen.

An vielen Stellen drängt sich die Frage auf: Worum geht es eigentlich und was machen wir daraus?

Es wird kein wütender Jesus mehr kommen und die Sache in die Hand nehmen. Das müssen wir schon selber übernehmen. Und ich weiß auch nicht, ob Wut und Zorn dafür ausreichen. Ich schlage vor, die Verantwortlichen fangen an mit etwas mehr Bescheidenheit und Demut. Und am besten damit, sich darauf zu besinnen worum es eigentlich geht und worauf es ankommt: Nicht auf das eigene Ego, sondern ein funktionierendes Miteinander.

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SWR2 Wort zum Tag

07NOV2022
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In Jules Vernes Roman: „20 000 Meilen unter dem Meer“ ist Kapitän Nemo die interessanteste Figur. Nemo hat seine Familie verloren. Er wurde als Wissenschaftler nie so anerkannt, wie es ihm seiner Meinung nach zugestanden hätte. Er ist resigniert und gibt den Menschen und der Gesellschaft die Schuld dafür. Deshalb hat er beschlossen sich ganz von seinen Artgenossen zu entfernen. Mit seinem U-Boot, der Nautilus, bereist er die Tiefsee und durchforscht diese menschleere und menschenferne Welt. Er will mit Seinesgleichen nichts mehr zu tun haben, will sein eigenes Menschsein ablegen. Als er drei Schiffbrüchige aufnimmt, führt er einen davon, einen Meeresbiologen, durch sein Schiff. Er zeigt ihm dabei auch seine Bibliothek, in der alle Geistesgrößen der Menschheit vertreten sind.  Außerdem hängen dort viele Werke bedeutender Künstler. Das ist nur eine kleine Episode des Romans, wie ich finde aber eine sehr bedeutende. Denn: In seinem Vorhaben, sich ganz der Menschen zu entledigen und sein Leben an der Oberfläche hinter sich zu lassen, schafft es Kapitän Nemo nicht, auf die Früchte des menschlichen Geistes zu verzichten. Er kann diese nicht aufgeben. Er kann also sein Menschsein nicht abstreifen. Er behält etwas Menschliches bei sich. Er kann nicht „Nemo“ – also „Niemand“ werden. Auch wenn er es noch so sehr will.

Mir zeigt diese Geschichte: Wir können unsere eigene Menschlichkeit nicht ablegen. Wir sind Menschen, ob wir wollen oder nicht. Wir alle tragen das in uns, was das Christentum die „Menschliche Seele“ nennt. Die gibt uns unsere eigene Persönlichkeit und verbindet uns zugleich alle miteinander. Wie oft wurde und wird dies vergessen oder bewusst ignoriert. Menschen werden gedemütigt, erniedrigt, entmenschlicht.

Weil manche nicht akzeptieren können, wie vielschichtig und facettenreich das Menschsein ist. Oder weil jemand nicht ertragen kann, dass die Welt nicht nur für ihn da ist.

Von heute an stellt die ARD Themenwoche die Frage danach, was uns zusammenhält. Ein Wir wird gesucht. Das ist natürlich eine schwierige Suche, liest man doch überall von Spaltung der Gesellschaft; bekommen doch Besserwissertum und Rücksichtslosigkeit Oberwasser.

Ich möchte mit dieser Suche ganz am Anfang beginnen. Ein bisschen wie Kapitän Nemo: Am tiefsten Grund. Am Ursprung. Bei der simplen Tatsache, dass ich ein Mensch bin.

In diesem meinem Menschsein finde ich nicht nur ein Ich, sondern auch ein Wir.

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SWR2 Wort zum Tag

17AUG2022
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Ich gehe gerne Bergsteigen. Und wenn ich dann oben bin, auf dem Gipfel, bin ich glücklich. Für einen kurzen Moment ist alles in Ordnung. Ich habe mich bewegt, spüre meinen Körper, der Kopf ist klar, ich fühle mich vollkommen gut und zufrieden. Dann, so nach einer halben Stunde packe ich zusammen und steige wieder ab. Das gute Gefühl bleibt noch eine Weile, aber irgendwann ist es verflogen.

So ein Gipfel ist ein Ziel. Und wenn ich oben bin, bin ich angekommen. Wenn ich mein Ziel erreicht habe. Aber ich bleibe dort nicht, ich gehe weiter. So empfinde ich es auch im Leben überhaupt. Jedes Ziel, das ich erreiche, ist nur vorläufig. Ein Zwischenschritt. Jedes Ziel wird zum Ausgangspunkt für ein neues Ziel. Ich glaube nicht, dass es ein wirkliches Ankommen gibt. Später dann, im Jenseits vielleicht, aber darüber kann ich nicht viel sagen. Dieses vorläufige Ankommen und wieder Aufbrechen ist eine Grunderfahrung meines Lebens. Es ist etwas, das mich ausmacht. Und deshalb tue ich mir auch mit klaren Antworten schwer. Wenn jemand kommt und mir die Welt erklärt, dass sie so oder so ist und nicht anders, da werde ich skeptisch und ziehe mich zurück. Denn ich habe gelernt, dass die Welt immer anders ist. In jedem Lebensabschnitt, in jedem Lebensgefühl zeigt sie sich mir anders. Und wenn ich meine, etwas verstanden zu haben, dann ist das nur eine neue Grundlage dafür weiter zu gehen. Selbst wenn ich mir bei etwas ganz sicher gewesen bin, hat das nie lange gehalten.

Auch mein Glaube hat sich gewandelt. In allen Phasen meines Lebens, sei es als Kind oder als Jugendlicher, hatte ich ein anderes Verständnis von Gott und eine andere Beziehung zu ihm. Und deshalb habe ich auch manchmal mit meiner eigenen Kirche zu kämpfen. Manchmal ist sie mir zu stur. Als hätte sie einfach aufgehört sich weiter zu entwickeln. Als hätte sie jede Flexibilität verloren. Flexibilität, nicht Beliebigkeit. Ich meine damit nicht, dass sie keinen Standpunkt vertreten sollte. Aber manchmal erscheint mir ihr Bild von Gott als zu starr. Und das widerspricht eben meiner eigenen Erfahrung.

Ich empfinde Glauben als einen inneren Prozess, der auch offen ist. Manchmal wünsche ich mir, dass er klar und eindeutig wäre. Aber das ist er für mich nicht. Oft ist er unsicher, oft zweifle ich, oft widerspricht er sich. Ich kann nicht einfach irgendwelche festen Wahrheiten übernehmen. Denn ich glaube, dass das Leben - wie auch Gott - immer mehr ist, als ich es von meinem momentanen Blickwinkel aus sehen kann.

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