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SWR Kultur Wort zum Tag
Ein paar Jahre ist es schon her, als ich auf einem kleinen Provinzbahnhof auf meinen Anschlusszug gewartet habe. Der Bahnhof war nahezu verlassen. Bis auf zwei Männer, die auf dem Bahnsteig gegenüber miteinander diskutiert haben. Ich habe nicht mitbekommen, worum es ging, aber beide waren unübersehbar etwas angetrunken. Ihre Diskussion wurde heftiger und lauter und schließlich schrieen sie sich nur noch an. Irgendwann nahm einer seinen Rucksack und schickte sich an wegzugehen. Als er das Bahnhofsgelände schon beinahe verlassen hatte, drehte er sich noch einmal um und rief „Du wirst schon sehen: Großmut kommt vor dem Fall!“ Dann verschwand er.
Ich musste schmunzeln, denn es war offensichtlich, dass ihm angesichts der Hitze der Debatte und wahrscheinlich auch wegen der paar Bier, die er getrunken haben mag, das Sprichwort, mit dem er einen Strich unter den Streit ziehen wollte, etwas verrutscht war. Sicher wollte er: „Hochmut kommt vor dem Fall“ sagen, hat aus dem Hochmut aber die Großmut gemacht.
Dieses verunglückte Sprichwort geht mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf. Immer wieder muss ich darüber nachdenken. Großmut ist für mich ein wichtiger Begriff. Er bezeichnet die Fähigkeit, anderen und sich selbst etwas gönnen zu können. Die Großmut ist eine gute Charaktereigenschaft oder Tugend. Oft denke ich mir, wenn es in der Welt großmütiger zuginge, dann gäbe es weniger Neid, weniger Rachsucht, weniger Kleinkariertheit. Dafür mehr Nachsicht, mehr Verständnis, mehr Großzügigkeit. Der Großmütige freut sich für den anderen mit, lässt ihm seinen eigenen Raum, seine eigene Entwicklung und Entfaltung. Der Großmütige lässt auch mal 5 gerade sein. Ich finde, das sind ausnahmslos positive Assoziationen.
Und jetzt ist da dieses verunglückte Sprichwort: „Großmut kommt vor dem Fall“. Und ich frage mich, ob da nicht auch etwas dran sein könnte…
Wahrscheinlich kommt es, wie so oft, auf die Dosis an. Der Großmütige droht zu fallen, wenn er zu großmütig ist. Wenn er zu nachsichtig, zu verständnisvoll, zu großzügig ist. Wenn er nicht nur die 5, sondern auch die 7 und die 9 gerade sein lässt. Denn dann wird er irgendwann nicht mehr ernst genommen. Dann wird er zum gutmütigen Trottel, mit dem man alles machen kann. Weil es keine Grenzen, keine Ordnung mehr gibt. Dann wird der Großmütige ausgenutzt. Und er fällt.
So kann aus einer durchwegs positiven Eigenschaft der Untergang werden. Und wahrscheinlich würde ich an dieser Stelle, genauso wie ich eben den Mangel an Großmut vielerorts beklagt habe, den Überfluss davon beklagen. Denn – das ist eine altbekannte Erkenntnis – zu viel von etwas ist genauso ungesund wie zu wenig.
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Ich habe mich in meinem Leben weitgehend denkend mit dem Glauben und mit Religion allgemein beschäftigt. Habe die wichtigsten Kirchenväter und Philosophen gelesen, habe deren Probleme nachempfunden, bin deren Gedanken nachgegangen. Habe mir meine eigenen dazu gemacht. Das fand ich toll und finde das auch heute noch. Ich liebe es mich in theologischen oder philosophischen Überlegungen zu verlieren. Dem nachzuspüren, was die Welt im Innersten zusammenhält. Die großen Fragen des Lebens und die Frage nach Gott treiben mich um, wie wahrscheinlich viele Menschen. Aber wenn ich ehrlich bin, bin ich so nicht sonderlich weit gekommen. Auch wenn ich behaupten möchte, dass ich alle wesentlichen Aussagen über Gott und Religion kenne oder zumindest schon einmal davon gehört habe. Gott hat mich das keinen Zentimeter näher gebracht. Für mein persönliches religiöses oder spirituelles Leben, oder wie man es auch immer nennen mag, hat mir mein „Studierstubenansatz“ wenig gebracht. Ich habe darin zwar Gottes Wort gelesen, Deutungen kennengelernt, es aber nicht wirklich gehört. Ich habe es bestenfalls zur Kenntnis genommen, es aber nicht erfahren. Das gelingt mir mittlerweile eher in Bereichen, die ich früher als seicht oder naiv bezeichnet hätte. Bereiche und Erlebnisse, die nichts mit meinem Intellekt, nichts mit meinem Denken zu tun haben. Zum Beispiel, wenn ich einen frischen Schluck Wasser aus einem Gebirgsbach trinke, nachdem ich den halben Tag schon bergauf gestiegen bin und die stechende Sonne mich ausgelaugt gemacht hat.
Oder die Kinderzeichnungen, die mir früher mein Neffe strahlend in die Hand gedrückt und dazu sagt: „Das ist für Dich“. Auch ein frisches kaltes Bier, dass ich zusammen mit meinem Vater trinke, nachdem er mir dabei geholfen hat, die Autoreifen zu wechseln.
Das sind Erfahrungen, die das Leben ausmachen. Über die brauche ich nicht viel nachzudenken, sie passieren mir einfach, ich muss sie nur sehen, schmecken, aufsaugen. Und ich glaube, das sind Momente, in denen Gott oder das Göttliche oder wie man es auch immer nennen mag, aufleuchtet und ganz da ist. Das Einzige, was dafür zu tun ist, ist offen und empfänglich dafür zu sein.
Ich glaube, wenn in solchen Momenten nicht das Wort Gottes liegt, dann hat Gott nie gesprochen.
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Ich habe aufgehört mit meinem Freund Werner zu diskutieren. Werner ist über 70, ich kenne ihn schon lange. Immer wieder lädt er mich ein und ich lebe für ein paar Tage sein Leben mit. Er ist ein alter Klassenkämpfer und hat einen Hang zum realexistierenden Sozialismus. Er findet das meiste dumm und falsch in unserer Gesellschaft und hasst vieles. Am meisten hasst er aber die Katholische Kirche. Das sei ein männerbündischer Haufen von Pädophilen, der nur Leid und Elend über die Welt gebracht hat. Weil er weiß, dass ich katholischer Theologe bin, drückt er solche Sätze besonders drastisch aus. Und ich bin jahrelang bei unseren Begegnungen sofort darauf eingestiegen und wir haben losdiskutiert. Es waren harte Diskussionen voller Bier und Tabak, immer abends bei ihm zuhause oder im Wirtshaus nebenan. Aber es ist in all den Jahren nichts dabei herausgekommen. Tagsüber war es aber immer ganz anders. Wir haben zusammen seine Nachbarn besucht, er wohnt in einem Dorf in einer, wie man sagt, strukturschwachen Gegend. Alles alte Leute in zu großen Häusern, denen er, der noch rüstig ist, immer hilft. Und wenn ich da war, wurde ich immer eingespannt. Wir haben entrümpelt, Gärten gerichtet oder sind für die Leute einkaufen gegangen. Manchmal bin ich stundenlang mit an irgendwelchen Küchentischen gesessen und habe zugehört, wie Werner mit den anderen darüber gesprochen hat, wie es früher gewesen ist. Vor allem bei den verwitweten Frauen konnte ich erleben, wie witzig und charmant mein alter Freund eigentlich ist. Er ist in jedes Haus gegangen und war überall willkommen.
Auch wenn er ein grantiger, schimpfender und vielleicht auch verbitterter alter Mann sein mag, so ist er zugleich ein feiner Kerl und wir mögen uns unheimlich gern. Aber über die Kirche diskutieren will ich nicht mehr mit ihm, was eigentlich unüblich für mich ist. Denn ich bin der Meinung, dass man über alles reden kann. Hier stoße ich aber an meine Grenzen. Wir sind in diesem Punkt einfach anderer Ansicht. In unseren Welterklärungsmodellen kommen wir nicht zusammen. Das habe ich gelernt stehen zu lassen. Aber ganz konkret, in der Art und Weise, wie wir unsere gemeinsame Zeit verbringen, in den Besuchen im Dorf, da harmonieren wir wunderbar. Wir haben endlich damit aufgehört uns gegenseitig missionieren zu wollen. Unsere Grundsatzdiskussionen haben zu nichts geführt. Wir tun etwas gemeinsam aus unterschiedlichen Motiven heraus und sind dabei ein gutes Team. Vielleicht gibt es noch etwas Grundsätzlicheres als unsere Grundsätze. Etwas, das uns über alle Unterschiede hinweg verbindet. Ich möchte es Mitmenschlichkeit nennen.
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Meine Laufkarriere ist zu Ende. Für mich ist das eine große Sache. Ich bin jahrzehntelang wie ein Wilder gelaufen. Marathon, Ultramarathon, Bergläufe. Zehntausende von Kilometern habe ich laufend zurückgelegt. Und jetzt geht es nicht mehr. Mein Körper sagt: Nein. Er will nicht mehr mitmachen. Das ist ein großer Einschnitt. Ich muss etwas aufgeben, das ich sehr geliebt habe und das mir sehr geholfen hat. Beim Laufen hatte ich immer gute Gedanken. Beim Laufen konnte ich meine Gefühle sortieren und meine Wut loswerden. Dass das jetzt nicht mehr geht, verändert mein Leben, verändert meinen Alltag, verändert auch mein Selbstverständnis. Früher habe ich die Warnungen der Älteren in den Wind geschlagen, wenn sie meinten, ich solle es nicht übertreiben. Das hat mich nicht interessiert. Ich war so etwas wie unsterblich. Strotzte vor Kraft und Energie. Heute, mit 43, denke ich: hätte ich doch bloß auf sie gehört, mich mehr geschont, vorausschauender gehandelt. Aber das ist nicht mehr zu ändern. Und genau das ist es, was mich beschäftigt: Es ist nicht mehr zu ändern. Irgendwann im Leben, sind manche Dinge vorbei. Damit gilt es zurechtzukommen. Dem sind wir alle ausgeliefert. Ich glaube sogar, es ist die größte Herausforderung des Lebens eben damit umzugehen, dass alles irgendwann vorbei ist. Dass Menschen mich verlassen, dass ich manche Sachen irgendwann einfach nicht mehr kann. Dass ich Vieles aufgeben und zurücklassen muss. Aber ich schiebe das gern beiseite. So wie die langsam aufkommenden Schmerzen beim Laufen in den letzten Jahren. Ich wollte sie nicht wahrhaben, bis ich sie nicht mehr ignorieren konnte. Bis sie ganz da waren.
Mein zukünftiges Leben wird anders aussehen. Ohne die von mir so geliebte Gewohnheit nahezu jeden Tag eine Runde Laufen zu gehen. Das bereitet mir Kummer und ich weiß noch nicht genau, wie ich das hinbekommen soll. Natürlich werde ich mich auf andere Sportarten konzentrieren, ich brauche ja meine Bewegung. Dennoch wird es mir sehr fehlen, das Laufen. Aber ich bemühe mich darum, nicht die Kilometer zu beklagen, die ich nicht mehr laufen kann, sondern dankbar für die zu sein, die ich laufen durfte. Wie gesagt, ich bemühe mich darum. Das ist schwerer, als es sich anhört. Aber es scheint mir ein guter Weg zu sein. Ich werde mit den Jahren noch vieles aufgeben müssen. Daran führt kein Weg vorbei. Aber ich kann nur das verlieren, was ich habe. Daran erkenne ich, wie reich mein Leben doch ist.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40438SWR Kultur Wort zum Tag
Im Sommer helfe ich immer auf einer Berghütte. Die ist weitgehend autark. Wir produzieren unseren Strom selber, versorgen uns mit Regenwasser, kochen hauptsächlich auf einem alten Küchenofen. Und wir haben nur das, was man allgemeinhin ein Plumpsklo nennt. Da wir im Sommer einige tausend Menschen bewirten, ist dieses am Ende der Saison immer voll. Deshalb müssen wir es jedes Frühjahr ausräumen. Man kann sich vorstellen, dass das keine sehr angenehme Arbeit ist. Ich will nicht zu sehr ins Detail gehen, aber es sind drei Tanks, die von Hand ausgeschaufelt und ausgekratzt werden müssen. Das wird dann alles in Fässer gefüllt und ins Tal in die Kläranlage gebracht. Die Aktion dauert meist einen ganzen Vormittag. Wir sind da immer fünf oder sechs Personen. Alles freiwillige Helfer, die zu diesem Zweck 800 Höhenmeter auf den Berg steigen und abends wieder hinunter. Da kommt natürlich die Frage auf, warum man sich sowas antut. Es ist eine Knochenarbeit, die wirklich ganz furchtbar stinkt. Dennoch freue ich mich immer auf den Termin. Und auch die anderen kommen gerne. Nicht wegen der Aufgabe, sondern weil wir immer eine wirklich gute Truppe sind. Man ist zusammen in einer sehr bescheidenen Situation, aber es wird dabei viel gelacht und wir machen das Beste daraus. Und das ist das Wichtigste.
Oft, so scheint es mir, kommt es nicht darauf an, was man zu tun hat, sondern mit wem man es tut. Wie gut die Gruppe funktioniert, deren Teil man ist. Das ist mir in meinem Arbeitsleben oft schon so gegangen. Der größte Stress ist erträglich, solange es mit den Kollegen funktioniert. Aber wenn es in der Gruppe oder dem Team nicht stimmt, dann wird jeder Arbeitstag zur Qual.
In der Zeitung habe ich in den letzten Wochen immer wieder gelesen, dass Deutschland wirtschaftlich immer stärker abfällt, weil die Deutschen das Arbeiten verlernt hätten. Wir seien faul geworden, bräuchten mehr „Mut zur Überstunde“. Ich weiß nicht, ob das das größte Problem ist. Ich kenne kaum jemanden, der zu faul ist und kenne auch keinen, der nicht Überstunden machen würde. Ich habe nicht den Blick in das große Ganze, aber wenn es tatsächlich in der Arbeitswelt nur noch stockend vorangeht, dann ist es vielleicht auch ein bisschen die Folge eines etwas beschädigten Miteinanders. Dass etwas mit dem Zusammenhalt in unserem Land nicht richtig stimmt. Da hilft es nicht, wenn Politiker den Bürgern Faulheit unterstellen. Das vergiftet die Stimmung nur noch mehr. Wir gehen unsicheren Zeiten entgegen, die sollten wir gemeinsam angehen und uns nicht noch unnötig irgendwas vorwerfen. Da muss ich wieder an unseren Arbeitseinsatz auf der Hütte denken. Gemeinsam kriegen wir auch die schmutzigste Aufgabe gelöst.
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Wenn ich als Jugendlicher mal wieder eine 4 nach Hause gebracht habe, habe ich meiner Mutter gerne erklärt, dass das nicht so schlimm sei. Ein bestimmter Klassenkamerad, hat nämlich eine 5 gehabt und sei deshalb noch viel schlechter als ich. Meine Mutter fragte dann immer nach der Note eines anderen Schülers, der grundsätzlich viel besser in der Schule war. Der hatte meistens eine eins oder eine zwei bekommen. Nach meiner Einschätzung bin ich mit meiner 4 ganz gut weggekommen, nach der Meinung meiner Mutter hätte ich noch viel besser sein können. Es ist eben immer eine Frage, womit man sich vergleicht, ob man nach oben oder nach unten schaut. Meine Mutter hatte mehr von mir erwartet, mir selbst hat das gereicht, was ich hatte. So ist es geblieben. Und darüber bin ich sehr froh. Die Geschichte mit der Schulnote ist ja noch recht simpel, aber in viel größeren Bereichen des Lebens ist das auch ein wichtiges Thema. Zum Beispiel, wenn es um Reichtum geht. In vielen Gesprächen, die ich führe, beklagen sich Menschen, wie schlecht es Ihnen geht. Andere scheffeln Millionen, fahren 5-mal im Jahr in Urlaub und so weiter. Das stimmt natürlich. Verglichen mit den oberen 10 000 bin ich arm. Sehr arm wahrscheinlich. Aber wenn ich auf das Gesamte schaue, auf die große Masse der Menschen, die auf der Erde wohnen, dann, muss ich sagen, bin ich doch sehr reich. Sehr reich wahrscheinlich. Noch dazu lebe ich in einem freien Land, in einer stabilen Demokratie, in einem guten Gesundheitssystem, in einem guten Sozialstaat. Auch wenn viele sagen, dass das alles am Kaputtgehen ist und es früher besser war. Auch wenn viele sagen, dass unser Wohlstand gefährdet sei. Auch wenn es in Zukunft vielleicht etwas weniger werden könnte. Ich, für mein persönliches Leben, bin sehr dankbar für das, was ich habe und für die Art und Weise, wie ich leben kann. Auch ohne Millionen zu scheffeln oder 5-mal im Jahr in Urlaub zu fahren. Häufig wirft mir jemand, wenn es um das Thema geht, vor, dass ich naiv sei und mir das Leben schönrede. Vielleicht kann man es so sehen. Ich selber aber sehe das anders. Ich denke, was ich gerade beschrieben habe, ist einfach die Wahrheit. Denn wie die Schulnote vier ist das, was ich in meinem Leben habe: ausreichend.
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Ich war bei einer ehemaligen Kollegin zum Chili - Essen eingeladen. Auf der Einladung ist gestanden, dass es für die, die Fleisch essen Chili con Carne und für die, die keines essen, veganes Chili sin Carne geben wird. Es war ein sehr schöner Abend. Es gab zum guten Essen guten Wein und ich habe gute Gespräche geführt. In der Küche sind zwei Töpfe gestanden: Einer mit und einer ohne Fleisch. Jeder konnte sich nehmen, was er wollte. Irgendwann, nachdem alle gegessen hatten und mit vollem Bauch zufrieden und recht erschöpft herumgesessen sind, hat die Gastgeberin verkündet, dass es überhaupt kein Chili mit Fleisch gegeben hätte, sondern dass beide Töpfe fleischfrei gewesen seien. Breit grinsend hat sie hinzugefügt: „Und keiner hat es gemerkt.“ Einige der Gäste haben gelacht, andere, vor allem die, die das gute Hackfleisch gelobt hatten, waren etwas gekränkt und fühlten sich hintergangen. Für die Gastgeberin aber ist es ein großer Sieg gewesen. Sie wollte beweisen, dass man genauso gut ohne Fleisch essen kann, wie mit.
Ich fand diese Aktion – ich habe es ihr auch gesagt – ziemlich dämlich. Nicht, weil sie sich mit denen, die Chili con carne essen wollten, einen Spaß erlaubt hat, sondern wegen etwas anderem: Ich selber esse schon seit 25 Jahren kein Fleisch mehr. Ich weiß, dass man sich ohne gut ernähren kann.
Aber ich habe nie ganz verstanden, warum es da so einen seltsamen Konkurrenzkampf gibt. Warum es Gerichte geben muss, die wie Fleisch schmecken, aber ohne Fleisch sind. Als wäre fleischliche Nahrung das Maß für den guten Geschmack. Mittlerweile gibt es da ja unheimlich viele Angebote. Vegane Salami, Schnitzel ohne Fleisch, vegetarischen Speck, Veganen Fleischkäse, fleischfreie Hausmacher Leberwurst. Ich esse diese Sachen auch und vieles schmeckt wirklich gut, aber ich finde es schon bemerkenswert, dass sich fleischfreie Ernährung an Fleischgerichten orientiert. Denn eigentlich finde ich das unnötig. Fleischfreie Ernährung ist einfach etwas anderes. Es gibt so viele gute Rezepte und Gerichte, die ganz hervorragend schmecken, aber eben anders als Fleisch. Wer kein Fleisch isst, isst eben etwas anderes. Hat eine andere, eine eigene Ernährungsform. Es ist keine Ersatznahrung, es geht nicht um Fleischersatz. Ich glaube, dieses kleine, einfache Beispiel rührt an etwas, dass vielen von zu schaffen macht. Es fällt einigen Menschen offenbar schwer, wenn jemand etwas anderes macht, etwas anderes anzieht oder eben etwas anderes isst - wenn jemand einfach anders ist. Das andere irritiert, macht vielleicht sogar etwas Angst und stellt das Eigene, die eigene Lebensart und die eigenen Gewohnheiten infrage. Auch schon bei so einfachen Dingen wie der Ernährungsweise.
Deshalb versuchen wir es uns anzugleichen. Dabei darf das andere doch anders sein.
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„Ob Sonnenschein, ob Sterngefunkel, im Tunnel ist es immer Dunkel“. Das ist eines der großartigen Epigramme von Erich Kästner, der ja die Gabe hatte, komplexe Dinge in einen kurzen, pointierten Satz zu packen. Das Gedicht hier heißt: Die Grenzen der Aufklärung.
Für mich drückt dieser kleine Text wunderschön aus, dass es immer wichtig ist den Kopf zu heben, sich selber zu prüfen und sich umzuschauen. Eben den Tunnelblick aufzugeben. Ich versuche das immer wieder. Denn ich ertappe mich oft dabei, dass ich mich in einem Tunnel befinde. Das kann eine berufliche Aufgabe sein, die mich alles um mich herum vergessen lässt. Oder es kann ein Gefühl sein, wenn ich beispielsweise sauer oder gar wütend auf jemanden bin. Oder wenn ich verliebt bin, oder aber auch, wenn ich Angst habe. Ich bin auch in Glaubensfragen schon in einem Tunnel gelandet und habe mich in rigorosen Meinungen verbissen.
Oft werde ich meinen eigenen Vorstellungen von mir selbst und meinem eigenen Anspruch nicht gerecht. Auch da rutsche ich leicht in einen Tunnel, der meinen Blick verengt und alles um mich herum dunkel oder besser gesagt unsichtbar werden lässt. Da hilft mir all meine schöne akademische Bildung nicht, wenn ich mich in einem Tunnel verrenne, bin ich wie in einem Rausch, der mich ganz und gar vereinnahmt.
Weil ich mich mittlerweile kenne, habe ich mir angewöhnt immer wieder innezuhalten und mich selber zu beobachten. In gewisser Weise mache ich einfach eine Pause. Egal, wie groß der Termindruck ist, egal, wie stark das Gefühl, egal, wie groß die Erwartungen. Ich mache mir bewusst, dass mein Leben nicht nur aus dieser einen Sache besteht. Dass es vielfältiger ist. Wenn mir etwas nicht gelingt, schaue ich auf andere Dinge, die mir gelingen. Wenn ich mit jemandem ein Problem habe, denke ich an andere Situationen mit der gleichen Person, in der es anders war. Das hilft mir gut, mich selbst, meinen eigenen Zustand und meine Stimmungen einzuordnen und zu sortieren. Ich meine, es holt mich aus dem Tunnel raus. Und irgendwo da draußen, um mit Kästner zu sprechen, funkelt es oder scheint die Sonne.
Als ich das einmal einem Freund erzählt habe, meinte er, ich würde mir damit mein Leben schönreden. Und das wäre auch so etwas wie ein Tunnel. Nur in eine andere Richtung. Den Vorwurf kann ich nicht ganz ausräumen, vielleicht ist da manchmal was dran. Wir haben uns dann darauf geeinigt, dass es nicht so leicht ist aus dem Tunnel zu kommen, wie ich es behauptet habe. Aber dass es wichtig ist, zumindest das Licht anzuschalten, um zu erkennen, dass ich mich in einem Tunnel befinde.
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Da ist ein reicher Mann, fromm. Erhält sich an alle Gesetzte und fragt sich dennoch: Reicht das. Reicht das, was ich tue, ist es richtig, wie ich lebe. Trotz seines tiefen Glaubens und all seiner Bemühungen ist er sich nicht sicher das ewige Leben zu erreichen. Also fragt er Jesus, was er noch tun kann. Diese Geschichte aus dem Markusevangelium gehört zu meinen liebsten. Jesus antwortet ihm, dass er seinen ganzen Reichtum verkaufen, den Erlös den Armen schenken und fortan selber arm sein soll. Im Anschluss sagt Jesus diesen Satz: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.“ Den Satz finde ich wundervoll. Allerdings nicht unbedingt wegen seines Inhalts. Der ist natürlich wichtig und ein Kernpunkt des Christlichen Glaubens, aber es geht mir jetzt nicht darum. Mich interessiert mehr die Art und Weise, in der Jesus da spricht.
Als ich, da war ich noch klein, die Stelle zum ersten Mal gehört habe, musste ich lachen. Denn ich habe das witzig gefunden. Weil ich mir vorgestellt habe, wie ein Kamel versucht sich durch ein Nadelöhr zu zwängen. Und ich kann mir gut denken, dass in diesem Moment einige der Hörer Jesu auch schmunzeln mussten. Vielleicht hat er selbst auch ein bisschen gelacht. Ganz egal wie ernst das Thema eigentlich gewesen ist, da war auch ein bisschen Humor mit dabei. So stelle ich es mir zumindest vor. Und das macht mir diese Geschichte und die Person Jesus allgemein noch sympathischer. Es geht um die Grundstrukturen unseres Daseins. Um die existenziellsten Fragen, ja, man kann sagen: Eigentlich geht es bei Jesus die ganze Zeit ans Eingemachte. Aber trotzdem gibt es bei all der Tiefe und Ernsthaftigkeit auch noch Platz für ein Schmunzeln. Das finde ich ungeheuer wichtig. Denn es zeigt mir: Jesus war zwar ein hochmoralischer Mensch, aber er war kein Moralist. Er war nicht verbissen oder verbohrt, seine Botschaft war nicht bitter, sondern lebensbejahend. Der reiche Mann, dem aufgetragen wurde seinen Besitz zu verkaufen, fand das wahrscheinlich nicht so witzig. Aber ihm wurde der Auftrag nicht mit erhobenem Zeigefinger erteilt, sondern – so deute ich es - mit einem Lächeln. Und das macht viel aus. Wie schwer die Aufgabe, vor der ich stehe auch sein mag, sie wird noch schwerer, wenn dabei nicht einmal mehr Raum für ein Lächeln oder Schmunzeln ist.
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Immer wieder drängt sich im Leben die Frage auf, was denn das alles soll. Gerade wenn es wie derzeit so viel Leid und Elend in der Welt gibt. Wenn jeden Tag von der Eskalation eines bestehenden oder dem Ausbruch eines neuen Konfliktes die Rede ist. Klimakrise, Krieg in Gaza, Krieg in der Ukraine. Und das sind nur die größten Geschehnisse, von denen wir täglich hören. Es gibt noch so vieles mehr, wo die Welt nicht so genau hinschaut. Da frage zumindest ich mich oft, warum das alles sein muss. Was das alles für einen Sinn haben soll.
Aber der Blick in die große Politik ist nicht einmal nötig, auch in meinem kleinen Alltag kommt sie immer wieder hoch: Die Frage nach dem Sinn. Ich habe beispielsweise ein Buch geschrieben, aber niemand interessiert sich dafür. Oder wenn ich mich verliebt habe, aber vom anderen kommt nichts zurück. Das sind so Situationen, in denen das Leben nicht das hält, was es verspricht oder ich mir von ihm erhofft habe. Die mich zweifeln lassen am Sinn und Zweck des Ganzen. Wozu soll ich mich noch abmühen, wenn sowieso nichts dabei rauskommt. Es gibt solche Momente. Ich denke, jeder kennt das. Der Sinn des Lebens ist eine der großen Menschheitsfragen, die philosophische Literatur ist voll davon. Auch das Christentum sichert mir den Sinn des Lebens zu. Zumindest verstehe ich das „Fürchte Dich nicht“ so, von dem in der Bibel immer wieder die Rede ist, das Gott seinen Geschöpfen quasi immer wieder zuruft. Aber manchmal reichen alle Lehren, aller Glaube und alles Vertrauen eben nicht aus. Da brauche ich mehr.
Mir hilft es da, mich an den sinnvollsten Moment meines Lebens zu erinnern: Eine gute Freundin von mir ist schwanger gewesen. Der Vater des Kindes hatte sich aus dem Staub gemacht, sie war gerade in eine neue Stadt gezogen, aber wegen Corona gab es kaum Möglichkeiten jemanden kennenzulernen. Sie wollte unbedingt eine Hausgeburt, die Hebamme hat dem aber nur zugestimmt, wenn sie während und nach der Geburt nicht alleine ist. Schließlich hat sie mich gefragt, ob ich da sein könnte. Und so bin ich Zeuge dieser Geburt geworden. Ein bisschen konnte ich auch helfen. Und ich habe dieses kleine Wesen auf die Welt kommen sehen, habe seinen ersten Schrei gehört. Als einer der ersten Menschen hab ich den Kleinen berührt und in den Arm genommen. Das war das bewegendste, das ich je erlebt habe. In diesem Moment war alles sinnvoll. Es war alles richtig. Es war richtig, dass dieses Kind auf die Welt kommt und es war richtig, dass es Leben gibt, dass es Menschen gibt. Seither denke ich, dass der Sinn des Lebens das Leben selbst sein könnte. Dass mit jedem neuen Leben auch sein Sinn geboren wird.
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