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SWR4 Abendgedanken

04APR2023
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Eine meiner Schülerinnen erzählt: „Zu Hause waren wir reich. Bevor wir geflohen sind. Zu Hause haben meine Eltern oft armen Menschen geholfen. Jetzt sind wir selbst arm.“

Ich kenne diese Schülerin fast gar nicht. Ich weiß nicht einmal, welches Land für sie „zu Hause“ ist. Aber vor ein paar Wochen, irgendwann im Februar, meine ich, da platzten diese Sätze aus ihr heraus. Und sie hat weitererzählt.  In ihrem gebrochenen Deutsch. Aber mit leuchtenden Augen.

„Aber gestern, da konnte ich helfen. Meine Eltern haben sich so gefreut. Gestern, da konnte ich endlich mal wieder armen Menschen helfen. Nicht mit Geld. Geld haben wir nicht übrig, aber mit meinen Händen.“ Und sie streckte mir ihre Hände hin, als ob ich doch sofort sehen müsste, was sie gemacht hat. Aber ich verstand immer noch nur Bahnhof.

„Wissen Sie, da ist doch diese Kirche. Wo die Leute hingehen können und ein Mittagessen bekommen. Und Kuchen.“ So langsam kamen wir der Sache näher. Sie meinte die Tübinger Vesperkirche. Drei Wochen lang wurde in der Martinskirche ein Essen ausgegeben, für alle, die sich nach ein bisschen Gemeinschaft sehnen. Die vielleicht kein Geld für ein warmes Essen haben. Oder die es sich einfach mal gut gehen lassen wollen. Gemeinde auf Zeit. Dort also war meine Schülerin gewesen.

„Ja, und wissen Sie, ich habe dort den Leuten die Haare geschnitten. Ich lerne doch Frisörin. Den ganzen Tag habe ich Haare geschnitten. Das war anstrengend. Aber so schön. Die Leute haben sich so gefreut. Sie haben sich bedankt. Und alle waren so freundlich. Und da war es auch egal, dass ich Muslima bin. Das war ganz egal.“

Das Gesicht meiner Schülerin leuchtete. „Meine Eltern sind so stolz. Ich kann helfen. Auch ohne Geld. Wir haben hier in Deutschland so viel bekommen: Essen, eine Wohnung, konnten zum Arzt gehen. Jetzt kann ich ein bisschen zurückgeben. Meine Eltern freuen sich.“

Ich habe mich auch gefreut, als ich das alles gehört habe. Ich habe mich gefreut, dass diese Schülerin mir das alles erzählt hat. Ich habe mich für ihre Eltern gefreut: Wie schön muss es sein, stolz auf die eigene Tochter sein zu können. Ich habe mich für das Mädchen gefreut: Es hat so viel Glück aus ihren Augen gesprüht. Etwas zurückgeben zu können, nicht immer nur die Hilfsempfängerin zu sein, das hat ihr so viel Würde und Kraft gegeben. Und ich habe mich für meine Kirche gefreut, ja, auch das: Da ist sie zum Segensort geworden. Auf ganz verschiedene Weise. Für ganz viele Menschen.

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SWR4 Abendgedanken

03APR2023
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„Manchmal bin ich so erschöpft, dass mir gar nichts anderes übrig bleibt, als zu glauben.“ Diesen Satz habe ich diese Tage irgendwo aufgeschnappt. Und er ist hängen geblieben in meinem Kopf. Vielleicht, weil er mir als so wahr eingeleuchtet hat.

Gestern hat mit dem Palmsonntag die Karwoche begonnen – die Zeit, in der Christinnen und Christen an die letzten Tage im Leben von Jesus erinnern. Gestern war im Gottesdienst zu hören, wie Jesus der biblischen Erzählung nach, in Jerusalem eingezogen ist. In einem Triumphzug. Die Menschen standen am Straßenrand und haben ihm zugejubelt. Ihre Kleider haben sie wie einen roten Teppich auf den Weg gelegt. Und ihm mit Palmblättern zu gewedelt. Deshalb „Palm“-Sonntag. Welch eine Hoffnung zeigt sich in diesen Gesten! Hoffnung darauf, dass dieser Mann ihr Leben ändert: als König der Juden vielleicht, der der römischen Fremdherrschaft ein Ende setzt. Der ihr Leben etwas erträglicher macht. Der endlich einen Aufstand anzettelt. Oder vielleicht war es auch nur die Hoffnung darauf, gesehen zu werden, ernst genommen zu werden, Wärme und Barmherzigkeit zu erfahren in einer Welt, in der die Schwachen und Armen nichts zu melden hatten.

Aber trotz allem Jubel: am Ende der Karwoche wird Jesus sterben. Die Stimmung kippt. Von Freude zu Verzweiflung. Von Hoffnung zu Hass. Bis Ostern ist es noch weit.

Genau so erlebe ich unsere Welt zur Zeit: Die Stimmung kippt. Von Freude zu Verzweiflung. Von Hoffnung zu Hass. Krieg bestimmt die Nachrichten. Und wenn der nicht in den Schlagzeilen ist, dann schießen Meldungen von Erdbeben, Schneestürmen oder Vulkanausbrüchen auf mich ein wie Kanonenkugeln.

„Manchmal bin ich so erschöpft, dass mir gar nichts anderes übrig bleibt, als zu glauben.“ Wie wahr! Ich bin so müde von all dem. Ich mag die Welt um mich herum nicht mehr.

Und dann stelle ich fest: Mir bleibt gar nichts anderes übrig, als zu glauben. Zu glauben, dass es irgendwann, irgendwie besser werden wird. Das da irgendwo einer ist, der die Welt zärtlich und liebevoll in den Händen hält. Der das Schicksal wenden kann. Der mir wieder leuchtende Farben zeigt. Der Lachen und Leichtigkeit zurückbringt. Wie gern würde ich ihm vom Straßenrand aus zujubeln.

Noch ist es nicht so weit. Noch liegt die Karwoche vor uns. Und auch mit Ostern wird dieses Jahr nicht alles gut sein. Aber: „Manchmal bin ich so erschöpft, dass mir gar nichts anderes übrig bleibt, als zu glauben.“ Jesus wird auferstehen. Es wird Ostern werden. Auch in diesem Jahr.

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SWR4 Abendgedanken

18NOV2022
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„Zeichnet mal Hoffnung.“ – Diese Aufgabe habe ich dieser Tage meinen Schülerinnen und Schülern gestellt. Und ihre Zeichnungen haben mich berührt: Die Sonne, die alles überstrahlt. Eine leere Grabhöhle – Jesus ist auferstanden. Und: Ein Strichmännchen, dass läuft, fällt, auf dem Boden liegt und wieder aufsteht.

Hoffnung. Mal im ganz Alltäglichen, in der Sonne, die scheint, auch hinter den Wolken. Die wärmt, die Licht gibt. Und die aufgeht, jeden Morgen. Dann ist die Nacht, das Dunkel, der Schrecken vorbei. Ja, das ist Hoffnung.

Hoffnung steckt aber auch in den ganz großen Menschheitsgeschichten. Ein leeres Grab. Jesus ist auferstanden. Er hat den Tod überwunden. Sogar den Tod. Da steckt Hoffnung drin, ganz große Hoffnung. Wenn der Tod überwunden ist, dann kann uns eigentlich nichts mehr die Hoffnung nehmen, oder?

Und dann noch das Strichmännchen. So simpel. Hinfallen. Aufstehen können. Schon im Fallen steckt die Hoffnung drin. Die Hoffnung, wieder aufzustehen. Die Hoffnung, nicht liegen zu bleiben. Die Hoffnung, dass das Leben weitergeht. Möglichst unversehrt. Möglichst mit vielleicht nur einem kleinen Kratzer am Knie. Ohne diese Hoffnung, würde ich das Aufstehen vermutlich gar nicht erst versuchen.

Am 23. Oktober wurde dem ukrainischen Schriftsteller, Musiker und Aktivist Serhiy Zhadan der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen. In einem seiner Lieder habe ich ein weiteres Hoffnungsbild entdeckt. Dort heißt es:

„Wir werden all das nie vergessen, wir werden für die Ukraine leben.
Es bleibt von der Nacht der dunkle Himmel.
Der Krieg geht weiter. Die Kinder wachsen.“[1]

Die Kinder wachsen. Hoffnung.

Für Serhiy Zhadan ist Kultur, sind die Bücher, das Schreiben, seine Lieder kein Weg, um den Krieg zu beenden. Poesie schafft das nicht. Aber sie kann Momente des Aufatmens schaffen. So beschreibt es Sasha Marianna Salzmann, die die Laudatio auf Serhiy Zhadan gehalten hat: Was die Poesie kann, „ist den Augenblick herstellen, in dem man erleichtert, erstaunt oder verzückt aufatmet. Und dieses kurze Luftholen mag einen Moment des Friedens enthalten. Denn Luft holen ist immer auch ein Zeichen der Hoffnung.“[2]

Hinfallen. Und schon im Fallen die Hoffnung haben, wieder aufzustehen. Wie das Strichmännchen. Der Krieg geht weiter. Die Kinder wachsen.

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[1] Zitiert nach der Übersetzung aus dem Einspieler vor der Überreichung des Friedenspreis in der Übertragung der ARD: https://www.ardmediathek.de/video/ard-sondersendung/friedenspreis-des-deutschen-buchhandels-serhij-zhadan/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL2FyZC1zb25kZXJzZW5kdW5nLzk0NTdlY2Q1LWE4YzktNDQzYi1iZjEyLWNiMTUwNWU1OWRhZQ 
[2] Aus der Laudatio von Sasha Marianna Salzmann, zitiert nach: https://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/alle-preistraeger-seit-1950/2020-2029/serhij-zhadan 

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SWR4 Abendgedanken

17NOV2022
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Vor ein paar Wochen hat mich einee-mail erreicht. Die Kantorin unserer Kirchengemeinde lädt ein, beim Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach mitzusingen.

Ich habe die mail weggeklickt. Ich singe zwar wirklich gern. Und eigentlich mag ich ja schon auch das Weihnachtsoratorium. Aber singen, jetzt? „Jauchzet, frohlocket…“? In den Tagen ging durch die Medien, dass Russland wieder überall in der Ukraine Raketen abwirft. Bilder von zerstörten Häusern, von weinenden Menschen, die alles verloren haben, vielleicht sogar ihre Liebsten. Bilder von den Särgen russischer Soldaten, die kurz nach ihrer Einberufung nach der Teilmobilmachung nach Hause zurückkehren. Tot. Und wieder weinende Menschen.

Singen, jetzt? Mir kam diese Einladung falsch vor. Ich hatte das Gefühl, mir würden die Töne im Mund absterben. Eine freudige Jubelbotschaft verkünden, jetzt, in dieser Welt voller Hass und Trauer. Nein.

Aber dann habe ich eine Radiosendung[1] gehört, in der es u.a. um die Situation der Menschen in Kiew geht. Man hört Detonationen im Hintergrund, Menschen schreien und rennen. Und dann hört man: Gesang. Der Reporter erzählte: Die Menschen dort, die während der Luftangriffe Schutz in einer U-Bahn-Station suchen, singen. Sie singen gegen die Angst. Tapfer. Kräftig. Und wunderschön. In dem Radiobericht hört man wohl Volkslied, das sehr bekannt ist. Immer mehr Stimmen fallen ein. Leider verstehe ich kein Ukrainisch. Aber es hörte sich traurig an, sehnsüchtig und zugleich stark.

Kennen Sie das „andere Osterlied“ von Kurt Marti und Peter Jannsens[2]? Der Gesang der Menschen in Kiew hat mich daran erinnert:

Das könnte den Herren der Welt ja so passen,
wenn erst nach dem Tode Gerechtigkeit käme,
erst dann die Herrschaft der Herren,
erst dann die Knechtschaft der Knechte

vergessen wäre für immer.

Das könnte den Herren der Welt ja so passen,
wenn hier auf der Erde stets alles so bliebe,
wenn hier die Herrschaft der Herren,
wenn hier die Knechtschaft der Knechte
so weiterginge wie immer.

Doch ist der Befreier vom Tod auferstanden,
‚ist schon auferstanden und ruft uns nun alle
zur Auferstehung auf Erden,
zum Aufstand gegen die Herren,
die mit dem Tod uns regieren.

Vielleicht gehe ich doch zur Chorprobe. Zum Singen. Gegen die Angst.

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[1] Streitkräfte und Strategien, NDR-Info, Vergeltung für die Krim-Brücke, gesendet am 10.10.2022.
[2] Reformiertes Gesangbuch (RG), Nr. 487.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36536
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SWR4 Abendgedanken

16NOV2022
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Sonntag beginnt die Fußball-WM. Normalerweise freue ich mich darauf, einfach vorm Fernseher zu sitzen, abzuhängen und die Welt drumherum zu vergessen. 22 Spieler, ein Ball und meistens eine Tüte Chips.

Dieses Jahr ist das alles aber irgendwie anders für mich. Die Fußball-WM findet in Katar statt. Dort haben Männer aus Indien, Afrika und Bangladesch geschuftet, um Stadien und Hotels zu bauen. Es gibt keinen Arbeitsschutz und keine Gewerkschaften. Und manche haben sich totgeschuftet. Im absolut wahrsten Sinne des Wortes. Katar hält auch nicht viel von anderen Freiheitsrechten. Die Frauen werden nach wie vor in einer patriarchalen Gesellschaftsordnung diskriminiert, von Rechten für Lesben, Schwule und Trans-Personen mal ganz zu schweigen. Klar, das ist tief in der Kultur des Landes verwurzelt. Und auch unsere Gesellschaft hier in Europa war bis vor wenigen Jahrzehnten nicht viel besser. Aber trotzdem: Kann man bei der WM einfach so darüber hinwegsehen?

Nun kann man natürlich sagen: Aber das hat mit dem Fußball doch gar nichts zu tun. 22 Spieler, ein Ball und meistens eine Tüte Chips. Was geht mich der Rest an? Aber, mal ehrlich: Ich zumindest kann mir den Rest nicht einfach wegdenken. Ich kann mir nicht gemütlich ein Fußballspiel in einem Stadion angucken, von dem ich weiß, dass es von modernen Sklaven erbaut wurde. Mir vergeht die Lust auf Völkerverständigung, wenn ich weiß, dass in den Folterkammern nebenan Menschenrechtsaktivisten und Gewerkschafter ohne Rechtsbeistand einsitzen.

Heute ist Buß- und Bettag. Ein Feiertag, an dem es darum geht zu überlegen, was falsch läuft, was uns von Gott trennt, wo wir in Unrecht verstrickt sind und uns schuldig machen. Für mich ist dieser ganze WM-Mist genau diese Art Verstrickung: Wo Menschen sich gegenseitig schaden und aneinander schuldig werden.

Aber: Was tun? Nützt es etwas, wenn viele nicht einschalten? Petra Bahr, evangelische Regionalbischöfin in Hannover, hat vorgeschlagen, dass Sponsorenverträge zukünftig daran gebunden seien könnten, dass „ethische und menschenrechtliche Mindeststandarts eingehalten werden“. Dann dürften nur noch Veranstaltungen gesponsert werden, die unter anständigen Bedingungen zu Stande kommen. Eine gute Idee, aber wie setzt man das durch? Oder müsste man nicht eigentlich auf die Straße gehen und für Menschenrechte protestieren?

Ich habe auf jeden Fall für mich entschieden: Keine 22 Spieler, kein Ball, keine Chips. Mit schlechtem Gefühl im Bauch Fußball gucken, das macht mir keinen Spaß. Und was machen Sie dieses Jahr?

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SWR4 Abendgedanken

15NOV2022
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Vor ein paar Wochen habe ich mich furchtbar über eine Kollegin geärgert. Sie hat mir einen Termin reingedrückt, der mir echt gar nicht passte. Und dass, obwohl ich sie vorher gebeten hatte, doch genau diesen Zeitraum auszusparen. Weil ich genau wusste, dass es da eh schon stressig wird.

Ich war also richtig sauer. Wie kann man so ignorant anderen gegenüber sein? Das ist doch echt daneben. Meine Stimmung war mies. Nachts, wenn ich wach lag, habe ich in Gedanken saftige e-mails an die Kollegin formuliert. Ich habe mir überlegt, dass ich sie ja auch einfach hängen lassen könnte, einfach nicht hingehen. Meine Gedanken wurden immer grummeliger, eine Spirale, die deutlich abwärts ging.

Aber dann bin ich über eine Geschichte gestolpert. Sie heißt „Der Mann mit dem Hammer“: Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und den Hammer beim Nachbarn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: „Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Vielleicht hat er die Eile aber nur vorgetäuscht und er hat was gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts getan. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Leute wie dieser Kerl vergiften einem Leben. Jetzt reicht’s mir wirklich!“ – Und so stürmt der Mann rüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch bevor er „Guten Tag!“ sagen kann, schreit ihn unser Mann an: „Behalten Sie Ihren Hammer!“

Noch so eine Abwärtsspirale. Denn der Nachbar hat ja gar nichts getan. Der Mann, der das Bild aufhängen wollte, frisst sich immer tiefer in seine Sorgen und sein Misstrauen hinein. Von Argwohn und Vorbehalten getrieben, spielt sich in seinem Kopf etwas ab, was gar nicht da ist. Was aber trotzdem die Stimmung mies werden lässt. Ich glaube nicht, dass der Nachbar unserem Mann in Zukunft freundlich begegnen wird, wenn der ihn einfach so anblafft.

„Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“, hat Jesus mal gesagt. Und ich habe beschlossen, die Beziehung zu meiner Kollegin von dieser dummen Terminsache nicht vergiften zu lassen und dieses gehässige Kopfkino abzustellen. Warum das Schlimmste annehmen? Vielleicht hat sie einfach nur meine Bitte um einen anderen Zeitpunkt vergessen. Irren ist menschlich. Und, ehrlich, damit hat sich auch meine Stimmung wieder deutlich gebessert.

Und wissen Sie, was sich dann rausgestellt hat: Ich hatte den Termin falsch in meinen Kalender eingetragen. Die Kollegin war völlig unschuldig, ganz und gar. Gott, war mir das peinlich! Insofern: Irren ist menschlich. Und ich bin ein Mensch. Und andere sind es auch.

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SWR4 Abendgedanken

14NOV2022
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„Es ist der Staub auf allen Gesichtern, weil das Wasser nicht einmal reicht, um den Durst zu stillen.“ – Ich lese diese Überschrift so nebenbei, als ich im Wohnzimmer an unserem Zeitschriftenstapel vorbeikomme und denke dabei: „Schöne Überschrift für ein Gedicht. Wunderschön und so poetisch formuliert.“ Und ich gehe weiter, räume auf, hänge Wäsche ab. Doch kehre ich zu dem Zeitungsstapel zurück: Was habe ich da eigentlich gerade gelesen? Mich trifft es wie ein Donnerschlag. „Es ist der Staub auf allen Gesichtern, weil das Wasser nicht einmal reicht, um den Durst zu stillen.“ Das ist kein Gedicht. Das ist Realität, das ist die Überschrift eines Artikels aus der Zeitung. Und gerade darum trifft mich die Erkenntnis mit besonderer Härte: Da steht, es gibt Gegenden auf der Welt, da ist Wasser zu kostbar, um sich zu waschen. Es reicht nicht mal, um genug zu trinken!

Navid Kermani, der bekannte Autor, hat im Süden Madagaskars recherchiert und beschreibt in seiner Reportage, wie massiv sich der Klimawandel auf das Leben dort auswirkt. Die Dürre ist so extrem, dass Tiere und Menschen hungern und verdursten. Und das ist ja nur ein Beispiel dafür, wie der globale Süden unter den Auswirkungen der Klimaveränderung leidet, die der globale Norden, die wir alle, verursacht haben.

„Du, Gott, lässt Brunnen quellen in den Tälern, dass sie zwischen den Bergen dahinfließen, dass alle Tiere des Feldes trinken und die Wildesel ihren Durst löschen.“ Wasser. Das Lebensmittel schlechthin. Das wussten schon die Psalmbeter in der Bibel. Sie beschreiben, wie Gott die Ordnung in der Welt eigentlich gedacht hat. „Du, Gott, tränkst die Berge von oben her, du machst das Land voll Früchte, die du schaffst. Du lässt Gras wachsen für das Vieh und Saat zu Nutz den Menschen. (Psalm 104, 10-14a)“

Soweit der Plan. Aber: „Es ist der Staub auf allen Gesichtern, weil das Wasser nicht einmal reicht, um den Durst zu stillen.“ Das ist nicht das, was Gott gewollt hat. Mich hat dieser Artikel, glaube ich, so aufgerüttelt, weil ich erstmal ohne Nachzudenken, an ihm vorbeigelaufen bin. Versackt in meinen eigenen Alltag zwischen Aufräumen und Wäsche waschen. Ist das nicht so oft so: Irgendwo, irgendwie nehmen wir schon wahr, dass andere Menschen auf dieser Erde leiden, vielleicht sogar unter uns leiden, aber wir schieben es weg. Wir haben genug mit uns und unserem Leben zu tun.

„Es ist Staub auf allen Gesichtern…“ – Mich hat diese Zeile aufgerüttelt. Wachgerüttelt. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger. Und ich will die Herausforderung annehmen und schauen, was sich aus diesem Erschrecken in meinem Leben entwickelt… Antworten habe ich noch nicht. Aber immerhin: Ich bin aufgewacht.

Die zitierte Reportage ist zu finden unter: https://www.zeit.de/2022/39/madagaskar-ostafrika-nationalpark-duerre-hunger 

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SWR4 Abendgedanken

23SEP2022
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„Ich dekoriere dann jetzt bald für Weihnachten.“, hat mir eine Bekannte diese Tage erzählt. Also, bis zu den Herbstferien will sie vielleicht noch warten. Aber dann aller spätestens.

Das hat mich reichlich überrascht. Mich nervt dieses ganze Weihnachtszeugs in den Läden immer. „Last Christmas“ dudelt schon im Oktober durch die Supermärkte. Glitzerketten überall. Und die Schokoweihnachtsmänner stehen Schlange im Regal. Och ne…

Meine erste Reaktion war auf jeden Fall: Ich habe jetzt noch keinen Nerv für zu viel Glitzern, Strahlen und Vorfreude. Das passt nicht zu dem, wie ich die Welt gerade erlebe: Krieg, Sorgen um genug Wärme im Winter, so viele Flüchtlinge… Da passt diese Weihnachtsglitzerwelt nicht rein.

Und darum habe ich ihr gesagt: Ne, bei uns bleibt die Krippe mit Maria, Joseph und dem Kind erst mal noch im Keller.

Aber dann bin ich doch ins Denken gekommen: Die Krippe mit dem neugeborenen Kind, seiner vermutlich ziemlich erschöpften Mutter und dem besorgten Vater, der Angst hat, wie er Mutter und Kind in den nächsten Tagen durchbringen soll, bleibt im Keller? Vielleicht würden mir die Krippenfiguren mit ihren Sorgen und Nöten in meinem Alltag gerade jetzt nahe kommen… In dieser Familie war ja eben nicht Glitzern, Strahlen und Vorfreude. Ein Kind auf dem Weg in einem Stall gebären zu müssen, das ist kein Vergnügen. Es in Lumpen wickeln zu müssen, weil sonst nichts da ist, ist auch nicht der Traum der Eltern. Und mit dem Neugeborenen dann weiterreisen, fliehen zu müssen, so wie es von Maria und Joseph erzählt wird, schon gar nicht.

Vielleicht passt die Krippe gerade jetzt mitten in mein Leben hinein. Gerade jetzt, in diesem Herbst. Wie nah das Schicksal dieser Familie doch dem Schicksal vieler Familien heute ist. Armut, Kälte, Zukunftssorgen. Flucht in ein fremdes Land. Das kennen allzu viele auch jetzt.

Soll ich die Krippe doch jetzt schon aus dem Keller holen? Eine Kerze dazu stellen, die Licht spendet, Wärme, Hoffnung vielleicht? Und den Weihnachtsengel daneben, der über diese Menschen wacht und ihnen zuruft: „Fürchtet Euch nicht!“

Bei Maria und Joseph ist alles gut gegangen, schlussendlich. Sie kamen irgendwann wieder zu Hause an. Trotz allem. Gott ist mit ihnen gegangen. In allem Elend. Gott war dabei. Das kann ich nur uns allen auch wünschen.

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SWR4 Abendgedanken

22SEP2022
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„God agrees to abortion.“ – Das stand auf einem T-Shirt, das eine junge Frau getragen hat, die in der Stadt an mir vorbeigegangen ist. „Gott ist für die Abtreibung“. Stand da. Schwarz auf weiß.

Ich war reichlich baff, als mir diese Aussage da so mitten beim gemütlichen Stadtbummel entgegen leuchtete. Ich muss die Frau wohl auch recht irritiert angeguckt haben. Sie hat mich auf jeden Fall freundlich angelächelt. Und dann war sie ja auch schon vorbei und weg.

Aber der Spruch auf ihrem T-Shirt hat mich noch beschäftigt. „Gott ist für die Abtreibung“. Kann man das sagen?

Vielleicht ist die junge Frau Amerikanerin. Dort hat der Supreme Court im Juni das bundesweite Recht auf Abtreibung gekippt. Gerade viele christlich-konservative Kreise hatten darauf gedrängt. Mit dem Argument, dass es in den zehn Geboten heißt: Du sollst nicht töten. Und andererseits haben viele Frauen gegen dieses Urteil protestiert. „My body, my choice“, stand auf ihren Plakaten. „Mein Körper, meine Entscheidung“. Und vermutlich gehört die junge Frau, die ich gesehen habe, zu diesen Frauen dazu.

Aber: „Gott ist für die Abtreibung“. Kann man das sagen?
Ich glaube, dass Gott ein Gott des Lebens ist. Gott hat das Leben geschaffen. Er liebt seine Schöpfung. Und er will Leben erhalten und fördern. Es soll gedeihen. Der Gott, an den ich glaube, ist gegen den Tod. Gegen alles, was zerstört. Gegen alles, was verdorren lässt.

Ich glaube aber gleichzeitig, dass Gott ein Gott ist, der an der Seite der Leidenden steht. Der die im Blick hat, denen es dreckig geht. Der mit ihnen mitleidet. Ihr Leid versteht. Denn ich glaube an einen Gott, der liebt. Über alle Maßen.

Darum kann ich nicht sagen: „Gott ist für die Abtreibung.“ Er ist ein Gott des Lebens. Aber ich kann auch nicht sagen: „Gott ist gegen die Abtreibung.“ Gott steht an der Seite der Leidenden, der Verzweifelten. Ich kann mir Situationen vorstellen, in denen es für eine Frau unerträglich ist, ihr Kind auszutragen. Gott wird daran verzweifeln, wenn ein Kind im Bauch der Mutter sterben muss. Aber er wird auch die Verzweiflung der Mutter verstehen. Mit ihr mitleiden. Hoffen, dass sie Trost findet. Und neue Hoffnung.

Mein Gott ist ein Gott der Liebe. Darum ist er auch der Gott des Lebens. Und der Gott an der Seite der Leidenden. Leider passt das nicht alles auf ein T-Shirt.

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SWR4 Abendgedanken

21SEP2022
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Am letzten Tag vor den Sommerferien werden die Kollegen und Kolleginnen verabschiedet, die in den Ruhestand gehen. So ist es Tradition an der Schule, an der ich unterrichte. Meist sagen sie noch ein paar Worte zum Abschied. In diesem Jahr ist ein lieber Kollege von mir dran gewesen. Er hat ein Gedicht verfasst, in dem er seine Zeit an der Schule nochmal Revue passieren lässt. Ich möchte Ihnen einen Ausschnitt daraus vorlesen:

„Mir war es immer wichtig
und ich halte es für richtig,
auch schwierige Schüler nicht zu übersehn
und zu versuchen ihre Lage zu verstehn.(…)
Ich bereue es nicht, im Zweifelsfalle, lieber einmal mehr die bessere Note zu geben,
denn manche haben es doch schwer genug im Leben.“

Mich haben diese Worte beeindruckt. Sie zeigen so viel von diesem Menschen und seinem Verständnis davon, wie er Lehrer sein wollte. Zugewandt nämlich, gerade zu den Schülerinnen und Schülern, von denen sich manche lieber abwenden. Weil sie schwierig sind und anstrengend. Solch einen Pädagogen würde doch jeder seinem Kind wünschen, oder?

Aber sein Gedicht ging noch weiter:

„Was mir Trost gibt in dieser schwierigen Zeit,
ist, dass ich glaube, dass einer im Himmel über uns wacht,
der die Welt in seinen Händen hält
und gibt auf uns Acht.“

Da musste ich dann schlucken. Ich fand es beeindruckend, wie sich da jemand hinstellt und ohne groß Aufsehen zu machen sagt, was ihn tröstet und trägt: Trotz dieser schwierigen Zeit glaube ich, dass Gott auf uns aufpasst und diese Welt in seinen Händen hält. Ich bin ja selbst Religionslehrerin. Aber in diesem Moment habe ich mich gefragt: Angesichts all der Probleme, den Kriegen, den Klimaängsten, angesichts all dessen, glaube ich das eigentlich selbst noch?

Vielleicht beneide ich meinen Kollegen sogar ein bisschen um dieses tiefe Gottvertrauen, das ihn trägt und hält. Da ist einer, der meint es gut mit uns. Es wird gut ausgehen. Ganz sicher.

Mein Kollege hat mich berührt mit seinen Abschiedsworten. Auch herausgefordert. Und vielleicht ein bisschen getröstet. Auf jeden Fall werde ich ihn im neuen Schuljahr vermissen.

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