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SWR4 Abendgedanken

22MRZ2024
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In der Bibel gibt es ein Gebet. Vielleicht kennen Sie es: „Aus der Tiefe rufe ich zu dir. Herr, höre meine Stimme! Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens!“ (Ps 130, 1-2). Das ist aus Psalm 130. Und ich liebe diesen Vers, denn er zeigt: Schon immer, auch schon vor tausenden von Jahren haben sich Menschen in Not an Gott gewandt. Sie glaubten fest: Wenn sie zu Gott rufen, schreien, dann wird er sie hören. Dann wird er helfen.

Eine Kollegin von mir hat vor ein paar Wochen eine Predigt über dieses Gebet gehalten. Und die hat mich sehr berührt und fasziniert. Sie hat sich nämlich dieses alte Gebet ein bisschen genauer vorgeknöpft. Im Original wurde es auf Hebräisch geschrieben. Und wenn man diesen Originaltext liest und einmal anders übersetzt, dann landet man bei einer neuen Aussage. Und die ist auch wunderschön.

In der Übersetzung meiner Kollegin heißt es: „Aus Tiefen rufe ich Dich, Herr. Mein Herr, höre meine Stimme! Neige Deine Ohren der Stimme meines Flehens zu!“

In der Übersetzung, die uns die geläufige ist, klingt das so, als sei der Mensch, der betet, in der Tiefe. Im Loch. Er sitzt, sozusagen, ganz tief im Dreck. Aber im hebräischen Text der Bibel kann man das auch anders verstehen: „Aus Tiefen rufe ich Dich, Herr.“ Das heißt dann: Gott ist in der Tiefe. Und der, der betet, ruft ihn aus dieser Tiefe zu sich hoch. Dann ist Gott noch tiefer, als ich es bin. Er ist in jedem Elend immer schon da. Egal, wie tief ich gesunken bin, egal, wie dreckig es mir geht, egal, wie einsam oder verzweifelt ich bin, Gott ist immer schon da. Noch tiefer da. Und kann mich rausholen. Davon ist der Beter dieses alten Gebets überzeugt.

Wenn wir in tiefsten Nöten stecken, in Schuld verstrickt oder verursacht durch andere, wenn wir ganz, ganz unten sind, dann ist Gott immer schon da. Selbst dann, wenn wir es nicht mehr merken, uns völlig gottverlassen fühlen. Er ist da. Unter uns. Um uns aufzufangen und neu ans Licht zu holen.

Wie bei Jesus am Kreuz. Er war ganz, ganz unten, verzweifelt und fühlte sich gottverlassen. Und trotzdem. Gott hat ihn wieder ans Licht geholt. Das Dunkel, die Tiefe ist für Gott kein Hindernis. Eigentlich ist das schon die Osterbotschaft. Möge sie Sie durch die kommende Karwoche begleiten.

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SWR4 Abendgedanken

21MRZ2024
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„Musik halt! Musik schafft alles!“ – Das hat diese Tage eine Freundin, selbst eine wunderbare Musikerin, zu mir gesagt. Seit vielen Jahren hatte ich es endlich mal wieder zu einem Konzert von ihr geschafft, mich zwei Stunden lang von ihrer Musik verzaubern und davontragen lassen und danach liebe, alte Freunde wiedergetroffen, mit denen der Kontakt schon lange abgebrochen war. Es war ein wertvoller Abend. Balsam für meine Seele. „Musik halt! Musik schafft alles!“

Vor ein paar Wochen habe ich einen Artikel gelesen mit der Überschrift: „Die müde Gesellschaft“. Müde. Ja. Das passt, habe ich sofort gedacht. Müde sind wir gerade alle. Wo kommt das her? Ist das nur der Winter, die Dunkelheit, die jetzt dann hoffentlich bald vorbei ist. Oder ist das mehr? Sind das auch die Sorgen um das Geld? Die Sorgen um die Zukunft, vor einer Eskalation von Gewalt und Terror?

Seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine geht mir ein Abendlied nicht mehr aus dem Kopf. Es ist von Jörn Philipp. Und immer wieder ertappe ich mich dabei, dass ich es summe und singe und es sich, tatsächlich, wie Balsam auf meine müde, irgendwie geschundene Seele legt. Ich lese es ihnen vor. Ein bisschen Seelenbalsam:

Wenn der Abend kommt,

und die Nacht beginnt,

bitten wir, Herr bleibe bei uns,

weil wir müde sind.

Friede Stadt und Land,

Friede Herz und Hand,

Friede allen, auch den Menschen,

die uns unbekannt.

 

Du bist Anfang, Weg und Ende,

halte schützend deine Hände,

über unser ganzes Leben,

lass uns nicht allein.

 

Mir tut dieses Lied gut. Der Wunsch nach Frieden für alle, auch für die, die wir gar nicht kennen, berührt mich. Natürlich ändert es nicht die Welt, wenn ich das Lied vor mich hin summe. Aber es erinnert mich daran, wie Gott seine Welt eigentlich gedacht hat. Es hält etwas in mir lebendig: Den Friedenswunsch, den ich dann morgens hoffentlich wieder weitertragen kann.

Das Lied geht noch weiter:

 

Wenn der Abend kommt,

und die Nacht beginnt,

bitten wir, Herr bleibe bei uns.

Weil wir müde sind,

unser Wollen, Wirken, Streben,

was wir lieben, was wir leben,

legen wir in deine Hände,

lass uns nicht allein.

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SWR4 Abendgedanken

20MRZ2024
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In den sozialen Medien bin ich vor einiger Zeit auf ein Lied von Konstantin Wecker aufmerksam geworden. Ein junger deutscher Sänger mit Wurzeln in Burkina Faso, Ezé Wendtoin, hat es neu interpretiert. Der Text geht so:

Wenn sie jetzt ganz unverhohlen
Wieder Nazi-Lieder johlen
Über Juden Witze machen
Über Menschenrechte lachen
Dann steh auf und misch dich ein:
Sage nein!

Genau das ist es. Sage nein! Mir als Christin ist das wichtig: Nein zu Antisemitismus, zu Rassismus und zu der Menschenverachtung, die dahintersteckt. Jesus war Jude. Menschen jüdischen Glaubens sind unsere Geschwister. Darum ist es richtig, dass unter andrem an der Stiftskirche in Tübingen ein großes Banner hängt, auf dem steht „Nie wieder ist jetzt!“. Darum ist es richtig, dass der evangelische Landesbischof Gohl direkt nach dem Terrorangriff der Hamas festgestellt hat: „Antisemitismus ist Sünde. Wer Juden hasst, wendet sich gegen Gott selbst.“[1] Er hat recht: Die Ablehnung von Menschen jüdischen Glaubens darf in unserer Kirche und in unserer Gesellschaft keinen Platz haben.

Immer wieder lassen mich die Bilder des Krieges der Hamas gegen Israel erschaudern: Die Brutalität des Mordens durch die Hamas-Terroristen im letzten Oktober, das Schicksal der Geiseln, das Leid ihrer Angehörigen. Und zugleich das unsägliche Leid der Menschen in Palästina: Wie die Hamas die Bevölkerung als Schutzschild nutzt, hungernde Menschen, nicht versorgte Kranke und zerstörte Häuser und Existenzen. Und ich bete, dass all das ein Ende hat. Bald.

Und ich finde: Natürlich darf und muss man Israels Palästina-Politik kritisch betrachten. Ich sehe die Siedlungs-Politik kritisch. Und wo sind die humanitären Korridore, der konsequente Schutz der Zivilbevölkerung, die das Völkerrecht einfordert? Aber dennoch: Egal, was der Staat Israel tut oder unterlässt, Menschen jüdischen Glaubens ihre Menschlichkeit abzusprechen, sie aufgrund von ihrer Religion abzulehnen oder sie zu beschimpfen oder zu diskriminieren. Da gilt: Sage Nein!

Ich finde, jeder Christ und jede Christin ist genau dazu aufgerufen. Das ist nicht immer leicht: Eine kurze Bemerkung im Kollegenkreis, eine kleine Stichelei beim Abendessen mit Freunden. Es ist anstrengend, da immer klare Kante zu zeigen, sich angreifbar zu machen. Aber es richtig. Und leider nötig.

 

[1] Kanzelwort von Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl aus Anlass des Angriffs der Hamas auf Israel vom 15.10.2013, Quelle: https://www.elk-wue.de/news/2023/13102023-kanzelwort-zum-angriff-auf-israel (zuletzt aufgerufen am 14.2.2023)
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SWR4 Abendgedanken

19MRZ2024
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Vor einiger Zeit bin ich beschwingt aus der Praxis meines Hautarztes auf die Straße getreten. Und habe mich in diesem Moment verwundert gefragt: Warum habe ich denn plötzlich so gute Laune? Es gibt ja wirklich angenehmere Beschäftigungen, als zum Arzt zu gehen! Aber trotzdem: Ich fühlte mich leicht, durchaus beschwingt. Normalerweise nicht die Stimmung, die ein Arztbesuch bei mir verbreitet.

Im Bus nach Hause habe ich darüber nachgedacht. Und bin auf eine Idee gekommen: Mein Hautarzt ist total gut darin, zuzuhören. Wenn er ins Behandlungszimmer kommt, setzt er sich mir gegenüber, meist ohne Tisch dazwischen, begrüßt mich freundlich und, Achtung, beugt sich leicht vor und legt gefaltet und mit viel Ruhe die Hände in den Schoß. Und mit all dem strahlt er aus: Ich nehme mir jetzt für Sie Zeit. Reden Sie.

Und das tut gut. All das, was er macht, signalisiert: Da ist jemand, der sich tatsächlich für mich und mein Problem interessiert. Klar, er ist ja auch Arzt. Das ist sein Beruf. Aber trotzdem: Da ist keine Hetze, diesen einen, vielleicht auch nur kurzen Moment des Zuhörens, den bekomme ich geschenkt. Auch, wenn das Wartezimmer voll ist.

Zuhören kann befreiend und heilsam sein, wenn einer den anderen wirklich wahrnimmt und sieht. Das hat auch der südafrikanische Bischof Desmond Tutu erkannt. Nach den vielen, vielen Grausamkeiten, die die Rassentrennung und Unterdrückung der farbigen Bevölkerung dort verursacht haben, ist er mit einer Kommission durch das Land gezogen. Dort durften die Opfer der Gewalt erzählen. Und Tutu und seine Leute haben zugehört. Und das ganze Land mit: Die Sitzungen wurden im Radio und Fernsehen übertragen. Es ging nicht vor allem darum, die Täter zu verurteilen. Es ging darum, den Opfern eine Stimme zu geben und die Wahrheit ans Licht kommen zu lassen. In der Hoffnung, dass so Versöhnung möglich wird. Dass die Wunden aus der so schmerzhaften Zeit der Apartheid heilen können. Dass neues Leben, neues Miteinander möglich wird. Und der erste Schritt dahin war das Zuhören.

Wenn einer dem anderen zuhört, dann tut das gut. Wenn Menschen sich gesehen und beachtet fühlen. Im Bus, auf der Heimfahrt vom Hautarzt, wird mir klar, dass auch ich im besten Fall so zuhören kann: Meinen Kindern. Meinen Schülerinnen und Schülern. Freunden. Und vielleicht auch gerade denen, die nicht meine Meinung teilen. Denn ich habe wieder mal gelernt: Allein schon Zuhören kann heilsam sein!

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SWR4 Abendgedanken

18MRZ2024
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„Was mein Leben reicher macht“, so heißt eine Rubrik in der Zeitung „Die Zeit“. Leser und Leserinnen schicken eigene Texte ein und erzählen dort, was ihr Leben lebenswert macht. Und da habe ich vor ein paar Wochen Folgendes gelesen:

"Es ist nach Mitternacht, ich liege schon im Bett, als dieses mit einem Schlag in sich zusammenbricht. Nach dem ersten Schreck inspiziere ich den Schaden: Das Holz auf der rechten Seite ist gebrochen. Ich stabilisiere es mit Büchern. Eines fehlt noch, um das Bett wieder in die Waage zu bekommen. Ich lasse meinen Blick schweifen, er fällt auf die Bibel. Nach einigem Zögern lege ich sie auf den Stapel. Heißt es darin nicht: „Einer trage des anderen Last?“ Gestützt von Gottes Wort schlafe ich ein."[1]

Ist das nicht eine schöne Geschichte? Das kurze Zögern des Mannes verstehe ich: Darf man ein doch irgendwie „heiliges Buch“ so zweckentfremden? Ich finde: Ja, klar. Für uns Christen ist ja nicht das Buch an sich heilig. Es ist ein Buch. Ich arbeite tagtäglich damit. Streiche mir Sachen an. Knicke an wichtigen Stellen Eselsohren in meine Arbeitsbibel. In der Bibel erzählen Menschen, was sie mit Gott erlebt haben. Das ist eine wunderbare Quelle, um Gott nahezukommen. Aber: Heilig ist nur Gott selbst, nicht das Buch, das von ihm erzählt. Da kann es zur Not auch als Bettstütze dienen.

Und wie schön ist das Bild, das diese Geschichte in sich trägt. Der gute Mann schläft jetzt gestützt von Gottes Wort – zumindest im übertragenen Sinne. Auf die Idee ist er gekommen, weil in der Bibel steht: „Einer trage des anderen Last“ (Gal 6,2), ein Zitat aus einem der Briefe, die der Apostel Paulus an die Gemeinde in Galatien geschrieben hat. Ja, wenn wir einander beistehen, uns gegenseitig helfen, dann werden wir gestützt, ganz praktisch. Ein Stütz-Wort! Und davon finden sich noch mehr in der Bibel. Für mich ist so ein Stütz-Wort zum Beispiel folgender Vers aus einem Gebet. Darin heißt es „Du, Gott, stellst meine Füße auf weiten Raum“ (Ps 31,9). Dieses Wort erinnert mich daran, dass Gott mir viel zutraut, mir einen Freiraum schenkt, in dem ich gestalten darf. Und mir tut es gut, von diesem Zutrauen Gottes zu mir zu wissen. Noch ein Stütz-Wort.

„Dein Wort ist meines Fußes Leuchte“, heißt es in einem anderen Psalm (Ps 119,105). Nach dieser Geschichte könnte man das ja fast abwandeln in „Dein Wort ist meines Bettes Stütze!“ Auch wahr, irgendwie. Und in diesem Sinne: Schlafen Sie gut heute Nacht! Gestützt von Gottes Wort.

 

[1] Aus: Die Zeit. Entdecken, „Was mein Leben reicher macht“, 4.1.2024, S.56.

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SWR4 Abendgedanken

29DEZ2023
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Vor ein paar Wochen habe ich in der Schule im Reli-Unterricht ein neues Thema angefangen. Die Klasse hat darum ein großes Blatt mit vielen Gedankenblasen und Kästchen bekommen. Die Schülerinnen und Schüler sollten darauf die für sie wichtigsten Erkenntnisse der nächsten Stunden festhalten. Überschrieben war es mit „Geniale Gedanken von XY“. Da sollten sie ihren Namen hinschreiben. Doch ein Schüler hat protestiert: „Ich bin doch dumm. Was soll ich da schon reinschreiben?“

Mich hat diese Aussage im ersten Moment sprachlos gemacht. Und ich weiß noch, dass mir in diesem Moment durch den Kopf gegangen ist, dass ihm vermutlich immer wieder Menschen, Lehrer und Lehrerinnen, vielleicht die Eltern, manche Mitschüler, genau das vermittelt haben: „Du bist dumm.“ Was für ein vermurkster Start ins Leben.

Ich weiß gar nicht mehr genau, wie ich reagiert habe. Ich meine, ich habe irgendwas gesagt davon, dass ich sicher bin, dass jede und jeder sich schlaue Gedanken machen kann. Und dass mir alle Gedanken, die von meinen Schülern und Schülerinnen kommen, erst mal wichtig sind. Oder so was Ähnliches. Aber mitgenommen aus diesem Gespräch habe ich für mich vor allem den Impuls: Diesem Jungen musst Du vermitteln, dass er gut ist, so wie er ist. Damit er sich angenommen fühlt. Und sich selbst annehmen kann.

Von Mira Ungewitter, baptistische Pastorin in Wien, kommt folgender Gedanke: „Ich glaube, dass egal wann, wie (..) und auf welche Weise Menschen dazu ermutigt werden, sich selbst anzunehmen, andere anzunehmen und angenommen zu werden, etwas Göttliches passiert. Liebe, egal wie sie geschieht, ist ein heiliger Moment. ‚Heilig‘ im Sinne seiner ursprünglichen Bedeutung: etwas ist näher in die Sphäre des Vollkommenen gerückt. Heilig im Sinne von heil oder wieder ganz werden.“

Wieder ganz werden. Heil sein. Unsere Welt ist brüchig. An so vielen Stellen. Darum wünsche ich mir für das kommende Jahr viele solcher heiligen Momente, in denen Menschen ganz, in denen sie heil werden können. In denen, mit Mira Ungewitters Worten, etwas „Göttliches passiert“. Ich wünsche mir diese Momente im ganz Kleinen: Wenn der Vater seinem Kind sagt, wie großartig es ist. Oder wenn eben eine Lehrerin ihren Schüler ermutigt. Aber ich wünsche mir diese heiligen Momente auch im Großen: Zwischen verfeindeten Gruppen, in den vielen Konflikten um Wasser, Nahrung oder Land. Es wäre wunderbar, wenn auch dort Menschen wieder heil werden dürften.

Wir brauchen sie, diese heiligen Momente.

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SWR4 Abendgedanken

28DEZ2023
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Mit Schrecken habe ich vor ein paar Wochen festgestellt, dass ich abstumpfe. Ich höre Nachrichten im Radio von Krieg, Hunger und immer neuen Katastrophen. Und dann koche ich weiter das Abendessen, setzte mich gemütlich über ein gutes Buch und wische die Toten, die Verzweifelten, die Leidenden aus meinen Gedanken, so wie ich die Bilder des Schreckens vom Smartphone wische und lieber die fröhlichen Bildchen aus dem Familienchat ansehe.

Ist das Selbstschutz? Ja, das ist es bestimmt. Immer nur Grauen. Immer nur Erschrecken. Das schaffe ich nicht. Ich habe Angst, Angst davor, selber im Leid zu versinken, wenn ich das Leid anderer zu nah an mich heranlasse. Habe Angst, dass mich die Erkenntnis, dass auch mein Leben brüchig geworden ist, lähmen könnte. Den Alltag unbeherrschbar, unberechenbar macht.

Selbstschutz? Aber um welchen Preis? Ich will nicht abstumpfen. Ich will nicht, dass mir Schrecken und Leid, dass mir Ungerechtigkeit und Gewalt egal werden. Ich will nicht zu einem gefühllosen Ding werden, das das Leid der anderen an sich vorbeirauschen lässt, dem die Welt und die Menschen völlig gleich sind. Ich will ja fühlen, ich will ja mit leiden, Mitleid spüren. Ich will doch Mensch bleiben. Mensch unter Menschen. Mensch bei den Menschen. Mensch mit den Menschen. Mitmensch.

Jakob – der Stammvater des Volkes Israel - habe einmal eine Nacht lang mit Gott gerungen, erzählt die Bibel (1.Mose 32). Während die beiden miteinander ringen, verletzt Gott Jakob an der Hüfte. Jakob hinkt von nun an. Aber am Ende der Nacht segnet Gott ihn.

Welch eine urtümliche Geschichte. Aber vielleicht enthält sie gerade deshalb auch eine urtümliche Wahrheit. Vielleicht kommen wir aus manchen Geschichten eben nur hinkend heraus. Da ist Selbstschutz gut, damit es beim Hinken bleibt und wir nicht fallen. Aber ohne das Hinken, ohne den Schmerz, die Verletzung, ohne das Mitfühlen und Mitleiden, geht es eben auch nicht.

In einem Artikel von dem katholischen Journalisten Raoul Löbbert habe ich folgenden Satz gelesen. Und ich glaube, er ist wahr: „Erst die Unempfindlichkeit gebiert Ungeheuer, die hassen können. (…) Schauen Sie sich die Bilder der Toten und Vermissten an, lesen Sie die Abschiedstexte der Zurückgelassenen und Verwundeten (…), es sind Übungen im Fühlen. Nichts ist wichtiger in verzweifelten Zeiten wie diesen. Wer fühlt, erinnert sich: Etwas verbindet alle Menschen, die lieben. Und manchmal tut Erinnerung eben weh.“

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SWR4 Abendgedanken

27DEZ2023
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Oskar ist sterbenskrank. Leukämie. Der Junge ist im Krankenhaus. Die Ärzte verzweifeln an seiner Krankheit. Und niemand weiß so recht, wie man mit ihm, dem sterbenden Kind, umgehen soll. So erzählt es Eric Emanuel Schmitt in seinem Roman „Oskar und die Dame in Rosa“. Und „Oma Rosa“, wie Oskar sie liebevoll nennt, ist dann auch seine Rettung. Sie ist eine ehrenamtliche Helferin, eine der Damen im rosa Kittel, die ins Krankenhaus kommen, um mit den Kindern zu spielen und sie zu beschäftigen. Aber Oma Rosa macht noch viel mehr: Sie redet mit Oskar, sie tröstet ihn, sie ist ehrlich, verheimlicht ihm nicht, wie es um ihn steht. Und hilft ihm gerade damit.

Oma Rosa erzählt Oskar, dass sie früher mal eine berühmte Catcherin war und ihr Geld mit spektakulären Ringkämpfen verdient hat. Ob das stimmt, weiß man nie so recht. Aber: Oskar himmelt sie dafür an. Sie ist seine Heldin, die es mit allen aufnimmt! Einmal erzählt sie ihm von einem früheren Kampf: Ihre furchteinflößende Gegnerin hatte sich mit Öl eingeschmiert. Aalglatt war sie jetzt. Einfach nicht zu fassen. Niemand konnte sie bezwingen. Aber Oma Rosa hatte eine Tüte Mehl dabei, und die hat sie über sie ausgeschüttet. Und schon war die Angstgegnerin problemlos zu besiegen. Man nannte sie danach nur noch „die panierte Flunder“, sagt Oma Rosa. Und sie ist überzeugt: „Es gibt immer eine Tüte Mehl.“

Mich fasziniert, wie Oma Rosa denkt. Es gibt immer einen Weg, einen Ausweg. Vielleicht ist der nicht sofort ersichtlich. Vielleicht ist er ungewöhnlich. Vielleicht ist er überraschend. Oder wirkt erstmal total absurd. Aber: Es gibt ihn, diesen Weg. „Es gibt immer eine Tüte Mehl.“, sagt Oma Rosa.

Irgendwie göttlich, finde ich. Ungewöhnliche, überraschende Lösungen. Die manchmal auch absurd wirken. Jesus zum Beispiel lädt sich bei dem fiesen und ungerechten Zöllner Zachäus ein. Da sind alle Leute sauer auf ihn. Was gibt er sich denn auch ausgerechnet mit diesem gottlosen Kerl ab? Aber Jesus schafft es, dass Zachäus umdenkt. Ohne Schimpfen und Meckern, ohne erhobenen Zeigefinger. Schlicht durch Zuwendung. Das hatte keiner erwartet. Manchmal findet Gott eben einen ziemlich unerwarteten Weg. Denn, wie bei Oma Rosa: „Es gibt immer eine Tüte Mehl.“

Oma Rosas Weg für Oskar ist nicht der, dass er wieder gesund wird. Aber: Sie schafft es, dass Oskar gute letzte Tage verbringt. Und schlussendlich friedlich und irgendwie sogar zufrieden sterben kann. Wie sie das macht? – Na, da müssen Sie das Buch schon selbst lesen. Macht Freude, trotz des traurigen Themas, das verspreche ich Ihnen.

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SWR4 Abendgedanken

11AUG2023
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Heute mit Anna Görder und mit dem Computer-Programm Chat GPT. Sie haben richtig gehört, liebe Hörerinnen und Hörer: Was Sie in diesem Abendgedanken gleich hören werden, hat nicht ein Mensch geschrieben, sondern eine Künstliche Intelligenz. Die Idee dazu hatten meine Reli-Schüler aus der elften Klasse. Diese Woche haben sie einmal das Wort in den Abendgedanken gehabt, und haben über „Mut“ und über zwei mutige Frauen aus der Bibel erzählt – über Schifra und Pua.

Aber dann haben wir noch ein Experiment gemacht. Wir haben eine Künstliche Intelligenz einen Andachtstext zum gleichen Thema schreiben lassen. Und wir waren gespannt: Kann eine KI, eine Künstliche Intelligenz, kann die das? Was kommt dabei raus? Und, etwas ängstlich haben wir uns gefragt: Kann sie das vielleicht sogar besser als wir? Hören Sie selbst. NN liest Ihnen vor, was die KI geschrieben hat:

NN:
Heute möchte ich mit Ihnen über das Thema Widerstand sprechen und dabei einen inspirierenden Blick auf die Geschichte von Schifra und Pua werfen. (…) Schifra und Pua waren hebräische Hebammen im alten Ägypten (…). Angesichts der wachsenden Furcht des ägyptischen Pharaos vor der wachsenden Zahl der Hebräer, befahl er diesen mutigen Frauen, alle neugeborenen hebräischen Jungen zu töten. Doch sie (…) entschieden sie sich dafür, dem Leben zu dienen. Sie widersetzten sich dem tyrannischen Regime und schützten die neugeborenen Jungen. Ihre Taten zeugten von einem außergewöhnlichen Mut und einem tiefen Vertrauen auf Gott. (…)

In unserem eigenen Leben mögen wir mit Herausforderungen konfrontiert sein, sei es in unseren Familien, Gemeinden oder der Gesellschaft als Ganzes. (…) Doch diese Geschichte ermutigt uns, uns nicht der Furcht zu beugen, sondern dem Ruf Gottes zu folgen. (…) Lasst uns in diesen Momenten nicht aufgeben, sondern im Vertrauen auf Gottes Führung voranschreiten. Mögen wir uns von der Geschichte von Schifra und Pua ermutigen lassen, Widerstand zu leisten und für das einzustehen, was richtig ist, in dem Bewusstsein, dass Gott uns stärkt und begleitet.

AG:
So weit, so gut. Erstmal waren wir alle platt. Die KI kann das! – Aber, naja, so ganz glücklich waren wir mit dem Stil der Andacht dann doch nicht: „Lasst und im Vertrauen auf Gottes Führung voranschreiten…“ Viel zu pathetisch. Und meine Schülerinnen und Schüler haben schnell angemerkt, dass konkrete Beispiele aus dem Leben fehlen. Gerade die machen doch eine gute Andacht aus. Aber die KI kennt das „echte Leben“ eben nur durch Texte, die sie gefüttert bekommen hat. Sie kann ja nicht leben, nichts erleben. Und: Sie glaubt nicht. Sie hat keine Ahnung, wie sich das anfühlt: Gott zu vertrauen. Und deshalb kann ich auch dem nicht vertrauen, was die KI über Gott sagt.

Tja. Ein Experiment. Und es hat gezeigt: Wir Menschen sind halt doch etwas Besonderes.

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SWR4 Abendgedanken

10AUG2023
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Heute mit Anna Görder und mit Valentin und Pascal, zwei Schülern aus meiner Reli-Klasse. Gemeinsam haben sich die Elftklässler vor den Ferien gefragt, was die alten Geschichten der Bibel mit unserem Leben heute noch zu tun haben könnten. Ich finde, die Gedanken der jungen Leute sind klasse. Darum sollen sie diese Woche in den Abendgedanken das Wort haben sollen:

Valentin:
Hallo, ich bin Valentin: Rom, so etwa 70 bis 75 Jahre nach Christi Geburt: Helvidius Priscus, gewählter Senator in Rom, stellt sich dem römischen Kaiser Vespasian entgegen. Dieser wollte ihm gegen geltendes Recht verbieten, an der Senatssitzung teilzunehmen. Helvidius Priscus aber sagt: „Es steht in eurer Macht mir nicht zu gestatten, Mitglied des Senats zu sein. Aber solange ich Mitglied des Senats bin, muss ich hineingehen.“ So zumindest erzählt es Epictet in seinen „Diskursen“.

Auch in der Bibel, im zweiten Buch Mose (2.Mose 1,15) lässt sich eine ähnliche Geschichte finden. Die Geschichte von Schifra und Pua, zwei hebräischen Hebammen, die ihr Volk schützen, indem sie sich gegen den Befehl des Pharaos stellen, sämtliche neugeborenen Jungen ihres Volkes zu töten und so das Leben und die Zukunft dieser Jungen sichern.

Es sind solche Aufstände und rebellischen Akte gegen eine überlegene Macht, die für mich die spannendsten und wichtigsten Momente unserer Menschheitsgeschichte bergen. Es waren diese Männer und Frauen, die ihre Furcht beiseitestellten, um für das zu kämpfen, was sie für richtig hielten.

Einer der mutigen Menschen in dieser Reihe war auch ein junger Pfarrer namens Dietrich Bonhoeffer. Er nahm öffentlich Stellung gegen die nationalsozialistische Bewegung und leistete Widerstand gegen das Regime des dritten Reichs bis zu seiner Ermordung 1945, kurz vor Kriegsende.

Mich faszinieren diese Menschen: Sie nehmen, manchmal bis zu ihrem Tod, kein Blatt vor den Mund und zeigen Courage und Mut in ihrem Kampf für ihren Glauben und ihre Überzeugungen. Ob ich, ob wir auch die nötige Courage haben werden, so zu handeln, wenn die Welt nach uns ruft? – Ich hoffe es.

Pascal:
Guten Abend. Ich bin Pascal und ich denke dazu:
Manchmal können auch Gesetze nicht richtig sein. Dann ist zwar etwas legal, also erlaubt. Aber es ist trotzdem falsch.

Die Geschichte der zwei hebräischen Hebammen Schifra und Pua zeigt uns das. Nach dem Gesetz müssten die beiden dem Pharao gehorchen und die neugeborenen Jungen töten. Aber trotzdem ist es nicht richtig, dies zu tun. Gott will nicht, dass Kinder sterben müssen. Auch viel später, in der Zeit des Nationalsozialismus gab es Menschen, die gegen das geltende Recht gehandelt haben, weil dieses Recht dafür genutzt wurde, Unrecht zu tun. Dietrich Bonhoeffer, der damals evangelischer Pfarrer war, ging sogar so weit zu sagen: „Es reicht nicht, die Opfer unter dem Rad zu verbinden. Man muss dem Rad selbst in die Speichen fallen.“ Es reicht also nicht, den Opfern eines unrechten Regimes nur ein bisschen zu helfen, sondern manchmal ist es nötig, etwas Verbotenes zu tun, Widerstand zu leisten, wenn Regierungen unmoralisch handeln.

Widerstand und Mut helfen dazu, dass das Recht nicht zum Unrecht wird. Darauf müssen wir achten!

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