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SWR1 Begegnungen

10DEZ2023
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Sr. Nicola Maria Schmitt Foto: Heinz Heiss

… und mit Schwester Nicola Maria Schmitt. Ich treffe die Ordensfrau im Haus der katholischen Kirche in Stuttgart. Sie arbeitet dort als City-Seelsorgerin. Wir sitzen drin, am großen Tisch, es ist mitten im Advent. Draußen: Weihnachtstrubel. Das Haus der katholischen Kirche ist direkt auf der Königstraße, der Stuttgarter Einkaufsmeile. Rund 800 Leute gehen da jeden Tag rein und raus. Die einen kommen zum Kaffee trinken, die anderen gehen zu einer Veranstaltung, und manche wollen ganz gezielt mit jemandem im Seelsorgezimmer reden.

Schwester Nicola Maria erklärt, die Menschen, die jetzt in den Tagen vor Weihnachten kommen …

… sind im Bummelmodus, sage ich jetzt mal, und von daher schon auch anders gestimmt. Also sie suchen dann auch einen Raum, wo sie sich ausruhen können aus dem Trubel.

So hab ich‘s auch gemacht, ich genieße die halbe Stunde hier vor unserem Gespräch. Hole mir Kaffee, schaue durch das Glasdach in den Himmel und lehne mich in meinem Sessel zurück. Für einen kurzen Moment bei mir ankommen, wie man so schön sagt. Dass ich Schwester Nicola Maria begegnen darf, tut mir obendrein gut. Weil sie so freundlich und entspannt ist, ganz ohne Hektik. Und das in diesen Tagen.

Besinnliche Adventszeit wünscht man sich gegenseitig. Da lache ich manchmal innerlich über mich selber, in welchen Druck ich mich bringe und habe aber dann jetzt die letzten Jahre für mich entschieden, dass ich immer zwei Wochen vor dem ersten Advent mache ich eine Woche Urlaub.

Und dann ist sie mit ihrem Team bereit, für andere. Damit die im Advent ankommen können. Denn genau das bedeutet das Wort Advent. Es kommt aus dem lateinischen; adventus ist „die Ankunft“. Christen feiern jedes Jahr die Geburt und die Ankunft Jesu in der Welt.
Schwester Nicola Maria macht die Erfahrung, dass man ankommen gar nicht selbst in der Hand hat.

Es braucht ja auch jemand, der das dann ermöglicht. Und das ist für mich so etwas, wo es dann Türöffner braucht. Wo gehe ich denn hin, um anzukommen?

Und deswegen gibt es dieses Jahr einen besonderen Adventskalender im Haus der katholischen Kirche. Im Eingangsbereich ist ein Tor aufgestellt. Und da drin ist ein Bildschirm. Bis Heiligabend können Besucher jeden Tag ein virtuelles Türchen öffnen:

Und da sind dann kleine Videoclips drauf, in denen die Professionellen die Türen öffnen für ihre Gäste, also für ihre Klientel.

Diese Videos richten sich zum Beispiel an Menschen, die krank sind oder einsam. Oder erzählen von Angeboten für junge Leute. Oder für diejenigen, die fremd in der Stadt sind. Kirchliche Einrichtungen rund um Stuttgart haben die Videos gedreht und wollen signalisieren:

Bei uns kannst du ankommen, bei uns kannst du da sein, wir sind für dich da.

Wir sind mitten im Advent und mit Schwester Nicola Maria Schmitt spreche ich über das Ankommen, denn das bedeutet das Wort Advent übersetzt. Die Ordensfrau ist City-Seelsorgerin im Haus der katholischen Kirche in Stuttgart, mitten auf der Königstraße. So wie ich ab und zu kommen viele Leute ins Haus, jeden Tag, und gönnen sich eine kurze Pause. Kaffee genießen, durchschnaufen.

Aber es geht ja gleich wieder weiter und so sind wir eigentlich eine Transferstation hier. Also ein Ankommen ist eher ein prozesshaftes Geschehen in unserem Alltag. Wo man kurz ein Innehalten hat. Aber um wieder Kraft zu haben für das nächste.

Mich treibt eine Frage um, die über diesen kurzen „Ich-bin-bei-mir-Kaffee-Moment“ hinausgeht. Ich frage Schwester Nicola Maria, ob es denn jemals einen Zustand gibt, bei dem ich sagen kann: Ich bin bei mir angekommen?

Man ist nie angekommen. Die eigentliche Ankunft ist glaube ich dann, wenn ich sterbe. Also dann beginnt noch mal ein neues Leben. Und diese Sehnsucht, immer noch reifer zu werden, also bei mir anzukommen, die ist damit ja mein Leben lang nicht gestillt.

Das heißt also: Wenn ich bei mir angekommen bin, bin ich bei Gott angekommen?

Für mich als Christin ja. Ankommen heißt für mich da immer mehr, die zu werden, die Gott sich erdacht hat und dem auf die Spur zu kommen. Es ist ein Reifeprozess. Ich bin auch nicht mehr die, die ich vor 20 Jahren war und bin froh drum. Ich würde keinen Tag missen wollen, egal durch welche Krisen und Freuden ich gegangen bin.

Schwester Nicola Maria ist glücklich mit ihrer Aufgabe im Haus der katholischen Kirche, man könnte sagen: In dieser Aufgabe ist sie angekommen Und gleichzeitig darf sie trotzdem nicht zu sehr daran festhalten; und das finde ich ganz schön hart.

Ich lebe ja als Ordensschwester auch die drei Gelübde Armut, Gehorsam, Ehelosigkeit. Das heißt, mich nirgends auch so fest zu machen, als dass ich nicht jeden Tag woanders hingestellt werden könnte, wenn ich gerufen werde. Also ganz im Hier und Jetzt zu sein.

Und genau so wird es auch am Heiligen Abend sein. Schwester Nicola Maria und ihre Stuttgarter Mitschwestern fahren nicht wie so viele andere Menschen an Weihnachten nach Hause, nicht in ihr Mutterhaus, ins Kloster Untermarchtal in Oberschwaben.

Wir feiern immer da, wo wir eingesetzt sind. Weil unsere Aufgabe ist dann da zu sein, wo unser Auftrag ist.

Das bedeutet: Wenn das Haus der katholischen Kirche schließt und Ruhe auf der Königsstraße einkehrt, hilft Schwester Nicola Maria den Mitschwestern im Marienhospital. Eine andere bleibt in der Bahnhofsmission. Eine dritte in einer Kirchengemeinde.

Und wir feiern dann Heiligabend, wenn alle aus ihren Aufgaben zurückkommen.

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SWR4 Abendgedanken

10NOV2023
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Am Samstagvormittag gehe ich gerne in die Stadt. Auch wenn ich nichts einkaufen möchte. Mir gefällt es, einfach zu bummeln und irgendwo einen Kaffee zu trinken, am liebsten auf einem großen Platz. Wenn ich sage „in die Stadt“, dann meine ich: in die Innenstadt, in die Fußgängerzone. Wo es keine Autos gibt, dafür umso mehr Menschen.

Fußgängerzonen gibt es noch gar nicht so lange. In dieser Woche feiert die erste Fußgängerzone in Deutschland Jubiläum. 1953, also vor 70 Jahren, ist sie in Kassel eingeweiht worden.

Heute hat fast jede Stadt eine Fußgängerzone- und vor allem eine Einkaufsmeile. Und das ist an vielen Orten zum Problem geworden. Weil immer mehr Menschen im Internet einkaufen. Und spätestens seit Corona können wir die Folgen sehen: Läden und vor allem große Kaufhäuser schließen, Schaufenster sind zugeklebt. Das verändert die Atmosphäre, manche Fußgängerzone wird dadurch grau und irgendwie trostlos. Mich ziehen solche Städte nicht an.

Eine Innenstadt, die vor allem auf den Konsum setzt, die hat keine Zukunft. Es braucht neue Ideen. Und darin liegt eine echte Chance – für die Städte und Kommunen, sogar für die Kirchen. Alle zusammen müssen sich die Frage stellen: Wie können wir unsere Innenstädte anders gestaltet, wozu möchten wir den Raum in Zukunft nutzen; und was brauchen Menschen heute?

Ein Blick in die Geschichte kann helfen: Früher hat sich das öffentliche Leben rund um Rathaus, Marktplatz und Kirche abgespielt. Es war der Ort, an dem man sich selbstverständlich getroffen hat, an dem diskutiert und verhandelt wurde, an dem Neuigkeiten und Nachrichten ausgetauscht wurden. Wenn es gelingt, Innenstädte wieder zu solchen Begegnungs-Orten zu machen, auf die man Lust hat, dann könnten dadurch zwei Dinge möglich werden.

Erstens: Man kann der Einsamkeit entgegenwirken. Die Zahl der Menschen, die sich einsam fühlen oder alleine sind, die wächst. Und das betrifft nicht nur alte Leute, im Gegenteil, es sind viele junge Leute, denen das so geht.

Zweitens: Das Zusammenleben fördern. Es gibt sie schon, solche Ideen und Konzepte, die das zum Ziel haben: Aus Kaufhäusern werden Wohnungen, auf dem Dach eines alten Parkhauses zieht eine Kindertagesstätte ein. In Stuttgart und Ravensburg zum Beispiel hat die katholische Kirche Häuser mitten in der Stadt, mit großen Tischen und günstigem Mittagessen.

Schön wäre, wenn diese Vision keine Utopie bleibt: Beim nächsten Jubiläum der Fußgängerzone gibt es überall Orte und Plätze, die Menschen guttun, die Leute zusammenbringen und die sie inspirieren, mitzuwirken und ihre Stadt zu gestalten. An so einem Ort würde ich samstagmorgens gerne an einer großen Kaffee-Tafel auf dem Marktplatz sitzen und diskutieren. Und ganz nebenbei wären solche Orte ein wichtiger Beitrag zur Demokratie.

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SWR4 Abendgedanken

09NOV2023
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Es war immer der 9. November. Die Ereignisse an diesem Datum haben die Geschichte in Deutschland mehr als einmal beeinflusst: 1918 ist an diesem Tag die Weimarer Republik ausgerufen worden – und damit die erste deutsche Demokratie. Heute vor genau 100 Jahren hat Adolf Hitler versucht, gegen die junge Republik zu putschen. 1938 dann die Reichspogromnacht, und damit der Beginn der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten.

Ich möchte von einem 9. November erzählen, den ich selbst erlebt habe. Vom 9. November 1989. An diesen Tag habe ich eine ganz besondere, eine schöne Erinnerung! Damals war ich knapp 18 Jahre alt und wir haben den Abend in Stuttgart verbracht. Im damaligen Neckarstadion. Wir, das war der Sport-Leistungskurs, 12. Klasse. An diesem Abend haben wir ein legendäres Fußballspiel gesehen, denn der VFB hat die Bayern im DFB-Pokal mit 3:0 geschlagen. Das Spiel wurde damals live im Fernsehen übertragen und ich weiß noch, dass es einige Minuten später angepfiffen wurde als geplant. Weil die Tagesschau überzogen hatte. Der Grund: Die DDR hatte beschlossen, dass ihre Bürger ab sofort ohne Probleme oder besondere Visa einfach ausreisen dürfen. Wir hatten das im Stadion nicht gleich mitbekommen, denn damals gab es natürlich noch kein Handy. Es machte erst langsam die Runde, dass die Mauer tatsächlich gefallen war. Entweder stand das auf der Anzeigentafel oder, wie ich meine, der Stadionsprecher hat diese unglaubliche Nachricht über Lautsprecher verkündet. Was ich aber ganz sicher weiß: Einen Moment lang hat das ganze Stadion vibriert. Es war wie ein großes Rauschen; wie eine Freudenwelle, die 60.000 Menschen erfasst hat. Wir haben damals alle angefangen zu klatschen.

Ich denke es ist wichtig, dass wir uns an alle Ereignisse dieses besonderen Datums erinnern. An die schlimmen und schmerzlichen, damit wir nicht vergessen, was passiert ist, damit wir nicht aufhören zu lernen. Und damit wir aufmerksam bleiben und auf unsere Demokratie aufpassen.
Und unbedingt müssen wir uns auch an die guten Momente erinnern. Weil sie uns zeigen: es gibt Ereignisse, die Türen und Tore öffnen, die wir nie für möglich gehalten haben. So wie an jenem Abend des 9. November 1989, als die Demokratie gesiegt hat. Friedlich und über Nacht. An dieser Hoffnung will ich gerade jetzt in dieser Zeit festhalten. Und ich weiß gleichzeitig: dafür müssen wir etwas tun: Viel mehr zusammenstehen, als Gemeinde und als Gesellschaft; der Konkurrenz und der Aggressivität untereinander etwas entgegensetzen; und diejenigen, die anders glauben oder anders denken nicht als Feinde betrachten. Ich möchte 2024 wieder richtig feiern können: 35 Jahre Mauerfall, und die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland und in Stuttgart!

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SWR4 Abendgedanken

08NOV2023
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Auf meinem Flugticket steht: Tel Aviv. Wie lange und wie sehr habe ich mir gewünscht, einmal ins Heilige Land zu reisen, nach Israel und Palästina. Ich wollte dem Anfang des Christentums begegnen. Bethlehem stand auf unserem Programm, Jerusalem und der See Genezareth. Dort wollte ich etwas von dem Charme dieses Jesus spüren. Und einmal da stehen, wo er seine berühmte Bergpredigt gehalten hat; in der er von einer anderen, von einer gerechten Welt erzählt.

Mein Koffer bleibt im Keller. Ich sehe entsetzliche Bilder aus Israel und aus den palästinensischen Gebieten. Leid und Tod auf beiden Seiten. Diese Situation ist so weit weg vom Anfang, von der Friedensbotschaft Jesu. Da ist soviel Gewalt und Hass, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie das alles endet.

Meine Kinder fragen mich, warum die Hamas Israel angegriffen hat und wo genau der Grund für diesen Konflikt liegt. Ich muss ehrlicherweise zugeben, dass ich diese Frage nicht gut beantworten kann. Mir fällt es schwer eindeutig festzustellen, wann und wo in diesem Konflikt zum ersten Mal Unrecht geschehen ist. Klar ist nur: Es gibt eine sehr lange Geschichte in dieser Region. Es ist über 3.000 Jahre her, als Jüdinnen und Juden zum ersten Mal im Gebiet um Jerusalem siedelten. Und seither haben so viele Dinge diesen Konflikt beeinflusst. Politische Überlegungen, wirtschaftliche Interessen, religiöse Überzeugungen.

Wer hat angefangen? Ich glaube, diese Frage ist bei diesem Konflikt nicht zu beantworten. Und ich denke, es ist die falsche Frage, sie führt zu nichts.

Ich schaue nochmals zurück, in die Zeit, als das Christentum entstanden ist. An diesen Anfang vor 2000 Jahren. Auch Jesus hat in Zeiten von Gewalt gelebt. Aber er hat nicht mitgemacht. Er hat eine andere Strategie gewählt. Er hat Menschen nicht aufgehetzt oder niedergemacht. Er hat versucht, vermeintliches Unrecht zu entlarven. Ich denke an die Geschichte von der Ehebrecherin. Eine Meute völlig aufgebrachter Schriftgelehrter zerren sie zu Jesus, sie soll gesteinigt werden. Mit seiner berühmten Antwort „Wer von Euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“ – hat er die Lawine der Gewalt zum Stillstand gebracht.

Das mag alles naiv klingen in dieser verfahrenen, fast aussichtslosen Situation. Aber es gibt keine Alternative. Frieden geht am Ende nur mit dem Herzen, Nächstenliebe muss versucht werden.

Ich hoffe sehr, dass ich irgendwann doch noch an diesem Ort stehen darf, wo alles begonnen hat. Am Ufer des See Genezareth. Und Menschen begegne, die in Frieden leben dürfen. Die Reiseunterlagen lasse ich bis dahin an meiner Pinnwand hängen. Darauf steht der Satz „Eine Reise beginnt im Herzen“.

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SWR4 Abendgedanken

07NOV2023
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Ich verschenke total gerne Bücher. Und andersrum ist es genauso: wenn jemand fragt, was er mir schenken kann, dann sage ich immer: sehr gerne ein Buch! Das ist für mich überhaupt kein Verlegenheitsgeschenk. Im Gegenteil: Ich finde, ein Buch verschenken oder geschenkt bekommen ist etwas sehr Persönliches. Wenn ich für jemanden ein Buch aussuche, dann gehe ich nicht einfach zum Bestseller-Tisch und nehme das erstbeste mit. Mir macht es Freude zu überlegen: Welche Art Geschichte oder welches Thema passt gerade zu diesem Menschen? Ich gehe mit keiner festen Idee in den Buchladen, sondern verlasse mich darauf, dass ich immer etwas finde. Ich lese dann Klappentexte, schlage die ersten Seiten auf und schau, wohin mich die Worte führen, welche Bilder mir in den Kopf kommen oder welche Zusammenhänge ich erkenne. Und irgendwann habe ich dann das Buch in der Hand, bei dem ich denke: das passt!

So war es auch beim letzten Buch, das ich an einen Freund verschenkt habe: der legt viel Wert auf Qualität, auf gute und feine Dinge. Und er schaut abends lieber Serien als zu lesen. Deshalb habe ich gar nicht erst nach einem Roman gesucht; ich glaube, ich habe ein passendes Buch für ihn gefunden: Einen schönen Bildband über kleine Handwerksbetriebe und Manufakturen auf der Schwäbischen Alb.

Auch das Buch, das ich gerade lese, ist ein Geschenk; es trägt den Titel: „Azzurro - die geheimnisvolle Leichtigkeit Italiens“. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das Buch nicht zufällig bekommen habe; und das freut mich. Es geht um einen Vater, der, wie ich, drei Kinder hat und, wie ich, Journalist ist. Er nimmt sich viel Zeit für eine Reise nach Italien, zuerst mit den Kindern, dann mit seiner Frau, und schließlich alleine. Um Sonne, Nudeln und Cappuccino zu genießen. Und um etwas zu suchen, von dem er noch nicht weiß, was es ist.

Ich habe enorm viele Bücher; die sind auf vier Zimmer im Haus verteilt. Beim letzten Umzug vor einigen Jahren hatte meine Familie gehofft, wir könnten die Hälfte davon zum Flohmarkt geben. Sie sagen: Das hast Du doch alles schon gelesen! Ja, das stimmt. Und genau das macht die Bücher für mich erst recht wertvoll: Weil ich mein Leben darin entdecken kann, weil mich das, was andere schreiben, zum Nachdenken herausfordert, weil mir manche Erzählungen neue Horizonte eröffnen. Daran erinnere ich mich, wenn ich die Bücher vor mir im Regal sehe. Bücher sind für mich wie Lebensbegleiter, ich bin mit ihren Geschichten verbunden, sie sind ein Teil von mir und: Sie führen mich über meine Welt hinaus. Bücher bringen mich immer ein Stück weiter.

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SWR4 Abendgedanken

06NOV2023
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Ich erzähle heute von Sonia und Oleksandr. Die beiden sind Künstler und leben zusammen mit ihren Kindern in Kiew, in der Ukraine. Bekannt geworden sind sie, weil sie ganz besondere Ikonen herstellen. Ihre Ikonen schreiben sie auf die Holzdeckel von Munitionskisten.

Man sagt tatsächlich Ikonen „schreiben“, nicht malen. Denn Ikonen herzustellen, wird als Gebet oder Meditation verstanden. Ikonen sind nicht einfach nur Bilder von Heiligen; sie haben eine Botschaft. Sie erzählen vom Reich Gottes, von einer Welt, in der Gottes Spielregeln gelten - Liebe, Hoffnung, Barmherzigkeit, Vergebung.

Sonia und Oleksandr haben mittlerweile mehrere hundert dieser Ikonen geschrieben und ihre Botschaft ist klar: Es ist der Traum vom Frieden in der Ukraine. Den träumen sie schon seit 2014. Als der Krieg im Donbas begonnen hat, haben sie zum ersten Mal Kunst aus Munitionskisten gemacht.

Ich habe mir diese Ikonen in einer Ausstellung angesehen und Sonia und Oleksandr dabei getroffen. Mich hat sehr berührt, was Sonia erzählt. Wenn sie Ikonen schreibt, dann spürt sie etwas, das sie heilt. Dann wird das Leben wieder etwas leichter. Sie sagt: „Ich kann nicht zeichnen, ohne an Gott zu glauben, daran, dass alles gut wird.“ Und: „Ich kann nur malen, weil ich keinen Hass im Herzen habe.“

Mit ihrer besonderen Kunst wollen die beiden zusammenbringen, was kaum vorstellbar ist: Den Tod mit dem Leben, den Krieg mit dem Frieden; und Munitionskisten mit der Botschaft vom Heil, von einem guten Leben für alle. Sonia und Oleksandr belassen es aber nicht bei einer Botschaft durch die Kunst. Sie helfen damit auch ganz konkret: Weil sie ihre Ikonen verkaufen und mit dem Erlös ein mobiles Krankenhaus in der Ukraine finanzieren. Für Soldaten, die im Krieg verwundet werden.

Die Ikone, die mich am meisten beeindruckt, ist eine Darstellung des heiligen Petrus. Auf diesem Deckel der Munitionskiste ist noch ein Stück ursprüngliches Metall vorhanden. Es hat die Form eines Stabes. Sonia und Oleksandr haben das Metallstück in die Ikone integriert. Es wird dabei zum Hirtenstab. Aus dem, was fürs Töten gemacht war, ist etwas Nützliches geworden, ein Symbol für den Schutz und fürs Kümmern. Da habe ich verstanden, was im Alten Testament der Bibel über den Frieden gesagt wird: „Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen. Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt nicht mehr für den Krieg.“ (Micha 4,3)

Ich schreibe keine Ikonen. Aber ich schreibe Texte und spreche sie hier im Radio. Auf meine Weise möchte ich die Botschaft dieser Ikonen weitertragen. Denn nichts ist wichtiger, als dass Frieden wird. In der Ukraine und in Israel. Und auch hier unter uns in Deutschland.

Die Ikonen-Ausstellung ist noch bis zum 19. November in Nürtingen zu sehen: https://stjohannes-nuertingen.drs.de/ikonenausstellung.html

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SWR1 Begegnungen

08OKT2023
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Tomáš Halík Foto: Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart

Manuela Pfann trifft den Priester und Soziologen Tomáš Halík

Wie geht es weiter mit der Kirche, vor allem mit der katholischen Kirche? Hat sie überhaupt eine Zukunft? Darüber beraten in Rom gerade Bischöfe, Priester und Laien mit Papst Franziskus. Sie treffen sich in diesem Monat zur sogenannten Weltbischofssynode. Ich habe mich mit dem tschechischen Priester und Soziologen Tomáš Halík getroffen, um ihm genau diese Fragen zu stellen. Denn er ist ein scharfsinnigerer Beobachter - von Kirche und Gesellschaft und von politischen Entwicklungen in Europa. Tomáš Halík sagt ganz klar, dass es schlecht steht um die katholische Kirche.

Die Geschichte der Kirche, das ist nicht nur ein Progress, das ist ein Drama. Aber jede Krise ist auch eine Chance zur Erneuerung. Und die heutige Krise der Kirche, die so tief ist, ist auch eine Herausforderung.

Er redet gar nicht groß drum herum als ich ihn frage, was denn in und mit der Kirche passieren muss.

Ja, alles muss aussterben, und das ist ganz normal. Und das war schon ein paar Mal in der Geschichte der Kirche eine Notwendigkeit für eine große Reform.

Genau davor stehen wir jetzt, sagt er. Vor der großen Reform. Kleine Reparaturen helfen nicht mehr.

Also dieser Skandal mit dem Missbrauch, das war nur ein Aspekt von einer Krankheit des ganzen Systems. Papst Franziskus nennt diesen System Klerikalismus. Klerikalismus ist ein Missbrauch von Macht und Autorität.

Tomáš Halík kennt Papst Franziskus – und er schätzt ihn. Ich möchte von ihm wissen, ob der Papst ein Reformer ist.

Papst Franziskus ist für mich eine mutige prophetische Figur. Er hat, wie der heilige Franziskus, den Ruf Gottes gehört: „Franziskus, geh und erneuere mein Haus“ und auch der Franziskus von Assisi meinte zuerst, er sollte eine kleine Kapelle in Assisi erneuern. Aber dann hat er begriffen, dass seine Aufgabe ist, die ganze römische Kirche zu erneuern.

Ob der Papst das wirklich schaffen kann? Ich bin skeptisch. Was denkt Tomáš Halík über die Weltbischofssynode, die ja in dieser Woche in Rom begonnen hat. Kann die ein Teil der großen Reform werden?

Eine synodale Kirche, das ist die Kirche für die reife Epoche der Kirchengeschichte. Synodalität, das ist ein gemeinsamer Weg. Und wir brauchen die Kirche als eine Reisegesellschaft, eine communio viatorum. Wir sind alle unterwegs und wir brauchen die anderen, uns bereichern mit ihren Visionen, Erfahrungen usw.

Ich spreche mit dem katholischen Priester und Soziologen Tomáš Halík. Er beobachtet die Entwicklung der Kirche ganz genau. Dabei fällt mir etwas positiv auf: Ich habe nicht den Eindruck, dass er versucht, die katholische Kirche zu schützen, irgendetwas zu beschönigen oder zu rechtfertigen. Vielleicht liegt es daran, dass seine Ausbildung zum Priester unter besonderen Umständen geschehen ist. Tomáš Halík hat heimlich in Prag Theologie studiert und war Priester der sogenannten Untergrundkirche. Das war zu Zeiten des Kalten Krieges. Wer da in den Ostblock-Staaten mit der Kirche zu tun hatte, der wurde verfolgt. Er selbst sieht diese Umstände heute positiv:

Gott sei Dank, ich war nie im Priesterseminar. Ich meine, viele junge Kandidaten waren in Priesterseminaren zur Gehorsamkeit im Sinne von einem Konformismus.

Und noch etwas hat ihn immer von einem „normalen“ Priester unterschieden. Weil er eben nicht offiziell als Priester arbeiten durfte, brauchte Tomáš Halík einen zweiten Beruf, um Geld zu verdienen.

Ich hatte immer meinen Zivilberuf. Ich war immer in der Gesellschaft, auch von Nichtgläubigen oder Suchenden. Also, ich kenne die Sprache des Menschen außerhalb der Kirche, ich kenne ihre Probleme.

Und er weiß, wovon er spricht. Als Psychotherapeut hat er unter anderem mit Drogensüchtigen gearbeitet.

Mittlerweile ist Tomáš Halík 75 Jahre alt. Er lebt einen sehr politisch engagierten Glauben. Geprägt haben ihn da sicher die Jahre des politischen Umbruchs in seiner Heimat.

Mein Glaube ist eine Einladung zum reflektierten Glauben. Glaube kann die kritischen Fragen integrieren, viele offene Fragen, viele Paradoxe ertragen. Also Glauben ohne Denken und kritisches Denken ist sehr oberflächlich. Aber Glaube ohne Zweifel kann zum Fundamentalismus oder Bigotterie führen.

So ein Glaube braucht aber mehr denn je eine Kirche, in der offenes und kritisches Denken möglich ist. Für Tomáš Halík ist klar, wie eine künftige Kirche aussehen muss:

Die Kirche von morgen muss eine wirklich ökumenische Kirche im weiteren und tieferen Sinne des Wortes sein. Eine Gemeinschaft mit den nicht-katholischen Kirchen, aber auch mit vielen Suchenden in unserer Welt.

Zum Abschluss unseres Gesprächs fasst er seine aktuelle Sicht auf die Lage der katholischen Kirche nochmals mit einem eindrücklichen Bild zusammen.

Also, die synodale Reform der Kirche besteht nicht nur in Änderung von den äußeren Strukturen. Das wäre nur Verschiebung von Liegen auf der Titanic. Also wir müssen neue Formen suchen, die sind flexibel, und die können auch helfen, die Identität des Glaubens neu entdecken.

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SWR4 Abendgedanken

29SEP2023
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Ich zehre von diesem Sommer. Von den Farben, die immer noch in meinem Kopf sind. Von den Düften und Gerüchen, die ich wahrgenommen habe. Und vor allem: Von der Stille, die ich gespürt habe. Es waren Wochen, die ich sehr intensiv erlebt habe.

Ich bin viel unterwegs gewesen. Und die beste Zeit war die, in der dabei nichts passiert ist. In der ich keinen Plan für den Tag gemacht habe. Sondern mit Kaffee oder einem Glas Wein draußen gesessen bin. Und in der ich einfach still sein konnte. Das ist mir auch deshalb gelungen, weil ich drei Wochen lang kein Buch und keine Zeitschrift gelesen habe. Und das Handy habe ich fast nur zum Fotografieren in die Hand genommen. Mir hat es gutgetan, in ein leeres Gästezimmer zu kommen und aus dem Koffer zu leben und mir um Äußerlichkeiten wenig Gedanken zu machen.

Gleichzeitig habe ich gemerkt, dass ich in dieser Zeit Dinge intensiv wahrgenommen habe, Farben und Düfte zum Beispiel. Ich erinnere mich an Lavendel, Pinien, Salzluft, an frische Tomaten, Aprikosenmarmelade mit Ingwer, Hagebutten im Abendrot. Das Licht in einer leeren Kirche am Morgen. Es war fast wie eine heilige Zeit.

Ich glaube, ich habe etwas von dem geahnt, was Mystiker meinen, wenn sie sagen: In jedem von uns ist ein Raum der Stille. Wenn wir es schaffen, den zu finden, dann können wir zur Ruhe kommen. Und etwas vom inneren Frieden spüren, auch wenn wir unruhig sind oder Sorgen haben.

So ein Raum der Stille braucht aber auch Sorgfalt und Pflege; das ist im Alltag natürlich nicht ganz einfach. Da, wo ich wohne, ist es ganz und gar nicht still; rund um die Uhr höre ich den Lärm von der Autobahn oder die Flugzeuge. Und wenn man Familie hat, da geht es nicht, einfach alles zu lassen und still zu sein. Trotzdem versuche ich, mir ein wenig von dem Gefühl eines stillen Raums in mir zu bewahren.

Ich kann mir kleine Auszeiten suchen, wo das möglich ist. Ich werde das auch morgen früh wieder tun, denn für mich ist der Morgen dazu die beste Zeit, solange noch Ruhe im Haus ist. Nach dem Aufstehen schaue ich nicht als erstes aufs Handy und ich schalte nicht gleich das Radio ein. Ich will die Welt um mich herum zuerst mit den Sinnen wahrnehmen und deshalb beginnt mein Tag vor der Tür, im Garten. Die kühle Morgenluft auf der Haut tut mir gut. Katze und Hase bekommen die ersten Streicheleinheiten und dann genieße ich schweigend den ersten Kaffee. Das ist meine heilige Zeit.

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SWR4 Abendgedanken

28SEP2023
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Ich stehe am Busbahnhof und warte auf meine Tochter. Vor 24 Stunden ist sie in Rumänien in den Bus gestiegen, sie kommt zurück aus den Karpaten. Fast drei Woche war sie mit einer Gruppe Pfadfinder im Gebirge unterwegs. Ich bin froh, als der Bus um die Ecke biegt. Denn da gab es doch einige kritische Situationen zu überstehen in den letzten Wochen: Gewitter und Hagel, heftiger Regen, Zelte wurden weggeweht und zerrissen, die Gruppe ist Bären begegnet, und etliche haben sich mit einem Magen-Darm-Virus durch die Berge geschleppt.

Doch jetzt ist alles gut! Alle sind wohlbehalten zurück. Während die Gruppe zum Abschied am Bussteig noch singt und lacht, fährt gegenüber der nächste große Bus ein. Etliche Menschen warten schon. Mir fällt auf, dass die Leute große Taschen dabei haben. Und ich sehe viele Frauen mit Kindern. Als ich den Lauftext am Bus lese, erschrecke ich. Es werden all die Orte angezeigt, an denen der Bus in den nächsten Stunden und Tagen halten wird. Er fährt über Nürnberg und Bayreuth und weiter nach Dresden und Görlitz. Und die Namen, die ich dann lese, kenne ich nur aus den Nachrichten: Kiew, Odessa, Mykolaiv, Cherson. Dieser Bus fährt ins Kriegsgebiet. In die Ukraine.

Ich kann das in diesem Moment kaum glauben. Da spielen sich innerhalb von wenigen Minuten zwei Situationen am selben Ort ab, die so gegensätzlich sind: Aus dem einen Bus steigen fröhliche junge Leute. Die hatten eine aufregende, aber tolle Zeit miteinander. In den Bus gegenüber steigen Mütter mit teils kleinen Kindern und fahren in ein zerstörtes Land; an Orte, die lebensgefährlich sind. Und ich steh einfach daneben.

Ich fühle mich in diesem Moment so hilflos und denke: Was sind meine Sorgen gegen die Angst dieser Mütter! Ich kann mir deren Situation kaum vorstellen.

Dieser Krieg ist immer noch furchtbar. Und ich habe keine Ahnung, was zu tun ist, damit er endet. Das Mindeste, das wir tun können: Den Ukrainerinnen und Ukrainern, die hier bei uns sind, zeigen: Wir sehen euch, wir nehmen wahr, was passiert. Als der Bus abfährt, hebe ich den Arm und winke vorsichtig.

Gleichzeitig wünsche ich mir, dass ich eines Tages selbst in einem Bus sitze mit Ziel Odessa; um in dieser schönen Hafenstadt am Schwarzen Meer Urlaub zu machen. Und ich hoffe, dass die Frauen und Kinder, die in diesen Wochen in ihre Heimat fahren, den Traum nicht aufgeben: Einmal wieder mit dem Bus in den Frieden zu fahren.

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SWR4 Abendgedanken

27SEP2023
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Wir sind unterwegs am Bodensee und machen einen Stopp bei der berühmten Wallfahrtskirche Birnau. Als wir sie besichtigen, fällt mir ein Tablett auf, das im Vorraum steht. Darauf sind lauter kleinen Fläschchen mit goldfarbenem Schraubverschluss, der Inhalt ist durchsichtig. Beklebt sind sie mit einem Etikett, auf dem ist die Wallfahrtskirche abgebildet. Ich denke im ersten Moment: Ah, das ist bestimmt ein Obstbrand, ein Schnaps also. Das Kloster hat vielleicht eine eigene Brennerei. Denn die Wallfahrtskirche liegt ja mitten in einem großen Obstanbaugebiet. Ich nehme das Fläschchen in die Hand und schaue genauer hin: Dann muss ich schmunzeln. Nein, es ist kein Obstbrand, es ist Weihwasser!

Auf dem Etikett dieses Weihwasser-Fläschchens steht: „Durch die Kraft Gottes, die im Weihwasser wirkt, möge: Alles Böse von mir weichen und Gottes Segen, Frieden und Gesundheit über mich kommen.“

Ich überlege, ob ich das Weihwasser mitnehmen soll. Und entscheide mich dagegen. Denn ich würde es nicht verwenden. Ich mag das Ritual, mich mit Weihwasser zu bekreuzigen, wenn ich in eine Kirche komme. Das Zeichen erinnert mich an meine Taufe und daran, dass mein Leben zwar endlich ist, aber dass es nach dem Tod ein ewiges Leben gibt. Daran kann ich glauben. Aber dass eine Extra-Kraft in geweihtem Wasser steckt, die mich beschützt, damit kann ich wenig anfangen.

Zum Ende unseres Birnau-Besuchs gehe ich noch nach nebenan in den Klosterladen. Und da gibt es tatsächlich einen Birnauer Obstbrand! Abgefüllt in denselben kleinen Fläschchen mit goldfarbenem Schraubverschluss. Den Obstbrand nehme ich mit. Der erinnert mich an das Ritual in unserer Familie am Ende einer Bergtour oder auf dem Gipfel: Da gab es immer einen Schnaps. Als Zeichen für unsere Gemeinschaft am Berg, dass wir gut miteinander unterwegs waren und das Ziel erreicht haben.

Wir brauchen Zeichen und Rituale im Leben, an denen können wir uns festhalten, sie geben uns Orientierung. Und sie drücken aus, was wir mit Worten manchmal nur schwer formulieren können. Der Benediktinerpater Anselm Grün sagt: „Rituale sind mehr als Alltaggewohnheiten und mehr als bloßes eingespieltes Routineverhalten. Rituale öffnen den Himmel über unserem Leben.“[1]

Ich gehe doch nochmals zurück in die Kirche und stecke ein Fläschchen vom Weihwasser ein. Nicht für mich. Für eine Freundin, von der ich weiß, dass sie gerne Weihwasser im Haus hat. Für mich hat beides in gleicher Weise seinen Platz, wenn es um Rituale geht - Weihwasser und Obstbrand.

 

[1] Anselm Grün, „50 Rituale für das Leben“, Herder Verlag

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