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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

30OKT2023
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Spätestens seit es gestern Abend doch erheblich früher dunkel geworden ist als bisher, ist klar: Die Sommerzeit ist endgültig vorbei. Und so schön diese vermeintliche Stunde länger schlafen gestern Morgen war – heute tickt die Uhr wieder normal im Alltagsmodus.

Die Uhr um eine Stunde zurückdrehen, das fasziniert mich irgendwie jeden Herbst aufs Neue. Vielleicht weil da eine gewisse Sehnsucht mitschwingt.

Wie gerne würde ich manchmal die Zeit zurückdrehen - nicht nur eine Stunde. Jetzt gerade würde ich gerne den Sommer festhalten, die langen, leuchtenden Tage und die Wärme, wohl wissend, dass das nicht geht.

Genau so geht es mir mit den Jahreszeiten des Lebens.

Gefühlt bin ich im Spätsommer meines Lebens angekommen. Da geht es mir manchmal auch so, dass ich die Zeit gerne ein wenig zurückdrehen wollte… oder wenigstens anhalten. Ich möchte zwar nicht mehr 20 sein, aber so ein wenig von der Kraft und dem Elan von damals haben. Das wäre fein.

Gleichzeitig verspüre ich eine große Dankbarkeit, für Vieles was immer noch möglich ist. Als meine Oma früher oftmals gesagt hat: „Wenn ich nur jeden Morgen aufstehen kann …“ dachte ich: was sie nur immer hat … Inzwischen ist mir bewusst, dass es alles andere als selbstverständlich ist, Morgen für Morgen aus dem Bett zu kommen und meinen Alltag zu meistern, gut zu Fuß zu sein und noch vieles unternehmen zu können.

Ich bin dankbar für die bereits gelebten Jahreszeiten. Für das, was mir im Frühling, als ich Kind und Jugendliche war, an Geborgenheit und Zutrauen geschenkt wurde. Und vor allem für den großen Sommer meines Lebens: die unbeschwerte Studienzeit, das Glück eine Familie zu gründen und Mutter zu sein, seit 30 Jahren an einem Ort leben und arbeiten zu dürfen, an dem ich mich wohl und heimisch fühle.

Von daher will ich die Uhr auch nicht unbedingt zurückdrehen. Aber Innehalten, dankbar auf all das schauen, was ich Schönes und Gutes erlebt habe. Wieviel liebenswerten und herzensguten Menschen ich begegnen durfte. Was für ein Schatz es ist, dass ich mich ein Leben lang getragen weiß von Menschen, die mir wohlgesonnen sind; und dafür, dass ich vertrauen kann, dass da Einer ist - Gott - der mich auch im Winter nicht fallen lässt, sondern in einen neuen, anderen Frühling begleitet. Das alles gibt mir die Kraft, mutig auf den Herbst und den Winter zuzugehen. Im Jahresverlauf ebenso wie in meinem Leben.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

04JUN2022
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Morgen ist Pfingsten. Ein Fest der christlichen Kirchen, das neben Weihnachten und Ostern eher ein Schattendasein führt. Was hat es mit diesem Fest auf sich? Und warum wäre es schade, wenn es nur noch als wunderbar langes Wochenende verbucht wird?

Für mich ist das Faszinierende an diesem Fest, dass es vor gut 2000 Jahren einen Wendepunkt markiert hat. Nach dem Tod Jesu am Kreuz hatten sich seine Jünger und Jüngerinnen eher wieder ins Private zurückgezogen. Vielleicht aus Furcht, dass auch ihr Leben nicht mehr so sicher sein könnte, vielleicht, weil sie der Botschaft von der Auferstehung ihres Meisters doch nicht getraut haben, vielleicht aus purer Bequemlichkeit. Fest steht aber, dass sie an diesem Pfingstfest eine Erfahrung gemacht haben müssen, die sie vollkommen verändert hat. Was ist passiert? So genau weiß man es nicht. Es ist von einem Sturm die Rede und von Feuerzungen an diesem Pfingsttag. Das Resultat jedenfalls war: Die Jünger haben sich wieder hinaus in die Öffentlichkeit getraut und das Verstummt-Sein hatte ein Ende. Die Bibel spricht vom Heiligen Geist, der auf sie herabkam. Der hat bewirkt, dass sie keine Angst mehr hatten. Und die Zusage Jesu, sie nicht als Waisen zurückzulassen, ihnen einen Beistand an die Seite zu stellen, die hat sich tatsächlich erfüllt. Dieser Beistand hat viele Namen: Heiliger Geist, Tröster, Schöpfer Geist, Atem Gottes. Etwas von diesem Beistand und seiner Kraft müssen sie gespürt haben.

Der Theologe Fridolin Stier hat diesen Beistand mit „Mutbringer“ übersetzt. Das gefällt mir und bringt auf den Punkt, worum es an Pfingsten geht: seid mutig, haltet zusammen, geht hinaus und werdet nicht müde, von diesem Jesus von Nazareth und seinem menschenfreundlichen Gott zu erzählen.

Übertragen auf heute heißt es für mich: Seid mutig, verschanzt euch nicht hinter Floskeln wie: „Da kann man eh nichts ändern“. Haltet zusammen, tut, was in eurer Macht steht und werdet nicht müde, an einer besseren Welt zu arbeiten. Das ist für mich die Botschaft von Pfingsten. In diesem Fest steckt Energie, Lebensenergie und die Zusage, dass dieser Mutbringer auch heute noch am Werk ist.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

03JUN2022
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Nada te turbe, nada t´ espante –nichts soll dich verwirren, nichts soll dich erschrecken. Das ist ein Vers aus einem Lied, das ich in letzter Zeit immer wieder vor mich hinsumme oder manchmal wie ein Stoßgebet vor mich hin stammle. Es tut mir gut und beruhigt mich. Vielleicht weil ich mich selten so unruhig und ängstlich erlebt habe, wie zurzeit.

Dieser Satz ist der Beginn eines Textes, der Teresa von Avila zugeschrieben wird. Sie ist eine spanische Mystikerin und hat im 16. Jahrhundert gelebt und gewirkt. Bei ihrem Tod fand man in ihrem Gebetbuch einen Zettel mit diesem „Nada te turbe“. Reichlich abgegriffen und vermutlich viel benutzt.

Der ganze Text lautet:

„Nichts soll dich verwirren,
nichts soll dich erschrecken,
alles geht vorüber:
Gott zieht nicht um
Die Geduld
erreicht alles,
wer Gott zu Gast hat,
dem fehlt nichts:
nur Gott genügt.“*

Vermutlich musste auch diese Frau sich immer wieder selbst ermutigen. Sie lebte in unruhigen Zeiten, mehrere Kriege tobten im Land, die von ihr gegründeten Klöster wurden bedroht. Sie selbst war chronisch krank und brauchte viel Kraft, weil sie ständig beobachtet und ihren Glauben rechtfertigen musste.

Da mag ihr dieses Gebet geholfen haben. Es waren vermutlich nicht allein die Worte, die sie getröstet haben. Und auch nicht die Erfahrung, dass alles irgendwann vorübergeht und es manchmal viel Geduld braucht. Ich glaube, es war ihr tiefes Vertrauen auf Gott. Mich berührt besonders ein Satz in diesem Text: „Dios no se muda.“ -  Gott zieht nicht um. Das bedeutet: Gott bleibt bei Dir. Er geht nicht weg – was immer auch geschieht: Er macht sich nicht aus dem Staub.

Das steht da und wirkt auf mich wie in Stein gemeißelt. Unumstößlich gilt seine Zusage. Was auch passiert. Ich bin mit dir – ich bin, wo Du bist.
Ich bin alles andere als furchtlos, und zurzeit gibt es vieles, was mich unruhig sein lässt und besorgt: der Krieg in der Ukraine, die zunehmenden Klimakatastrophen, ein Freund der sterbenskrank ist. Doch diese Zusage gibt mir Halt: Gott zieht nicht um.

*Übersetzung: Mariano Delgado in: Reinhard Körner, „Gott allein genügt nicht- Gott nur ist genug“, Münsterschwarzach 2015, S. 39

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

02JUN2022
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Ein Satz beschäftigt mich. Ich habe ihn vor kurzem gehört. Er heißt: „Auch ein in den Dreck gefallener goldener Schlüssel ist ein goldener Schlüssel.“
Es stimmt. Ein goldener Schlüssel, der in den Dreck gefallenen ist, bleibt ein goldener Schlüssel. Er ist schmutzig und glänzt nicht mehr. Aber der Dreck, der ihn bedeckt ändert nichts an der Tatsache: er ist und bleibt golden.

Was ist damit gemeint? Dieses Bild vom in den Dreck gefallenen goldenen Schlüssel bedeutet für mich im übertragenen Sinn: Auch ein Mensch bleibt immer ein Mensch. Egal was passiert - diese Würde kann ihm nicht genommen werden. Auch wenn das Leben oder die Menschen ihm hart zusetzen oder er selbst einiges verbockt hat.

In keiner anderen Geschichte der Bibel wird das für mich so greifbar wie im Gleichnis vom barmherzigen Vater: Dieser Vater hat zwei Söhne. Der Jüngere lässt sich seinen Erbteil ausbezahlen und geht weg, um sein Glück in der Ferne zu suchen. Doch er verspielt das ganze Vermögen und landet buchstäblich in der Gosse. Am Tiefpunkt angelangt, fasst er sich ein Herz und entscheidet sich, nach Hause zurückzugehen.

Und sein Vater? Der geht ihm entgegen. Nimmt ihn in den Arm. Sagt nicht: Wasch dich erst einmal und zieh dir was Ordentliches an. Auch von Vorwürfen, wie: „Das hätte ich dir gleich sagen können oder Bedingungen, die an seine Rückkehr geknüpft sind, liest man nichts in der Geschichte.

Er nimmt ihn auf – so wie er ist – so wie er geworden ist. Und macht das für alle Anwesenden deutlich, indem er sogar ein Fest für ihn ausrichtet: Dieser ist und bleibt sein Sohn. Er ist in den Dreck gefallen, hat sich selbst durch den Dreck gezogen aber er ist und bleibt sein Sohn.

Die Haltung dieses Vaters berührt mich immer wieder aufs Neue. Er hält mir den Spiegel vor, wenn ich manchmal allzu schnell dabei bin, jemanden nach dem Äußeren zu beurteilen. Er lehrt mich, hinter die Fassade zu schauen, tiefer zu blicken, warum jemand wie geworden ist. Und er ermutigt mich, nie zu vergessen, dass jeder Mensch eine von Gott verliehene Würde hat und dass ER, Gott, mir in jedem Menschen entgegenkommt. Egal ob er strahlend daherkommt oder elend beieinander ist.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

01JUN2022
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„Betest Du eigentlich noch“? Diese Frage beschäftigt mich. Ich stell sie mir selbst: „Klar, bete ich. Wir sprechen beim Essen zu Hause ein Tischgebet. Im Gottesdienst bete ich mit allen anderen das Vaterunser, manchmal einen Psalm und all die anderen vorgegebenen Gebete. Und immer wieder schicke ich ein Stoßgebet gen Himmel. Das sind alles Gebete und wenn ich sie spreche, dann bete ich also folgerichtig. Von daher könnte ich die Frage rasch mit ja beantworten – „ja, ich bete noch“.

Doch die Frage dahinter, die mich eigentlich umtreibt, ist die: Was bedeutet beten für mich? Es heißt für mich zunächst still werden. Horchen. Lauschen. Ich brauche diese innere und äußere Ruhe, um in Verbindung zu kommen mit mir selbst und mit dem, den ich Gott nenne, der vielleicht so etwas wie die innere Stimme in mir ist.

Dabei fühle ich mich in einer alten Tradition aufgehoben. Denn schon das zentrale Gebet im Judentum, also bei unseren älteren Glaubensgeschwistern, beginnt mit der Ermutigung: Höre Israel. Höre - nicht rede. Beten bedeutet für mich deshalb zunächst still werden, um zu hören. Um in mich hineinzuhören. Und eine Verbindung zu Gott suchen. Wenn ich nicht weiß, wie ich mein Gebet anfangen soll, dann halte ich mich an die heilige Teresa von Avila. Sie sagt:

„Das Gebet ist meiner Ansicht nach nichts anderes als ein Gespräch mit einem Freund, mit dem wir oft und gern allein zusammenkommen, um mit ihm zu reden, weil er uns liebt.“

Beten als reden wie mit einem Freund. Das finde ich eine schöne Vorstellung.
Und dass dieser Gott sich dabei mit mir auf Augenhöhe treffen will, berührt mich sehr. Ich finde es nicht selbstverständlich zu ihm „Du“ sagen zu dürfen. Doch Jesus ermutigt mich mit der Einladung, Gott Vater zu nennen, genau dazu.

In einem Gespräch mit einem guten, „väterlichen“ Freund, kann ich mich so zeigen, wie ich bin, mit dem, was mich umtreibt. So besteht eines meiner kürzesten Gebete aus wenigen Worten: „Da schau her – so ist es gerade“. Ich muss nichts beschönigen und wir können gut miteinander schweigen. Und die Fragen aushalten, auf die es - noch - keine Antwort gibt.

Es tut mir gut, regelmäßig in Kontakt zu sein mit Gott, mit ihm in Verbindung zu bleiben, ihm mein Herz und Ohr zu öffnen. Wie andere Freundschaften auch will ich diese Freundschaft mit Gott pflegen.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

31MAI2022
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Trotzkraft – das ist ein Wort, das ich in den Anfangszeiten von Corona zum ersten Mal gehört habe. Es hat mich irgendwie sofort angesprochen und mich neugierig gemacht, was damit gemeint sein könnte. Denn bis dahin kannte ich die beiden Teile des Wortes nur einzeln. Der Trotz und die Kraft. Gefunden habe ich das Wort „Trotzkraft“ bei der Autorin Christina Brudereck. Sie beschreibt, was Trotzkraft meint:

Leidenschaft für das Leben
Widerstandkraft
Auch dem Schlimmsten noch Gutes abgewinnen
Seelische Stabilität
Zähigkeit
Lebensstärke
Mich nicht als Opfer eines Schicksals verstehen
Unerschütterlichkeit
Mich nicht brechen lassen
An Träumen festhalten
Wege finden
Aufrichten nach dem Schlag*

Bei dieser letzten Beschreibung „Aufrichten nach einem Schlag“ war mir klar, was oder besser wen ich selbst mit Trotzkraft verbinde: meine Mutter.
Sie hat vor gut sechs Jahren aus heiterem Himmel der Schlag getroffen. Aus einer mobilen und höchst aktiven Frau wurde innerhalb weniger Stunden eine halbseitig gelähmte Patientin, der kein Arzt zugetraut hat, dass sie jemals wieder aus dem Rollstuhl und auf die Beine kommt. Aber sie hat gekämpft, hart trainiert und es geschafft, dass sie wieder am Rollator gehen und vom Rollstuhl aus Teile ihres Haushalts selbstständig bewältigen konnte.
Ich bewundere ihre Zähigkeit, aber mehr noch, dass sie dabei nie verbissen gewirkt hat oder gar verbittert geworden ist. Das Leben so zu nehmen, wie es ist, das Beste daraus machen und darauf vertrauen, dass immer irgendwo wieder ein Türle aufgeht. Das ist ihr Lebenscredo. Auch jetzt noch, wo sie nicht mehr zu Hause sein kann und in einem Pflegeheim lebt.

Ich bin ihr dankbar, dass sie etwas von ihrer „Trotzkraft“ an uns Kinder weitergegeben hat. Sie lebt uns unerschütterlich vor, was es heißt, Vertrauen ins Leben zu haben, bei allem, was dagegenspricht. Erst letzten Sonntag meinte sie als ich mich von ihr verbschiedet habe: „Dann lass uns mal tapfer in die neue Woche gehen. Wir lassen uns nicht unterkriegen, haben wir uns doch noch nie, oder?“

* gekürzt in veränderter Reihenfolge aus: Christina Brudereck, Trotzkraft

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

30MAI2022
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Unser Garten scheint in diesem Frühjahr zu explodieren. Er strotzt vor Energie. Seit es Anfang Mai immer wieder geregnet hat und es warm geworden ist, blüht und treibt es an allen Ecken und Enden. Dem Gemüse und Salat im Hochbeet kann ich von Tag zu Tag beim Wachsen zuschauen. Das ist toll.

Besonders fasziniert mich allerdings dieses satte Grün überall – nicht nur im Garten – auch auf den Wiesen und in den Bäumen. Jedes Jahr kommt es mir wie ein Wunder vor, dass das, was bis vor ein paar Wochen noch kahl, dürr und wie abgestorben war nun voller Blätter und lebendigem Grün ist.

Dieses Grün tut mir gut. Jedes Jahr aufs Neue – aber in diesem Jahr empfinde ich es irgendwie stärker. Woran das liegt? Vielleicht weil dieses Grün in der Natur ohne Worte einen „Gegenpol“ setzt zu all den Nachrichten und Bildern aus Kriegs- und Krisengebieten, die mich - und nicht nur mich - beschäftigen und verfolgen. Nicht umsonst gilt Grün als Farbe der Hoffnung.

Dieses Grün ist etwas, das mich stärkt und mir Kraft gibt. Die heilige Hildegard von Bingen spricht von der Viriditas, der Grünkraft. Diese Grünkraft bezeichnet eine Grundkraft der gesamten Natur. Etwas, das Pflanzen, Tieren und Menschen innewohnt. Diese Grünkraft ist eine schöpferische Kraft. Sie bringt Leben zur Entfaltung. Schon vom Wort her leitet sich grün vom mittelhochdeutschen gruoen ab, was so viel meint wie wachsen, sprießen, gedeihen.

Für mich hat diese Grünkraft eine heilsame und belebende Wirkung. Wenn ich morgens barfuß durchs noch feuchte Gras laufe, fühle ich mich lebendig. Nirgendwo bekomme ich den Kopf so gut wieder frei, wie wenn ich im Wald bei uns um die Ecke spazieren gehe oder wenn ich im Garten so recht mit Erde werkle und Blumen oder Kräuter pflanze.

Diese Heilkraft der Natur ist für mich etwas Wunderbares. Und sie ist völlig umsonst – einfach ein Geschenk des Schöpfers. Ich muss nur meine Augen öffnen, riechen, schmecken, lauschen.

Hildegard von Bingen ermuntert uns in die Natur zu gehen und diese Grünkraft einzusaugen. Gerne will ich heute ihren Rat befolgen und ihn weitergeben:
„Es soll der Mensch hinausgehen auf eine grüne Wiese und sie solange anschauen, bis seine Augen wie vom Weinen nass werden: Das Grün der Wiese nämlich beseitigt das Trübe in den Augen und macht sie wieder sauber und klar.“

zitiert nach Ingrid Riedel, Hildegard von Bingen: Prophetin der kosmischen Weisheit, Stuttgart 1994, S.14

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Anstöße sonn- und feiertags

29MAI2022
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Heute geht in Stuttgart der 102. Deutsche Katholikentag zu Ende. Sein Motto war und ist „leben Teilen“. Zwei Worte: Leben und Teilen.
Leben Teilen - das Motto passt zur Diözese Rottenburg-Stuttgart, sie ist die Gastgeberin für diesen Katholikentag. Denn ihr Schutzpatron ist der heilige Martin. Für eine Szene ist er berühmt: Er teilt seinen Mantel mit einem Bettler. Aus einem ganzen Mantel werden zwei Mantelhälften und keiner der beiden muss erfrieren.

Das Symbol des Mantels hat im Vorfeld des Katholikentags eine wichtige Rolle gespielt. Es gab eine Aktion, die ich klasse finde. Dabei ist kein Mantel geteilt worden, sondern ein riesengroßer Martinusmantel wurde geschaffen. Und riesengroß meint konkret: über 240 Quadratmeter groß. Tausende von roten Stoffstücken wurden dazu im Vorfeld im ganzen Land verteilt, die dann vor Ort individuell gestaltet wurden. Da wurde gestickt, beklebt, bemalt. Unterschiedlichste Gruppen, junge und alte Menschen haben sich beteiligt und ihre Facette zu dem beigesteuert was Leben Teilen für sie bedeutet. Daraus entstanden ist ein echtes Gemeinschaftswerk.

Wo viele bereit sind, etwas von sich abzugeben oder zu zeigen, was ihnen wichtig ist, was ihnen Leben bedeutet und das dann zusammenfügen, da wird echtes Miteinander erfahrbar. Da wird geteiltes Leben sichtbar.

Sehr schön hat das die Theologin Annette Gawaz in einem Text zusammengefasst:

Das Leben teilen, das gelebte,
die Freude und den Kummer auch,
genau das ist es, was uns reich macht:
wenn wir einander Anteil geben
am Stoff aus dem mein Leben ist.
Mal ist er warm, mal eher dürftig,
mal ist´s das Kleid des Fests, mal ein Trauerkleid.
Doch alles lässt sich teilen, lässt sich schenken
Und ist nicht das Gewand von jedem Leben,
von mir, von dir, von jeder Frau und jedem Mann –
ein Stück des großen Menschheitskleides?*

Ein Stück vom großen Menschheitskleid – das symbolisiert für mich dieser große Martinusmantel. Viele Menschen haben ein Stück aus ihrem Leben und von ihrer Zeit beigesteuert. Sie haben, im übertragenen Sinn, in den Mantel ihre Lebensfäden eingewoben und sich über ihr begrenztes Stoffstück hinaus mit anderen verbunden und dadurch gezeigt: Leben teilen heißt miteinander verbunden sein.

*aus: leben teilen, Gebets-und Impulsheft zur Vorbereitung auf den Katholikentag, S. 77

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

11SEP2021
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Am Montag geht auch bei uns in Baden Württemberg die Schule wieder los.

Ob mit oder ohne Corona-Richtlinien ist das für viele Schülerinnen und Schüler ein aufregender Tag. Wie sieht der neue Stundenplan aus, welche Lehrerinnen und Lehrer bekommen wir, neben wem werde ich sitzen? Und nach den Erfahrungen der vergangenen eineinhalb Jahre wird viele bewegen, ob und wie lange der Unterricht in Präsenz stattfinden kann.

Spannende Zeiten, besonders für alle, die jetzt die Schule wechseln und für die Jüngsten, für die mit dem ersten Schultag ein neuer Lebensabschnitt beginnt.

An sie denke ich heute Morgen besonders, an diese kleinen Buben und Mädchen, deren Ranzen mir manchmal fast größer vorkommt, als die kleine Person, die ihn trägt.

Für sie beginnt jetzt der sogenannte „Ernst des Lebens“. Zumindest hat man mir das vor meiner Einschulung, die just heute vor 51 Jahren war, ständig gesagt. Damals konnte ich nicht viel mit diesem Satz anfangen. Weil ich mich doch auf die Schule gefreut hatte, darauf, endlich lesen und schreiben zu lernen.

Heute weiß ich eher, was es mit diesem Ernst des Lebens auf sich hat. Spätestens mit dem Schuleintritt – und leider oft schon früher – beginnt die Sache mit dem Leistungsdruck, der auf vielen dieser Kinder lastet. Ausgesprochen oder unausgesprochen.

Zum Glück freuen sich die Kinder, die ich vor Augen habe sehr auf ihre Einschulung. Liebevoll und sorgfältig wurden die Schultüten gebastelt, das Mäppchen und der Ranzen ausgesucht. Jetzt kann der Tag kommen, an dem es endlich losgehen soll.

Mich rührt es an, wie offen diese Kinder auf etwas Neues zu gehen. Sich einfach freuen, neugierig sind auf die Schule.

Ich wünsche ihnen, dass sie Menschen finden, die sie sie beim Lernen behutsam begleiten. Frauen und Männer, Pädagoginnen und Pädagogen, die sie entdecken lassen, was in ihnen steckt. Und ihnen auch immer wieder zeigen, dass es neben ihnen auch noch andere Kinder gibt und sie darin bestärken ihr soziales Gespür weiterzuentwickeln. Ich wünsche ihnen, dass sie sich wohlfühlen in ihrer Klasse, dass es ihnen Freude macht zu lernen, und dass ihr Lebensranzen niemals zu schwer wird.

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10SEP2021
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„Und es kam der Tag, da das Risiko in der Knospe zu verharren, schmerzlicher wurde als das Risiko zu blühen“

Dieser Satz der Schriftstellerin Anais Nin treibt mich um. Vielleicht weil er mich an einem wunden Punkt erwischt. Denn in letzter Zeit frag ich mich immer wieder, ob ich die Knospen in meinem Leben zum Blühen gebracht habe, ob ich meine Gaben auch wirklich genutzt habe oder eben nicht, oder eben zu wenig? Aus Angst, nicht gut genug zu sein…oder aus Scheu, mich damit ins Rampenlicht zu stellen?

Teile ich meine Gaben die mir von Gott gegeben sind freigiebig oder halte ich sie - warum auch immer - zurück? Leb ich das Leben, das ich leben könnte?

Wo verharre ich im Zustand der Knospe anstatt etwas zum Blühen zu bringen? Was hindert mich daran, mich zu entfalten? Oder gibt´s da vielleicht nichts mehr in mir, das blühen könnte?

Vielleicht sind diese Fragen mit zunehmendem Alter normal – vielleicht sind sie sogar wichtig. Nicht zur Nabelschau, sondern um den eigenen Lebensauftrag zu erfüllen. Und das Gebot der Nächstenliebe, das dazu auffordert, seinen Nächsten zu lieben - Und nicht nur den Nächsten sondern auch sich selbst.

Genau darum geht es in einem Text von Ulrich Schaffer, den ich sehr berührend finde.  

Er schreibt:

„In dir,
parallel zu deinem Leben,
liegt ein anderes Leben.
Es hat sich still verhalten
und ist mit dir zusammen älter geworden.
Es hat sich nicht aufgedrängt
und nicht die Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Es hat auf den richtigen Augenblick gewartet.
Dabei ist seine Sehnsucht gewachsen.
Sie ist immer dichter geworden,
immer erfüllter und brennender.
Du hast sie gespürt,
hast versucht sie zu erfüllen,
bist ängstlich zurückgewichen.
Vielleicht spricht es jetzt.
Es tut sich immer eine Tür ins Leben auf.
Jeder Tag ist eine Tür.
Sogar das Versäumte hat noch eine Chance,
wenn du auf diese Stimme hörst,
die dich in das Haus deines Lebens führen will,
in dem du endlich
– wie lange wolltest du es schon? –,
dich dir zukehrst wie ein Mensch,
der sich liebt.“
(„Wie ein Mensch, der sich liebt“, Ulrich Schaffer)


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