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In meinem Freundeskreis sammeln wir gerne Sätze, die man auf ein Shirt drucken sollte. Ganz weit vorne liegt aktuell die Aussage: „Dir fehlen so viele Latten am Zaun, du solltest überlegen eine Hecke zu pflanzen.“ Dieses Shirt möchte ich gerade gerne so einigen in der Weltpolitik schenken. Und parallel dazu brauche ich ein Shirt, auf dem steht: „Gelassenheit ist unsere größte Stärke.“ Anders kann ich die momentane weltpolitische Lage nicht ertragen.
Am heutigen Aschermittwoch fällt mir ein dritter Satz ein. Er wird gesprochen, wenn in der Kirche den Gläubigen ein Kreuz aus der Asche von verbrannten Buchsbaumzweigen auf die Stirn gezeichnet wird: „Mensch bedenke, dass du Staub bist und zum Staube zurückkehrst.“
Wir alle werden irgendwann sterben. Angesichts dieser Tatsache ist Größenwahn nicht angezeigt. Jedem Menschen werden einige Jahre auf diesem Planeten geschenkt. Unzählige waren vor mir da, unzählige kommen nach mir. Ich bin nicht mehr oder weniger wichtig als irgendeiner dieser anderen Menschen. Und alle haben ganz ähnliche Bedürfnisse: Wir möchten essen, schlafen, einen Ort zum Leben haben. Wir möchten geliebt werden, Freundinnen und Freunde haben.
Darum müssen wir uns also kümmern: wir alle mit- und füreinander. Von meinem christlichen Glauben her würde ich sagen: es geht darum, einander zu dienen. Ich kümmere mich um andere, helfe, wenn ich helfen kann.
Die kommenden Wochen bis zum Osterfest sind zum Üben ideal. Leider kann ich zwar nicht direkt die Weltprobleme lösen – ich kann aber klein anfangen und mich vorarbeiten: Anstatt laut zu maulen in der Warteschlange, nutze ich die Zeit für eine gesunde aufrechte Rückenhaltung. Ich puste mich nicht auf und schreie los, wenn mir jemand meine Parklücke wegnimmt. Und vielleicht schaffe ich es und schenke einem fremden Menschen auf der Straße im Vorrübergehen einfach mal ein Lächeln.
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Karneval ist noch nie mein Thema gewesen. Als Kind fand ich es ganz witzig mich zu verkleiden: Im Kindergarten als Fliegenpilz, in der Grundschule als Prinzessin. Das war’s dann aber auch. Daher nehme ich mir am Rosenmontag am liebsten frei und mache eine kleine Auszeit. Da in Trier an dem Tag aber Halligalli und Ausnahmezustand herrscht, fahre ich lieber etwas raus in die Eifel.
Letztes Jahr bin ich am Weinfelder Maar gewesen. Es ist eher klein, aber die Farben des Wassers sind so wunderschön: mal ganz türkis, dann dunkelblau oder hellblau. Es gibt alte Bäume, die mit ihren Zweigen bis ins Wasser hineinreichen.
Ich sitze schon eine Weile auf einer Bank und schaue fasziniert auf die Farben im Wasser, als sich eine Frau zu mir setzt. Sie sagt: „Es ist so schön hier. So schön ruhig.“ Wir unterhalten uns ein wenig. Sie ist rausgefahren, weil es ihr an diesem Tag in Koblenz zu laut ist. Dabei mag sie Karneval. Sie ist mit ihrem Mann schon oft auf Sitzungen gewesen. Vor acht Monaten ist er gestorben. Einfach so. Sie sagt: „Die Fröhlichkeit an diesem Tag ist mir heute zu laut. Meine Fröhlichkeit kommt erst langsam wieder. Sie ist noch ganz leise.“ Deswegen verbringt sie den Tag lieber draußen, abseits des Rummels in den Städten und Dörfern.
Da es im Sitzen auf der Bank recht frisch ist, gehen wir doch lieber weiter. Dabei erzählt sie mir noch von ihrem Plan für den Abend. Ein Lieblingsfilm von ihr und ihrem Mann sei der Film über die Kindheit von Hape Kerkeling gewesen, dessen Mutter starb als er noch in der Grundschule war. Und ihre Lieblingsszene sei, wo der kleine Hans-Peter verkleidet eine andere Frau nachmacht. Er winkt dabei mit einem leeren Eierlikörglas und sagt: „Ich nehme gerne noch ein Eierlikörchen. Das Leben muss doch irgendwie weitergehen.“
Die Frau lächelt mich an und sagt dann zum Abschied zu mir: „Den Eierlikör habe ich schon mal kaltgestellt.“
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Der Bauherr einer Trierer Baustelle hat mich als Imkerin gebeten, mal einen Blick auf seine Wand zu werfen, da sollen Insekten wohnen. Ich bin überrascht: „Tatsächlich! Da wohnt ein Volk von Honigbienen.“ Allerdings wird deren Einflugloch durch die Bauarbeiten bald verschlossen. Daher fragt der Bauherr: „Was können Sie tun?“
„Nun ja: Erst muss man die Wand öffnen und dann das Nest als Ganzes entnehmen. Das ist viel Arbeit und es ist teuer. Zudem ist unklar, ob das Volk vital ist oder ob es nur noch eine kleine Gruppe ist, die den Winter eh nicht überleben würde.“
Ich gehe davon aus, dass er meinen Vorschlag ablehnt und stattdessen einen Kammerjäger beauftragt, das Volk zu töten. Aber der Bauherr sagt nur: „Dann machen wir das so.“
Zwei Wochen später ist es so weit. Ein Bauarbeiter schneidet die gemauerte Wand mit einer Steinsäge auf. Dann werden Steine mit einem Bohrhammer aus der Wand geschlagen. Waben werden sichtbar. Der Bauarbeiter arbeitet sich weiter vor. Entfernt noch eine Lage Steine. Plötzlich fliegen einige wenige Bienen. Ich schaue in das Loch in der Wand: „Ja, hallo, da seid ihr ja.“ Hinter einer dünnen Mörtelschicht sehe ich eine Traube an Bienen. Etwas verstaubt, aber munter. Vorsichtig bette ich sie in ihr neues Zuhause um.
Bauarbeiter und Bauherr sind fasziniert von dem Kunstwerk in der Wand, das diese kleinen Bienen sich dort gezimmert haben.
Es ist immer noch nicht sicher, ob die Bienen den Winter überleben werden. Ein Kammerjäger wäre billiger gewesen. Aber hier gilt kein Kosten-Nutzen-Kalkül. Hier fühlt jemand mit und respektiert die Tiere – hier lebt jemand Werte.
Dieses Erlebnis ermutigt mich. Denn als Christin sehe ich das auch so: Jedes Leben – Tier wie Mensch – ist wertvoll.
Und es gibt unzählige Menschen, die das leben. Man findet sie zum Beispiel, wenn sie sich beruflich wie ehrenamtlich, um alte und kranke Menschen kümmern. Oder wenn sie Jugendlichen bessere Startbedingungen ermöglichen.
Dem Gegenüber das Gefühl geben, wertvoll zu sein. Jeder und jede kann das. Und unsere Welt kann es gerade dringend gebrauchen.
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Am Montagabend wird getanzt. Mit meiner Freundin Maria-Elena besuche ich einen Sportkurs. Zu lateinamerikanischer Musik versuchen wir die Tanzschritte der Trainerin nachzumachen und dabei nicht über die eigenen Füße zu stolpern.
Das Lied von einem brasilianischen Sänger hat so seine Tücken. An einer Stelle dreht man sich um die eigene Achse. Ein Bein bleibt stehen. Das andere hüpft sozusagen außen drum herum. Dazu bewegt man die Arme auf Schulterhöhe leicht wedelnd mit.
Während ich mich versuche zu drehen, bleibt mein Blick an meiner Freundin hängen. Ich bin fasziniert, wie sie formvollendet und völlig im Takt die Drehung meistert. Überhaupt scheint ihr dieses Lied eine große Freude zu machen. Sie wirkt so ganz bei sich selbst.
Das ist besonders. Denn man muss wissen: Maria-Elena ist keine Tanz-Maus. Das sagt sie selbst.
Nach dem Kurs spreche ich sie im Auto auf dieses Lied und meinen Eindruck an: „Du sahst toll aus. Du bist also doch eine Tanz-Maus!“ Sie ist etwas verlegen. „Dieses Lied erinnert mich an meinen Papa. Wenn es im Radio kam, machte mein Papa es immer ganz laut und sang mit.“ Ihr Vater ist vor sechs Jahren gestorben.
Ich glaube, mich fasziniert diese Leichtigkeit, die sie beim Tanzen ausstrahlt. Wenn wir ab und zu auf ihren Papa zu sprechen kommen, erzählt sie, dass er ihr oft fehlt: der Austausch mit ihm, seine Einschätzung und Unterstützung. Die Trauer um seinen Verlust ist heute immer noch da. Wie vor sechs Jahren, als er gestorben ist. Die Trauer hört also bei ihr – wie auch bei den vielen Menschen, die ich in meiner Arbeit begleite – nicht einfach auf und ist dann weg. Die Trauer verändert sich aber über die Jahre. Sie ist nicht immer nur schwer wie oft ganz zu Beginn.
Die Trauer meiner Freundin bekommt im Tanzen eine erstaunliche Leichtigkeit. Sie fühlt sich mit ihrem Vater im Tanz verbunden und nah.
Als ich vor ihrem Haus anhalte, um sie aussteigen zu lassen, zieht sie noch einen kleinen Zettel aus der Tasche. Es ist der Zettel aus einem Glückkeks. Darauf steht:
„Wo kein Schnee liegt, darf getanzt werden!“ Wir müssen beide lachen – mit Tränen in den Augen.
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Muscheln und Perlen verbinde ich mit der Südsee. Umso erstaunter bin ich, als ich lese: im August wurden hunderte Flussperlmuscheln in den luxemburgisch-deutsch-belgischen Grenzfluss Our eingesetzt. Das ist etwa eine gute Autostunde von Trier entfernt.
Wenn ich mir die Lebensweise der Flussperlmuschel genauer anschaue, kann ich nachvollziehen, warum sich Gott nach der Schöpfung auf die Schulter geklopft und befunden hat: „Alles war sehr gut.“ So leben die Larven der Muschel u.a. 9 Monate in den Kiemen von Bachforellen bis sie als Mini-Muschel abfallen. Und so eine Muschel kann hierzulande ganze 100 Jahre alt werden. Es ist immer wieder unglaublich, wie sich Lebewesen im Laufe der Evolution entwickelt haben und miteinander unterwegs sind!
Tatsächlich lebten im Fluss Our über Jahrhunderte sehr große Bestände dieser Muschelart. Diese wurden aber geplündert und die verschlechterte Wasserqualität rottete sie fast ganz aus.
Eigentlich wären alle Menschen damit ausgelastet, sich um den Erhalt dieses Planeten zu kümmern. Artensterben und Klimawandel sind allgegenwärtig. Aus der Perspektive meines christlichen Glaubens lautet für mich der Arbeitsauftrag Nr. 1: Diese Schöpfung beschützen und pflegen.
Wenn ich aber die Nachrichten anschaue, hauen sich aktuell alle nur gegenseitig auf die Mütze. Also was tun: Kopf in den Sand stecken? Ohren auf Durchzug stellen?
Papperlapapp! Es gibt jede Menge Beispiele von Menschen, die sich nicht hängen lassen, sich nicht entmutigen lassen – so wie die Menschen, die sich hier für die Flussperlmuscheln engagieren. Was kann ich also tun? Konkret fällt mir zum Beispiel der Aktionstag zum Aufräumen des Moselufers ein. Jedes Jahr im September sammeln Freiwillige – ausgestattet mit einem Müllsack und einer Zange – sämtlichen Müll am Moselufer ein. Darüber hinaus gibt es in Rheinland-Pfalz aktuell etwa 720 Bachpatenschaften. Dort engagieren sich Schulklassen, Vereine und Einzelpersonen vor Ort für ihren Bach und seine Pflege und Sicherung.
Perlen sind schön und wertvoll. Die eigentliche Perle ist aber die Muschel und mit ihr die gesamte Schöpfung.
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Dieses Jahr ist Schneckenjahr. Es ist oft feucht oder nass und so tummeln sie sich überall. Schnecken mit Häuschen mag ich, Nacktschnecken mag ich nicht. Mehrfach haben sie das Hochbeet abgefressen. Neulich saßen 5 Nacktschnecken zusammen auf dem Brokkoli. Er hat wohl gut geschmeckt. Meinem Freund Toni liege ich mit dem Thema ständig in den Ohren. Als er mich anruft, klingt er aufgeregt: „Hast du schon von den Giftnacktschnecken gehört? Die sollen jetzt vermehrt auftreten.“ Ich bin irritiert. Von Giftnacktschnecken weiß ich nichts. „Doch, doch. Und die Menschen, die ihnen begegnet sind, treffen sich inzwischen im Stuhlkreis zum Gespräch. Also um die Begegnung zu verarbeiten.“
Ich höre ein unterdrücktes Glucksen in seiner Stimme. Dann schüttet er sich aus vor Lachen. „Nörgel nicht immer an der Nacktschnecke rum. Du verhungerst schon nicht und für ihre Optik kann sie nichts. Hätte sie ein rosa Glitzeroutfit hätte sie auch mehr Follower.“
Irgendwie hat er ja recht. Nacktschnecken haben keine Lobby. Dabei haben wir zwei etwas gemeinsam: Sie ist von Gott geschaffen genauso wie ich. Zudem ist die Schnecke offensichtlich in der Evolution ein Erfolgsmodell: Es gibt über 80.000 Arten – die Tiere kommen mit ganz verschiedenen Bedingungen zurecht, passen sich an. Das Verhalten des Menschen hingegen gefährdet aktuell den gesamten Planeten.
Vielleicht brauche ich eine andere Perspektive auf die Nacktschnecken: So erschreckend es ist, wie viel sie in einer Nacht verdrücken, so eindrucksvoll ist es, wie sie essen. Auf ihrer Raspelzunge befinden sich tausende von Zähnen. Damit können sie so viel Druck ausüben, wie ein industrieller Wasserstrahlschneider benötigt, um Steine zu schneiden. Echt cool!
Gut, Freunde werden wir so schnell nicht. Erstmal bleibt die Nacktschnecke eine Aufgabe für mich: Wir sind beide in diese Welt gestellt und werden ja wohl miteinander klarkommen. Schließlich haben wir noch eine Gemeinsamkeit: Wir mögen dasselbe Essen.
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Zur Vorbereitung einer Beerdigung treffe ich mich mit dem Neffen des Verstorbenen. Die beiden haben sich gut gekannt. Und doch scheint es so, als gäbe es da nichts zu berichten von diesem Leben, das doch immerhin über 80 Jahre gelebt wurde. Keine Kinder und Enkel, keine Hobbies, keine größeren Urlaube. Der Neffe meint: „Ich habe mich oft gefragt, was er eigentlich den ganzen Tag macht.“
Irgendwie bekomme ich im Gespräch den Eindruck: sein Onkel hat sich diese Frage wohl eher nicht gestellt. Er habe ganz oft gesagt: „Ich bin zufrieden.“ Und offensichtlich hat er dies so gesagt, dass der Neffe dachte: Er ist auch tatsächlich mit sich und seinem Leben zufrieden. Er hat also nicht die Idee vermittelt: er langweile sich oder vermisse etwas im Leben.
Er war wohl zufrieden mit sich, seiner drei Zimmer Wohnung mit Garten, einem alten Golf und mit seinem gewohnten Tagesablauf. Und dabei hatte diese Zufriedenheit nichts mit Selbstgefälligkeit zu tun: Wenn jemand seine Hilfe brauchte, war er stets zur Stelle.
Je länger ich darüber nachdenke, umso bemerkenswerter finde ich diese Aussage „ich bin zufrieden“. Gesellschaftlich hat man eher den Eindruck, es geht immer um „höher – schneller – weiter“. Viele Menschen wirken unruhig und getrieben: Mehr Besitz, weitere Reisen, immer wieder Neues und Spannendes erleben. Gleichzeitig sehnen sie sich aber nach einer Auszeit und Ruhe.
Das erinnert mich an ein schon sehr altes Zitat von dem Arzt und Theologen Johannes Scheffler, den manche auch als Angelus Silesius kennen. Der sagt: „Halt an, wo läufst du hin? Der Himmel ist in dir.“
Vielleicht hat innere Zufriedenheit ganz viel von dieser Idee eines Himmels: Also von innerer Ruhe, Zufriedenheit und Gelassenheit und einem Ort, an dem ich einfach gerne bin. Und so finde ich es sehr beneidenswert, wenn man wie der Verstorbene in seinem Leben sagen kann: „Ich bin zufrieden“.
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Ich bin in der Fußgängerzone unterwegs. Eine Frau sitzt auf einer Bank und spricht mich an: „Haben Sie 50 Cent für mich?“ Bevor ich antworten kann, plärrt eine andere Frau hinter mir: „Geh arbeiten! Dann haste Geld.“
Die Szene geht mir nicht aus dem Kopf.
Ich erzähle meinem Freund Toni davon. Er stöhnt und meint: „Was ist das denn für ein doofer Spruch!? Wenn mich jemand in der Stadt anspricht und nach Geld fragt, unterscheide ich: Ist es jemand, der zu einer organisierten Gruppe gehört, bei der die einzelne Person nur ausgebeutet wird oder ist es jemand, dem es offensichtlich einfach nicht gut geht und der Unterstützung braucht. Im letzten Fall gebe ich auch was.“ Und nach einer Pause stellt er fest: „Na, du hast ihr ja bestimmt das Geld gegeben!“ Da wir am Telefon sprechen, sieht er nicht wie ich rot anlaufe. Es ist mir sehr unangenehm, aber ich muss zugeben: „Nein, habe ich nicht.“
Ich bin beeindruckt, dass Toni da eine vorbereitete und überlegte Meinung zu dem Thema hat. Ich glaube, das brauche ich auch. Denn es hilft mir in der konkreten Situation. Ich fühle mich in der Regel überrumpelt und im falschen Moment angesprochen, da ich meist eilig von A nach B unterwegs bin. Aber so wird nie „der richtige Moment“ kommen. Und mal ganz im Ernst: Natürlich habe ich die Zeit, um mich der Frau und ihrer Frage zuzuwenden. Vermutlich ist es mir einfach auch etwas unangenehm. Aber wenn es mir schon unangenehm ist – wie unangenehm wird es vermutlich erst der anderen Frau sein.
Mir fehlte mal ein Euro für den Parkscheinautomaten. Es hat gedauert, bis ich mich getraut habe, Menschen anzusprechen und zu fragen, ob sie mir einen geben. Ich habe mich selten so dermaßen unwohl gefühlt. Und bei mir war es nur eine einzelne Situation. Die Frau muss womöglich schon lange mit Momenten dieser Art umgehen. Das muss und vor allem kann ich nicht bewerten, aber womöglich kann ich beim nächsten Mal weiterhelfen. Vielleicht mit 50 Cent, vielleicht frage ich aber auch einfach, ob wir zusammen in der nächsten Bäckerei etwas zu essen oder trinken kaufen wollen.
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Letzte Woche bekam ich von meiner Freundin Jutta ein Brot geschenkt. Sie backt regelmäßig selbst Brote mit eigenem Sauerteig. Es sind kleine Kunstwerke: der Duft erinnert mich an meine Kindheit, wenn ich in der kleinen Bäckerei den Duft der Backstube schnupperte. Und die gebräunte Kruste bildet zusammen mit dem weichen Innenleben die ideale Kombi in meinem Mund.
Abends kommt noch mein Freund Toni kurz vorbei. Ich habe nichts vorbereitet. Daher schneide ich vom Brot eine dicke Scheibe ab. Er streicht Butter und Honig drauf und isst es schweigend. Nach der Hälfte der Scheibe sagt er: „Mein Tag war echt übel. Aber das hier ist richtig gut!“ Er grinst mich an.
Ich denke: Ein gutes Brot ist oft schon ganz viel. Bei einem Brot zusammensitzen, essen, sich unterhalten. Brot verbindet. Brot stärkt. Und vielleicht tröstet es auch bisweilen.
Dafür braucht es gar nicht viel: Mehl, Wasser, Sauerteig, Salz. Und es braucht Zeit. Wahrscheinlich der entscheidende Faktor. Ein gutes Brot braucht viel Zeit und Ruhe.
Brot ist für viele Menschen nach wie vor eines der ganz grundlegenden Nahrungsmittel. Das merke ich auch immer wieder, wenn ich einmal im Monat auf dem Markt beim Bäcker aushelfe. Oft kommen Kunden und Kundinnen, die angestrengt auf der Suche nach gutem und man kann vielleicht sagen „ursprünglichem“ Brot sind.
Brot spielt auch in meinem Glauben eine wichtige Rolle. Seit 2000 Jahren beten Christinnen und Christen im „Vater Unser“ die Bitte: „unser tägliches Brot gib uns heute“. Es ist die Bitte um das, was der Mensch jeden Tag braucht. So denke ich bei der Bitte auch an all die Menschen, die hungern und für die Brot nach wie vor nicht selbstverständlich ist. Die Bitte geht aber auch über das konkrete Brot – als Nahrung für den Körper – hinaus. Ich brauche als Mensch auch täglich Nahrung für meinen Geist und meine Seele: dazu gehören Momente für mich allein und mit anderen zusammen, Momente, in denen ich staunen kann, Momente, in denen ich mich wertgeschätzt fühle.
Am schönsten natürlich kommt beides zusammen: Wie eben bei einem Honigbrot mit einem guten Freund.
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Ich gehe öfter rückwärts. Bei meiner Arbeit in der Imkerei müssen häufig recht große und schwere Gegenstände – wie zum Beispiel Bienenwohnungen – hin und her getragen werden. Meistens geht das nur zu zweit. Beim Anheben sage ich jedes Mal: „Ich gehe rückwärts!“
Die helfende Person sagt mir dann, wie ich gehen muss. Hinweise wie „mehr rechts“ oder „mehr links“ helfen mir allerdings nicht, da ich eine Rechts-links-Schwäche habe. Daher arbeiten wir meistens mit Kopfbewegungen. Das zeigt mir dann die Richtung an.
Am Anfang ist das eine Herausforderung gewesen. Ständig habe ich versucht, mich umzuschauen, aber beim Tragen geht das fast gar nicht. Es ist schwierig für mich, nicht zu sehen, wo ich hingehe und die Kontrolle abzugeben. Abzugeben an die andere Person. Darauf zu vertrauen, dass sie alles sieht und Hindernisse rechtzeitig erkennt.
Je öfter ich es allerdings inzwischen mache, umso mehr gefällt es mir.
Mein Gehirn arbeitet anders – es ist ungewohnt für meine Sinne und Muskeln. Ich höre mehr hin und reagiere stärker auf leichte Bewegungen der anderen Person. Indem ich mich auf die andere Person verlasse, stärkt das Rückwärtslaufen meine Fähigkeit meinem Gegenüber zu vertrauen.
Und tatsächlich verändert sich beim Rückwärtslaufen mein Blick auf die Welt etwas. Ich schaue auf den Weg, der hinter mir liegt. Im direkten Sinn auf die Wegstrecke, im übertragenen Sinn auf das, was ich insgesamt alles bewältigt, geschafft und erlebt habe: schwierige Zeiten wie die Pandemie, den Tod meines Opas, ebenso wie wunderschöne Momente, als ich zum Beispiel Gleitschirm geflogen bin oder im Mai in einem Feld aus Butterblumen gelegen habe.
Beim Blick auf das, was hinter mir liegt, bin ich oft überrascht, was ich tatsächlich alles schon geschafft habe. Manchmal allein – ganz oft mit anderen zusammen oder auch im Vertrauen auf Gott. Das schenkt mir wiederum mehr Vertrauen und Zuversicht in mich selbst. Und in die Wegstrecke, die vor mir liegt.
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