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SWR4 Sonntagsgedanken

12SEP2021
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Gestern vor 20 Jahren haben Terroristen das World Trade Center zum Einsturz gebracht. Fast 3000 Menschen sind damals gestorben. Ich weiß noch, wie ich an diesem Tag aus der Schule kam und meine Mutter gesagt hat: „Das World Trade Center ist weg.“ Am nächsten Tag in der Schule war mein amerikanischer Klassenkamerad kaum ansprechbar, so geschockt war er. Die ganze Schülerschaft ist zu einer Schweigeminute aufgestanden. Und ein paar Tage später haben wir eine Friedensmahnwache auf dem Schulhof gehabt.

Damals ist mir zum ersten Mal klargeworden, dass meine eigene Zukunft bedroht sein könnte. Mein Gefühl von Sicherheit hat einen Knacks bekommen und mein Vertrauen in die Menschen auch.

Und ich glaube, das ging nicht nur mir so. Wenn ich auf die letzten 20 Jahre zurückblicke dann sehe ich: Mit jeder neuen Krise wird der Ruf nach Sicherheit lauter. Öffentliche Plätze werden videoüberwacht, die Kontrollen an Flughäfen haben sich verschärft – alles um sich vor mögliche Gefahren durch andere Menschen zu schützen. Offensichtlich fällt es nicht leicht anderen Menschen zu vertrauen.  Seit 20 Jahren – so ist mein Eindruck – wird Sicherheit immer wichtiger. Vertrauen immer schwerer.

Aber das geht nicht spurlos an den Menschen vorbei. Ich merke das vor allem bei den jungen Leuten, mit denen ich arbeite. Vor kurzem habe ich Jugendliche zwischen 14 und 21 in einem Lehrgang begleitet. Unter anderem haben wir das Thema Kindeswohl behandelt. Dazu gehört auch, zu erklären, was Kinder und Jugendliche brauchen, um an Leib und Seele gesund aufzuwachsen. Ein wichtiger Punkt auf der Liste: vertrauensvoller Umgang mit anderen Menschen. Pedro, 19 Jahre alt, hat reingerufen: „Ja, das ist natürlich super möglich in unserer Generation.“ Er ist richtig aufgebracht gewesen und hat seiner Angst in diesem kurzen Moment Raum gegeben. Und dann hat er erklärt: „Wie sollen wir denn Vertrauen in andere Menschen haben? Überall erlebe ich Misstrauen. Außerdem: Wir erben die Welt in einem sehr schlechten Zustand – und obwohl die Zuständigen immer wieder behaupten, dass sie etwas ändern bin ich mir nicht sicher, dass sich wirklich was tut.“

Seit dem Gespräch mit Pedro frage ich mich: geht das überhaupt: Vertrauen ohne Sicherheit? Menschen brauchen vertrauensvolle Beziehungen zu anderen Menschen um gesund an Leib und Seele zu bleiben. Wie kann das gelingen, wenn ich mir nicht sicher sein kann ob sie mein Vertrauen verdient haben. Ob sie halten was sie versprechen. Ob sich was ändert, zum Guten.

 

Jesus hatte von seinen Jüngern gefordert: „Vergebt einander. Und wenn einer Dir sieben Mal am Tag etwas tut und immer neu versichert „Ich ändere mich“ – dann vergib auch sieben Mal.“

Das ist ein ganz schöner Anspruch: immer vergeben. Immer wieder neu vertrauen. Selbst dann noch, wenn ich 7 Mal enttäuscht werde. Selbst dann, sagt Jesus ist es wichtig zu vertrauen. Darauf, dass der andere sich ändert. Darauf, dass die Zukunft anders – besser werden kann.nDie Jünger hören das und bitten Jesus deshalb: „Stärke unseren Glauben!“
Im griechischen Text steht für das Worte Glaube ein Wort, das auf Deutsch Vertrauen, aber auch Sicherheit und Verlässlichkeit heißen kann.

Wenn ich mir die Jünger jetzt vorstelle, dann denke ich: sie haben sich Sicherheit gewünscht. Sie wollten sein wie Jesus. Sie wollten sichergehen, dass sie das mit dem Vergeben auch schaffen. Verlässlichkeit.

Aber Jesus macht ihnen klar: 100prozentige Sicherheit gibt es nicht. Auf andere Menschen zu zugehen bleibt immer auch ein Wagnis. Auf seiner Wanderschaft hat er immer wieder Menschen getroffen, die sich in der Not an ihn gewandt haben. Mit der Bitte, gesund zu werden. So stellt sich Jesus Glauben vor: Als tiefes Vertrauen. Glauben heißt für ihn: immer wieder Vertrauen zu wagen. Selbst dann, wenn ich 7mal enttäuscht wurde. In der Zeit mit Jesus, so stelle ich mir das vor, haben die Jünger genau das geübt.

Und heute: Auch heute muss man das üben, fürchte ich. Immer wieder. Und wie das gehen kann, das sehe ich auch bei den jungen Leuten, mit denen ich arbeite. Ich habe über den Unterschied zwischen Sicherheit und Vertrauen mit Pedro, gesprochen. Er hat gesagt: „Mein Glaube gibt mir das Gefühl, nicht allein zu sein. Auch, wenn es manchmal schwer ist. Mein Glaube hilft mir zu vertrauen. Ohne Angst auf Menschen zu zugehen. Aber auch Vertrauen zu haben in diejenigen, die in der Politik Entscheidungen fällen. Darauf, dass sie zuhören und sich überzeugen lassen.“

Pedro engagiert sich politisch. Er tritt ein für das woran er glaubt. Und dafür, dass sich was ändern kann – zum Guten.  
Ich kann das nur empfehlen: Denn, Vertrauen ist wichtig um gesund zu bleiben an Leib und Seele. Das gilt nicht nur für Kinder, sondern in jedem Lebensalter. Ich wünsche Ihnen immer wieder den Mut zu vertrauen – selbst wenn sie 7x enttäuscht worden sind.

Ich glaube so kann sich noch 20 Jahre nach dem Anschlag auf das world trade center etwas zum Guten wenden.
Ich wünsche Ihnen einen vertrauensvollen Sonntag und eine gute Woche.

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SWR4 Sonntagsgedanken

06JUN2021
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Ich sehe es noch vor meinem inneren Auge. Ich - damals ein Teenager - stehe in Vaters Keller. Am Boden um mich herum Werkzeuge, Farbdosen, Fliesenscherben und vor allem Nägel und Schrauben. In allen Größen und Dicken. Wochenlang hatte mein Vater mir gesagt, dass ich das Schwerlastregal ausräumen müsse. Ein Regalboden war bedenklich gebogen. Und jetzt war er eingeknickt, und ich musste alles einzeln auflesen.

Mein Vater hatte es mir ja mehrmals aufgetragen. Er konnte das aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr. Ich habe es aber vor mir hergeschoben. Es waren doch seine Werkzeuge – was hatte ich damit zu schaffen? Heute denke ich: Ich hätte es einfach gleich machen können. Es hätte so einfach sein können: Alles in den Koffern, Schäferkästchen und Tüten greifen und umsortieren. Stattdessen hat sich die Arbeit verdoppelt.

Das war mir eine Lehre fürs Leben. Heute bin ich jemand, der sich am liebsten direkt daran macht, Dinge zu erledigen. Oder doch wenigstens einem Zeitplan folgt. Das klappt nicht immer. Aber ich habe im Hinterkopf behalten, dass ich mitunter einen Preis bezahle, wenn ich etwas aufschiebe.

Weil ich die Alltagsbelastungen gerne hinter mich bringe, schiebe ich dann aber oft Kontakte zu meiner Familie und meinen Freunden vor mir her. Vor allem schiebe ich Besuche bei meiner Mutter auf die lange Bank.

Immerhin: ich weiß, dass ich die Besuche bei ihr auf die lange Bank schiebe. Und ich weiß dann auch, dass ich mich mal melden sollte. Und dann wäge ich ab: Sollte ich die Mutter anrufen? Aber der Alltag ist so anstrengend, eigentlich hätte ich gerne ein Stündchen Ruhe. Und dann entscheide ich mich doch fürs Sofa. Und das holt mich dann ein. Bei meiner Mutter ist es geradezu unheimlich. Wenn ich mal in Ruhe da sitze und lese, ruft sie an. Unter Garantie. Da ist sie hartnäckig.

Und das ist auch gut so – und tief im Herzen bin ich auch dankbar dafür. Wenn ich sie besuche gibt es gutes Essen, viel zu lachen, wir machen Ausflüge. Ich weiß, dass sie es gut mir meint. Zu den Besuchen gehört aber auch immer eine To-Do-Liste von Gartenarbeit. Gartenarbeit ist nicht mein Fall. Aber ich freue mich, wenn sie sich an ihrem Garten freut. Von daher fahre ich gerne zu ihr, auch wenn es Arbeit bedeutet.

Die Menschen zur Zeit der Bibel kannten dieses Phänomen auch. Eine Geschichte erzählt davon.
Der Prophet Jona bekommt von Gott den Auftrag, die Großstadt Ninive zu besuchen. Die Menschen dort sollen ihr Leben ändern. Sie sollen sich bessern. Gott droht mit Konsequenzen: Wenn Ihr Euer Leben nicht ändert und bessert, werde ich Eure Stadt vernichten.

Jona will diesen Auftrag nicht erfüllen. Warum soll er sich um eine fremde Stadt kümmern? Und so besteigt Jona das nächstbeste Schiff. Er will so weit weg wie möglich. Auf See kommt ein Sturm auf. Jona weiß: Gott hat diesen Sturm geschickt, um mich aufzuhalten. Jona lässt sich über Bord werfen und wird von einem großen Fisch verschluckt. Drei Tage später spuckt ihn der Fisch wieder aus. Jona macht sich an seine Aufgabe. Geläutert zwar, aber es wird ein voller Erfolg. Die Einwohner von Ninive ändern sich. Die Stadt wird nicht vernichtet.

Für die Menschen zur Zeit der Bibel war klar: Unser Tun hat Konsequenzen. Für einzelne, aber auch für viele. Jona hat das doppelt lernen müssen. Seine Verweigerungshaltung hat ihm drei Tage Fischbauch eingebracht. In Ninive konnte er lernen, dass seine Botschaft die Einwohner verändert hat. Sie dürfen glücklich weiterleben.

Die Erzählung von Jona zeigt mir, dass es sich lohnt, seinen Mitmenschen nicht aus dem Weg zu gehen. Gott schickt uns zu anderen hin, weil das gute Konsequenzen hat! Und die spielen sich eben in den Beziehungen ab, die wir haben.

Mein Vater war damals nicht böse, als das Schwerlastregal zusammengebrochen war, aber ich hätte ihm eine Freude machen können. Und wenn ich meine Mutter lange nicht besucht habe, dann ruft sie hartnäckig an. Und das, dass sie mich immer hartnäckig anruft, ist das doch wie ein Fingerzeig. Dass ich nämlich wieder etwas vor mir herschiebe, was doch für alle gute Konsequenzen hätte.

Die Geschichte von Jona motiviert mich, den guten Konsequenzen mehr Chancen zu geben. Weil ich darauf vertrauen darf, dass Gott sich für die Menschen gute Konsequenzen wünscht.

Haben Sie vielleicht Lust bekommen, das auch auszuprobieren? Vielleicht fällt Ihnen ja jemand ein, den Sie schon längst mal anrufen wollten.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen schönen Sonntag und eine gute Woche.

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SWR4 Sonntagsgedanken

25APR2021
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Teil 1– Auferstehung scheint unglaublich

Drei Wochen ist es her, da haben Christinnen und Christen Ostern gefeiert. Auferstehung: Jesus war tot und ist auferstanden von den Toten. Können Sie das glauben? Oder halten Sie es für unglaublich, dass Jesus auferstanden ist?

Wenn es Ihnen schwer fällt das zu glauben, dann sind sie in guter Gesellschaft. Schon im Neuen Testament wird erzählt, dass die Menschen in Europa die Geschichte unglaublich fanden. Der Apostel Paulus hatte deshalb zunächst wenig Erfolg beim Missionieren.

Paulus ist in Athen gewesen. Athen war damals schon eine Großstadt. Und wie das in den pulsierenden Metropolen so ist: Die Menschen sind begierig nach Neuem. Besonders, wenn dem Neuen ein Hauch Exotik anhängt. Und Paulus ist exotisch: Er erzählt von einem fremden Gott, den die Athener noch nicht kennen. Noch dazu kommt Paulus aus Palästina. Mehr Exotik ist kaum möglich. Klar: So einer muss direkt auf den Areopag gebracht werden.

Der Areopag ist in Athen eine Art Stadtrat gewesen. Zugang hatten nur wenige: Reiche, höhere Beamte, uralte Dynastien. Paulus muss klar gewesen sein: Wenn er vor diesen Menschen mit Erfolg predigen würde, dann stünden ihm in Athen alle Türen offen.

Paulus beginnt seine Predigt und erzählt, dass die Welt von einem großen Gott geschaffen wurde. Die Athener nicken dazu. Er sagt, dass Gott nicht in Tempeln oder Kirchen wohnt, sondern überall. Die Athener nicken dazu. Er erinnert daran, dass Gott jedem Menschen seine Lebensspanne zugeteilt hat. In dieser Zeit soll man diesen Gott suchen. Die Athener nicken dazu.

Er erzählt, dass Gott den Menschen Jesus vom Tod auferweckt hat. Da hören die Athener auf zu nicken. Sie fangen an über ihn zu spotten. „Auferweckt von den Toten?“ das kann nicht wahr sein. Ihre Erfahrung ist: Tot ist tot.

Und für viele Menschen ist das bis heute so. Es ist leichter Dinge zu glauben, die vor Augen liegen. Aber die Geschichte eines leeren Grabes vor 2000 Jahren? Unglaublich.

So hat es auch Saskia erlebt. Wir haben zusammen einen Ostergottesdienst vorbereitet. Es ging um ein Foto von einem leeren Tisch mit leeren Stühlen. Saskia hat angefangen zu erzählen, was ihr dazu einfällt. „Das erinnert mich an die leeren Restaurants.“ hat sie gesagt. Alle haben dazu genickt. „Das erinnert mich daran, dass es zur Zeit kein Abendmahl gibt.“ Alle haben dazu genickt. „Es sagt mir, dass wir uns weiter beim Kontakt zurückhalten sollen, damit die Tische wieder voll werden.“ Alle haben dazu genickt.

Und dann hat sie gesagt: „Es gibt mir Hoffnung, weil ich glaube, dass wir nach dem Tod mit Jesus gemeinsam am Tisch sitzen und ihn da wieder sehen.“ Da haben die anderen aufgehört zu nicken und sind verstummt. Irgendwann hat Clara gesagt: Das ist mir zu abstrakt. Können wir nicht über etwas Konkretes sprechen?“

Teil2  – Auferstehung ist aber da

Clara hat dann von ihrer Großmutter erzählt. Die hat schon ihre zweite Impfung bekommen. Da hat sie gleich ihre Freundin angerufen und endlich konnten sie sich wieder treffen. Sie haben Kuchen gegessen und Kaffee getrunken, haben sich umarmt und erzählt. Nach über einem Jahr. Clara hat gesagt: „Da ist so eine Last abgefallen. Das war das größte Geschenk. So stelle ich mir Auferstehung vor.“

Ich glaube, dass die Geschichte vom leeren Grab mit der Geschichte von Claras Großmutter etwas zu tun hat. Auferstehung heißt ja, das etwas zu Ende gegangen ist und etwas Neues beginnt. Christen und Christinnen glauben, dass das am Ende des Lebens so ist. Dass neues Leben beginnt.

Aber selbst als Pfarrer fällt es mir schwer, jeden Tag ganz fest darauf zu vertrauen, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat. Und dass auch ich deshalb keine Angst vor dem Tod haben muss.

Aber weil ich an anderen Tagen ganz fest darauf vertraue, entdecke ich Alltagsostergeschichten. Wie die von Claras Oma: In dem Neuanfang nach den Impfungen taucht Ostern auf. Claras Großmutter kann wieder vor die Tür wie Jesus aus dem Grab. Sie trinkt Kaffee und isst Kuchen mit ihrer Freundin, so wie Jesus wieder mit seinen Jüngern gegessen hat. Es fällt eine Last ab, wie wenn ein großer Stein weggerollt wird.

Solche Erfahrungen aus dem Alltag nenne ich deshalb ‚Alltagsostern‘. Und das gibt es das ganze Jahr über. Jetzt im Frühling ganz besonders: Zum Beispiel, dass ich die Türen und Fenster wieder auflassen kann, damit frische Luft einströmt. Warme Luft, Sonnenlicht, offene Fenster – so stelle ich mir das leere Grab vor. Oder, dass die Bäume gegenüber auf dem Friedhof wieder ausschlagen. Kräftig grüne Lebenszeichen zwischen den Gräbern. Zeichen von Auferstehung mitten im Leben.

Ich brauche die alte biblische Geschichte und entdecke mit ihr Gottes Nähe in dieser Welt. Leicht ist es deswegen mit der Auferstehung immer noch nicht. Paulus hat den Athenern auf dem Areopag empfohlen: „Sucht Gott, ob Ihr in findet und fühlt. Denn er ist jedem von uns nah. Sucht nach den leeren Gräbern im Leben“ (Apg 17, 16 – 34).

Und ich empfehle Ihnen: Nehmen Sie doch heute mal die Geschichte von der Auferstehung Jesu für wahr. Nehmen Sie mal an, dass Gott uns Menschen mit dieser Geschichte angeboten hat, ihn zu finden. Mitten im Leben. Vielleicht entdecken Sie dann ja auch ganz alltägliche Auferstehungsgeschichten.  Probier’n Sie es aus!

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, dass Sie Gottes Spuren finden!

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SWR4 Sonntagsgedanken

27DEZ2020
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Die eigene Liste.

Haben Sie eine Bucket List? Das ist ein englischer Begriff, der sich nur schwer übersetzen lässt. Gemeint ist eine Liste mit Dingen, die man erledigt haben möchte, bevor das Leben vorbei ist. Seit 2007 ist dieser Ausdruck auch im Deutschen in Gebrauch. In diesem Jahr kam ein Film in die Kinos, der erzählt, wie zwei kranke Männer gemeinsam so eine Liste abarbeiten. Der Film heißt „Das beste kommt zum Schluss“. Der englische Titel ist „The Bucket List“.

Wenn man im Internet nach solchen Listen sucht, findet man eine ganze Menge. Anscheinend ist es vielen Menschen ein Bedürfnis, ihre Träume und Wünsche anderen mitzuteilen. Sie zeigen damit, was sie zu ihrem Glück brauchen. Gleichzeitig geben sie anderen ein Vorbild, was man im Leben so gemacht haben muss. Die Eintragungen sind sehr unterschiedlich. Da steht zum Beispiel ‚Barfuß im Regen tanzen‘ oder ‚den Mount Everest besteigen‘. Viele dieser Listen sind über 50 Wünsche lang.

Wissen Sie, ich persönlich mag solche Listen nicht. Klar, ich seh‘ schon den Vorteil: Man macht sich über seine Wünsche Gedanken. Aber mich stresst der Gedanke, meine Wünsche erfüllen zu müssen. Für mich wäre das zuviel Druck, weil ich dauernd in Sorge wäre, mein Glück nicht zu erreichen. Das setzt mich richtig unter Druck. Das ist nichts für mich. Das macht mich nicht glücklich. Aber natürlich habe ich auch Ziele: Zum Beispiel will ich nächstes Jahr einen Weitwanderweg laufen, vielleicht vom Odernwald zum Donnersberg. Mit Übernachtungen zwischendrin, das ging dieses Jahr nicht.

Warum ich solche Bucket Listen trotzdem nicht mag? Das Leben dreht manchmal ungeahnte Kurven. Ich halte es nicht für so planbar, dass ich eine Liste gezielt abarbeiten kann. Außerdem braucht es dafür natürlich auch Geld. Im Film ist der eine Mann Millionär mit eigenem Privatjet. Er kommt schnell von New York nach Indien. Ich konnte nicht mal Urlaub im Odenwald machen.

Ich habe Kolleginnen und Kollegen gefragt: „Was würdest Du sehen oder erleben wollen und könntest dann erfüllt abtreten?“ Alle haben gesagt: Das kann ich nicht beantworten. Es verändert sich laufend. Ich möchte gerne Leben. Gut, auf Rückfrage hab ich ein paar Details bekommen: Island bereisen, den Jakobsweg laufen. Aber Bucket Listen hat von den Menschen, die ich gefragt habe, keiner gemacht. Offensichtlich denken sie wie ich: Das Leben ist nicht planbar. In diesem Jahr haben wir ja gesehen, wie schnell man seine Pläne ändern muss.

Trotzdem schaue natürlich auch ich zwischen den Jahren zurück und nach vorne. Dann frage ich mich: Was hab ich geschafft, was war gut? Was war schlecht? Und danach frag ich mich: Was hab ich vor? Wo will ich hin? Wann nehme ich Urlaub? Es ist ja schön, wenn man sich auf etwas freuen kann.

Die christliche Bucket List

In der Bibel wird von einem Mann namens Simeon erzählt. Der hatte auch noch mindestens einen unerfüllten Wunsch. Simeon lebte in Jerusalem am Tempel. Er war schon alt, aber auf eines wartete er schon sein Leben lang: Gottes Messias, also den Erlöser, zu sehen. Und wie er da sitzt, kommen Maria und Josef mit dem 8 Tage alten Jesus zum Tempel und Simeon ruft: „Herr, jetzt kann dein Diener in Frieden sterben, wie du es versprochen hast. Denn mit eigenen Augen habe ich gesehen: Von dir kommt die Rettung.“

Für Simeon war die Bucket List sehr kurz. Er wollte nur eine einzige Sache erleben! Er wollte spüren, dass es in seinem Leben Spuren von Liebe, Versöhnung und Friede gibt. Und in diesem Paar mit seinem Säugling hat er das gesehen. Alles, was Gott versprochen hat in diesem besonderen Kind! Es ist nicht ganz einfach, das Gefühl in Worte zu fassen, das Simeon gehabt hat. Ich denke, das richtige Wort dafür ist: Simeon war glücklich.

Simeon ist Gott begegnet in einem Kind. Er hat begriffen: hier fängt das an, was Gott für seine Menschen will: Liebe. Frieden. Versöhnung. Da war Simeon glücklich. Seine Bucket List hatte sich erfüllt. Er hat Gott gesehen. Wir Menschen heute haben natürlich den Nachteil, Gott nicht im Jesuskind zu sehen. Aber Liebe, Friede und Versöhnung finden sich auch bei uns noch. Davon bin ich überzeugt. Und dann fängt auch bei uns an, was Gott für seine Menschen will.

Zwei Tage nach Weihnachten ist mir ganz klar, dass Gott sich eher bescheiden in der Welt zeigt. Als Kind in der Krippe aus einer armen Familie. In dem harmonischen Moment bei der Familienfeier kurz bevor die Geschenke aufgerissen werden. Wenn für einen Augenblick alles gut scheint und fröhlich. In echter Freude eben. Und die können wir nicht herstellen. Die bekommt man geschenkt. Plötzlich ist sie da.

In dem Film „Das beste kommt zum Schluss“ wird das auf sehr sentimentale, aber durchschlagende Weise gezeigt. Auf der Liste steht Das schönste Mädchen der Welt küssen. Kurz vor dem Schluss lernt einer der beiden Männer seine Enkelin kennen. Weil er sich mit seiner Tochter zerstritten hatte, hatte er keinen Kontakt zu ihr. Er küsst sie und streicht diesen Wunsch durch. Da merkt er wie Simeon: Glücklich ist er, wo er Liebe, Versöhnung und Friede spürt.

Jetzt denke ich gerade: So eine Bucket List, die nach Liebe, Versöhnung und Friede sucht, kann ich mir auch für mich vorstellen. Das Glück geschenkt bekommen – darauf lass ich mich ein. Sie vielleicht auch?

Ich wünsche Ihnen gesegnete Tage und kommen Sie gut hinüber ins neue Jahr.

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SWR4 Sonntagsgedanken

11OKT2020
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Ich sollte als Pfarrer ein Kind taufen. Das Besondere: Die Familie väterlicherseits stammt aus Osterberlin. Gott und Religion spielen bis heute in der Familie nur eine kleine bis gar keine Rolle. Die Familie mütterlicherseits stammt ebenfalls aus Osterberlin. Die ist aber stark christlich geprägt und war auch in der Friedensbewegung der Kirche in der DDR aktiv.

Was sollte ich bei dieser Taufe tun? Ohne von Jesus Christus zu reden, kann man ein Kind nicht taufen. Es wird ja in seinem Auftrag und auf den Namen Gottes getauft. Ich habe bei dieser Taufe von einem Kinderbuch erzählt.. Es spielt im Tierreich und heißt „Irgendwie anders“. In diesem Buch wird eine Geschichte über den Herrn Anders erzählt. Der ist anders als die anderen und darf deshalb nicht mit ihnen spielen. Niemand will mit ihm essen. Und sie grüßen ihn auch nicht. Was er auch macht, er findet keinen Anschluss.

Eines Abends klopft es bei Herrn Anders und ein ganz merkwürdiges Tier steht vor der Tür. Es ist ein Etwas. Erst will Herr Anders, dass das Etwas sich davonschert. Dann aber freunden die beiden sich doch an. Am Ende klopft ein Junge an die Tür. Und obwohl der ganz anders ist, schicken sie ihn nicht weg, sondern sitzen ein bisschen zusammengerückt zu dritt auf einem gemütlichen Ohrenbackensessel.

Dann habe ich gesagt: Diese Geschichte könnte Jesus erzählt haben. Gerade, wenn man an die Taufe denkt,. Denn, auch wenn sie unterschiedliche Menschen sind, mit der Taufe haben die Getauften eine Gemeinsamkeit, die sie eng verbindet. Wenn wir andere nicht auf ihr Anderssein reduzieren, würde das der Welt gut tun. Ich wünsche der Familie und den Paten, dass sie ihr Kind in diesem Gedanken auf dem Lebensweg begleiten.

Nach dem Taufgottesdienst  hat der Ostberliner Großvater des Kindes zu mir gesagt: „Ick hab ja mit Jott nix am Hut, wa. Meene Jroßmutter, die war ja fromm, aber die hat dit nüsch weiterjejeben und dann kam dit nüsch bei mir an. Aber ick denk mir ooch, dattma eenfach ooch n juta Mensch is und sein sollte. Und ick nehm mir von die Relijonen immer wat mit und denk, dit is jut so. Und det hatma jefallen heute.“

Wissen Sie, ich glaube, dieser Mann hat etwas Wichtiges verstanden. Er will nicht nur vom Christentum, er will von allen Religionen lernen. Und mir kommt es auch in manchen Stellen in der Bibel so vor, als würde die Bibel über Christentum und Judentum hinausgehen. An einer Stelle heißt es sinngemäß: „Was ich, Gott, Euch sage, ist überhaupt nicht unverständlich. Ich möchte, dass Ihr in meinem Sinne lebt und meine Gebote und Empfehlungen haltet.“ (5. Mose 30, 11 – 16).

Ob der Berliner Großvater des Täuflings nah an Gott dran ist oder weit weg – darüber habe ich nachgedacht.

Ist dieser Mann nun heimlich Christ? Diese Frage habe ich mir gestellt. Und natürlich muss ich sagen: Nein, ist er nicht. Ich sage es so: seine Ethik für den Alltag ist christlich geprägt. Genau wie das Kinderbuch, aus dem ich zur Taufe vorgelesen habe. Es ist christlich geprägt. Es handelt von Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Warmherzigkeit.

Aber ist es nicht faszinierend, dass dieser Mann genau wie ich bemüht ist, ein anständiges Leben zu führen? Und damit meine ich nicht Markenkleidung, teure Elektronik und Weltreisen. Ich meine eines mit so wenig Streit wie möglich. So wenig Bosheit wie möglich. So wenig Hass wie möglich. Eines von dem er wie ich sagen könnte: Es ist ein liebevolles Leben.

Ich bin davon überzeugt, dass Gott mir diesen Menschen geschickt hat. Gott hat mir damit gezeigt: Schau, auch außerhalb Deiner Kirche bin ich bei den Menschen. Als Christ oder Christin und Gemeindeglied sieht man oft ja nur noch die „eigenen Leute“. Das geht mir als Pfarrer der Kirche auch so. Manchmal vergesse ich, dass Gott auch bei denen ist, die nicht zu mir in die Kirche kommen. Oder die vielleicht sogar von sich sagen: Ich halte nichts von Gott. Aber ist es nicht so: Gott hält trotzdem etwas von diesen Menschen.

Für mich war das wieder einmal ein Hinweis darauf, dass wir uns weniger um unsere Unterschiede kümmern sollten. Kirchenmitglieder und Kirchenferne gehen in eine gemeinsame Zukunft. Von der können sie träumen: von einem guten Miteinander. Von der Klimarettung. Vom Frieden. Wir sind alle irgendwie anders. Aber besser ist es, zusammenzustehen als die Unterschiede zu stark zu  betonen.

Denn es gibt einen gemeinsamen Grund: Den Traum von einer besseren Zukunft. Der Großvater hat später zu mir gesagt: „Dit mitm Beten hätt ick nich jebraucht.“ Aber, hat er hinzugefügt, die Botschaft, dass Jesus keine Unterschiede haben will – die findet er gut.

Ich finde: Wer so lebt, träumt, absichtlich oder nicht, wie Gott von einer guten Zukunft. Und Gottes Traum ist nicht unverständlich: rückt zusammen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen verträumten Sonntag.

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SWR4 Sonntagsgedanken

05JUL2020
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Dieser Tage wird viel über Rassismus gesprochen. Rassismus: Menschen mit bestimmten biologischen Merkmalen sind anderen unter- oder auch überlegen. Die einen meinen, dass sie besser sind als die anderen. . Ich möchte Ihnen heute Morgen eine Geschichte erzählen, die mir wieder eingefallen ist. Sie zeigt, wie das ist.

Ich habe mit Kolleginnen beim Mittagstisch gesessen. Am Nebentisch saßen zwei Männer und eine Frau, die sich angeregt unterhalten haben. Die drei wurden zunehmend lauter. Von Wirtschaftsflüchtlingen war die Rede, die uns auf der Tasche liegen – eben die Themen, die seit 2015 viele beschäftigen. Zufällig schlurfte ein junger schwarzer Mann vorbei. So wie junge Menschen eben manchmal schlurfen. Einer der Männer zeigte auf ihn und rief: „Da ist so ein Nichtsnutz. Der kann gerade heimgehen.“

Das Essen kam. Und ich habe mit mir gerungen. Gehste hin? Sagste was? Oder isst Du einfach? Ich bin aufgestanden und an den anderen Tisch gegangen. Ich habe zu dem Mann gesagt: „Bitte hören Sie auf so zu reden, sie verderben mir mein Mittagessen mit ihren Unappetitlichkeiten.“ Der Mann hat dann ein „Jaja“ gemault. Aber immerhin ging das Gespräch leise weiter.

Wissen Sie, ich fand mich damals ziemlich cool. Aber war das genug, was ich da gemacht habe? In den Zeitungen habe ich gelesen, das viele farbige Demonstranten in den USA sagen: „Hört uns doch erst zu, bevor Ihr diskutiert.“ Das habe ich in dem Restaurant auch nicht getan. Habe ich mich richtig verhalten?

Mein Gefühl für ‚richtig‘ und ‚falsch‘ ist natürlich auch vom Christentum geprägt. Ein ganz kerniger Satz ist zum Beispiel von Paulus. „Lass Dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ Den Satz fand ich immer gut. Kurz und prägnant. Der bleibt im Kopf. Für so eine konkrete Situation ist er aber – bei Licht betrachtet – gar nicht so klar.

Was war jetzt das Böse? Ich kannte den Mann am Nebentisch gar nicht. Vielleicht hatte er Angst vor den kulturellen Veränderungen. Vielleicht hat er auch Angst vor der Zukunft, dass ihm nicht genug zum Leben bleibt, wenn immer mehr Menschen Hilfe brauchen. So stelle ich es mir vor. Dass der Mann gesagt hat, wie es ihm geht, ist sicher nicht böse. Dass er es menschenfeindlich formuliert hat? Schon eher. Aber dass ich mit dem Hinweis auf mein Mittagessen wirklich etwas Gutes getan habe, glaube ich heute nicht mehr. Wahrscheinlich hat sich der Mann dadurch noch mehr geärgert. Vielleicht wäre es richtig gut gewesen, den jungen Mann ins Restaurant zu holen und zu fragen: „Wer bist Du?“
Es gibt nämlich einen Unterschied zwischen dem, was gut gemeint ist und dem, was tatsächlich gut ist.

Paulus sagt in der Bibel: Lass Dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem. Das ist ein Satz mit einer großen Herausforderung. Denn: Was ist eigentlich das Gute, wenn es fast nur noch Gewalt zu geben scheint?

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber die Nachrichten aus den USA und England schockieren mich. Die Ermordung des Schwarzen George Floyd durch Polizisten ebenso wie die Demonstranten in Bristol, die jetzt überall Statuen von den Sockeln stoßen. Sie haben das vielleicht mitbekommen. Aus Protest haben Menschen Statuen von Männern der Kolonialzeit umgestoßen. Wer Menschen versklavt und ihr Land ausgeplündert hat, für den sollte es kein Denkmal geben haben sie gesagt. Auch in Deutschland wird immer wieder mal diskutiert, wie mit Denkmälern von Menschen umgegangen wird, die hierzulande Stiftungen gegründet haben mit Geld aus den Kolonien. So weit ist das Thema also nicht weg.

Anscheinend gibt es nur noch Extreme: Rassisten und Antirassisten. Und dann frage ich mich: Hat das Brückenbauen ausgedient? Ich stelle mir das immer so vor, dass sich alle mal an einen Tisch setzen. Und hören sich mal wirklich zu. Jeder denkt: Vielleicht hat der andere auch recht. Und ich könnte mich irren. Ich glaube: Dass fast nur noch die Extreme zu hören sind, ist das eigentlich Üble, das wir überwinden müssen. Und das Gute, das zu tun ist, ist Brückenbauen. So dass Menschen mit unterschiedlichen Interessen, einander begegnen können. Finden Sie nicht?

Genau das hatte Paulus im Sinn, meine ich: Der hat an die Gemeinde in Rom einen Brief geschrieben. Einige der Ratschläge können wir heute noch gut gebrauchen. Tut das Gute. Ein anderer: Soweit es möglich ist, haltet mit allen Menschen Frieden.

Ich kann mir denken, dass jetzt einige von Ihnen sagen: Ach, der Pfarrer wieder mit seinen romantischen Träumen, das Leben ist nicht so einfach. Wissen Sie, ich denke, das stimmt. Es ist nicht so einfach. Ich möchte sie heute Morgen ermutigen, das Schwierige zu wagen. So zu leben, dass einer für den anderen da ist. Aber dafür wäre es eben nötig, mal alle an den Tisch zu holen und zuzuhören. Und dort daran zu erinnern, dass das Zusammenleben neue Brücken braucht, gerade wenn die Extreme lauter werden. Neue Brücken zu bauen: Das ist das Gute, das getan werden muss, glaube ich. Erst dann kann neu verhandelt werden, was als nächstes dran ist. So geht Frieden.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen gesegneten Sonntag.

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05APR2020
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Palmsonntag 2020

Heute ist Palmsonntag. Wir Christen erinnern uns, wie Jesus auf einem Esel in Jerusalem eingeritten ist. Große Menschenmassen haben ihm zugejubelt, haben Palmwedel geschwenkt und Kleidungsstücke vor ihm auf die Straße gelegt. Das alles erzählt die Bibel.

Dieser Tage würde Jesus durch leere Gassen reiten. Dieses Jahr ist für mich die Festtagsstimmung von Palmsonntag nicht zu spüren. Auch eine andere Geschichte aus der Woche vor Ostern würde dieses Jahr nicht stattfinden. Jesus war eingeladen und saß mit seinen Jüngern beim Essen. Plötzlich kommt eine Frau durch die Tür und gießt Jesus teures, parfümiertes Öl über den Kopf. Damit hätte sie aktuell den Sicherheitsabstand von anderthalb Metern deutlich unterschritten. Überhaupt hätte das Essen gar nicht stattfinden können.

Die Geschichte geht aber noch weiter. Die Jünger sagen: „Dieses Öl ist ein Jahresgehalt wert. Wir hätten es verkaufen sollen. Das Geld hätten wir den Armen spenden können.“ Jesus antwortet ihnen: „Ihr könnt für die Armen immer spenden. Ich werde bald nicht mehr da sein. Die Frau hat richtig gehandelt.“

Ich habe lange mit dieser Geschichte so recht nichts anzufangen gewusst. Jetzt in der Corona-Zeit kann ich sie neu verstehen.

Für mich steckt in der Geschichte von der Frau ohne Namen die Lebensfreude, die wir alle unter normalen Umständen haben. Wir gehen raus, treffen Freundinnen und Freude, machen einander Geschenke. In dieser Geschichte steckt aber auch, wie plötzlich die Stimmung kippen kann. Jesus sagt: „Ich bin bald nicht mehr da.“ In diesen Tagen höre ich diese Worte als Echo auf unsere Situation, in der wir zu Hause bleiben sollen. Eben haben wir das Leben noch mit anderen gefeiert. Jetzt geht das nicht mehr.

Eine Fülle von Selbstverständlichkeiten gehen nicht mehr: Freundinnen und Freunde zu treffen, Spazieren gehen, Bummeln in der Stadt. Im Januar habe ich noch auf einer Fortbildung mit Kolleginnen und Kollegen darüber geredet, was Fülle überhaupt ist. Da war Corona noch weit weg in China. Und wir haben damals diskutiert und keine Antwort gefunden. Heute, drei Monate später, merke ich: Ich hatte die Fülle und momentan fehlt sie mir.

Wenn ich so nachdenke: Ich kann mich gut einreihen bei den Jüngern, die nicht sehen wollen, dass Jesus bald weg sein könnte. Die davon ausgehen, dass sich nie etwas ändert. Die nicht damit rechnen, dass die Fülle mal wegbricht.

Leben in Fülle trotz allem.

Wissen Sie, ich will die Parallelen zu heute nicht auf Biegen und Brechen herstellen. Aber gerade dieses Jahr finde ich diese Geschichte so passend für unsere Lage.

Viele Menschen rufen mich im Moment an und erzählen mir, um wen sie Angst haben. Sie fühlen sich von der Situation überfordert. Und ich kann nur sagen: Ja, ich verstehe das. Für mich ist es auch nicht leicht, immer die Ruhe zu bewahren. Ich sorge mich auch um ältere Verwandte. Und ich merke natürlich auch an mir, dass ich im Moment sage: „Das ist keine schöne Zeit.“ So nur in den eigenen vier Wänden.

Trotzdem sagt mir die Geschichte von Jesus und der Frau etwas. Sie lehrt mich Dankbarkeit für die Menschen, die mir geschenkt sind. Die Frau, die Jesus mit dem duftenden Öl etwas Gutes tut, lässt ihre Dankbarkeit raus. Vielleicht, weil sie auch weiß: Morgen kann es schon zu spät dafür sein.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich möchte Ihnen keine Angst machen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Meine Nachbarin ist Anfang 70. Sie ist Witwe, hat aber beim Tanzen einen Mann kennengelernt. Ganz lieb nennt sie ihn „meinen Partner.“ Er ist Mitte 70 und die beiden genießen die Zeit miteinander sehr. Ich habe sie mal gefragt: „Warum ziehen Sie nicht zusammen?“ Sie hat mir gut gelaunt geantwortet: Nein, wissen Sie, wir sind beide schon alt. Wir haben beide schon ein Haus gebaut, eine Ehe geführt. Jetzt gönnen wir uns das Schöne. Irgendwann geht einer von uns dann zuerst.

Das fand ich am Anfang überraschend, aber: Klar. Stimmt! Da spricht viel Lebenserfahrung aus ihr. Diese Lebenserfahrung lässt sie ihr Glück und ihre Dankbarkeit erst richtig genießen. Die Zeit jetzt ist für beide natürlich trotzdem ein schmerzlicher Einschnitt, da sie sich nicht besuchen können. Aber damit haben sicher auch diese beiden Menschen nicht gerechnet. Jetzt telefonieren sie täglich, hat sie mir erzählt.

Heute ist es nicht üblich, sich mit Öl zu parfümieren. Aber wenn sie allein leben: Man kann Freundinnen und Freunde anrufen. Und die Eltern freuen sich, endlich mal regelmäßig von Ihnen zu hören! Und in der Familie oder mit der Partnerin: Versuchen sie doch mal wieder ein Brettspiel! Oder lesen sie einander vor! Und eines ist ja sicher: Irgendwann werden wir auch wieder vor die Türen gehen können.

Auch die Geschichte von Jesus und seinen Jüngern hört ja auch nicht an Karfreitag auf, wenn sie ihn ans Kreuz schlagen.. Sie geht bis Pfingsten. Da werden sie von Gottes Kraft erfüllt, öffnen die Türen und ziehen hinaus in die Welt.

In diesem Sinne: Bleiben Sie gesund und zuversichtlich bis die Türen sich wieder öffnen.

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SWR4 Sonntagsgedanken

01DEZ2019
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Ich bin Anuschka eine Entschuldigung schuldig. Leider schon seit 17 Jahren. Leider wird das nichts mehr werden. Ich habe keine Ahnung, wo sie lebt, was sie macht. Ich weiß nichts mehr über sie. Mein schlechtes Gewissen wird mich weiter begleiten.

Anuschka und ich haben zusammen Tanzkurs gemacht. Zusammen haben wir die Kurse Bronze, Silber und Gold besucht. Anschließend war klar: Wir machen zusammen weiter und gehen in die Formationsgruppe. So haben wir das damals ausgemacht. Ich habe dann aber ein anderes Mädchen kennengelernt. Sie wissen bestimmt, wie das ist: Zum ersten Mal verliebt! Alles andere zählt da nicht mehr.

Eigentlich hätte ich Anuschka sagen müssen, dass ich deshalb den Tanzkurs mit einer anderen machen möchte. Ich war aber zu feige. Also habe ich nicht angerufen. Ich bin einfach weg geblieben. Natürlich hatte ich ein schlechtes Gewissen deswegen. Aber es war halt so.

Ich habe Anuschka dann ein paar Jahre nicht gesehen. Ich hatte die ganze Geschichte im Grunde vergessen. Dann stand sie plötzlich auf dem Bahnhof am Bahnsteig gegenüber. Schnell habe ich mich weggedreht. Aber eine innere Stimme hat gesagt: „Geh rüber, zieh es glatt! Das ist Deine Chance.“ Dann kam der Zug und ich habe mich wieder gedrückt. So bin ich Anuschka die Entschuldigung schuldig geblieben.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie gut verstehen, was ich da beschrieben habe. Wer ist denn einem anderen Menschen noch nichts schuldig geblieben? Ich glaube, das ist bei jedem Menschen so.

Niemand ist perfekt. Jeder macht Fehler. Ich merke, wie mir dieser Gedanke gut tut und mein Gewissen beruhigt. Und ich denke auch immer wieder: Wenn ich jedem, der mir etwas schuldig geblieben ist, hinterherrenne – oder umgekehrt, wenn mir jeder hinterherrennen würde, der mir was schuldet – das würde nicht aufhören. Deshalb habe ich Geduld mit den Menschen, weil ich ja weiß: Im Grunde bin ich genauso.

Schon der Apostel Paulus hat darüber nachgedacht. Er wollte die Gemeinde in Rom besuchen. Und um sich dort schon einmal vorzustellen, hat er den Menschen einen Brief geschrieben. Zum Ende hin schreibt er: Bleibt niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt. Er meint damit: Alles, was Ihr Euch schuldet, ist gegenseitige Liebe.

Das hat ganz schön Anspruch. Für mich ist das immer ein bisschen schwierig, das anzunehmen. Ich merke doch, wie oft ich jemandem etwas schuldig bleibe. Und nun das: Liebt einander. Das ist zwar eine Kernbotschaft im Christentum. Aber alle lieben? Fällt mir persönlich ganz schwer. Ich fürchte, die Liebe bleibe ich anderen besonders oft schuldig.

Wahrscheinlich hat Paulus damals gewusst, dass er da die Latte für die Menschen ziemlich hoch legt. Deswegen schreibt er noch eine Begründung dazu. Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. Diese Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. Paulus erklärt dann ganz konkret: Es geht um die 10 Gebote. Du sollst nicht ehebrechen, Du sollst nicht neidisch sein, Du sollst nicht töten. Wer sich an die Gebote hält, der ist auf einem guten Weg mit dem „Liebt einander“.

Ich glaube: Paulus meint da eine Liebe, die sich um andere kümmert. Da geht es weniger um Verliebtheit und Romantik. Da geht es um Wertschätzung. Das heißt, andere Menschen mit Respekt behandeln und freundlich sein. Da geht es um Fürsorge. Nicht wegschauen, wenn es anderen schlecht geht. Sondern hingehen und helfen. Diese Liebe schulden Christinnen und Christen anderen. Im Moment finde ich das Wort „Geduld“ gut, um Nächstenliebe praktisch zu machen. Geduld täte den Menschen gut. Verstehen Sie mich nicht falsch. Geduld heißt nicht tatenlos abwarten. Geduld heißt Zeit nehmen. Geduld heißt, den anderen zu respektieren.

Ich finde das gut, dass Paulus da so klar und deutlich redet. Aber beim Satz ‚Liebe Deinen nächsten wie Dich selbst‘ kommt bei mir die nächste Frage. Was ist denn die Liebe zu mir selbst? Wäre das nicht Egoismus? Selbstsucht? Ich kann auch gar nicht behaupten, dass ich mich 24 Stunden am Tag liebe. Ich kann mich über mich ärgern und sogar schämen. Wenn ich an die Geschichte von mir und Anuschka denke, dann hab ich ein schlechtes Gewissen. Ich war nicht freundlich und ich habe weggeschaut. Ich habe in Sachen „Liebt einander“ versagt. Da heißt es nun Geduld haben mit mir selbst und es beim nächsten Mal besser machen. Die Geduld mit mir selbst nicht aufgeben. Wenn ich Anuschka denke, dann schicke ich manchmal ein Stoßgebet gen Himmel: Lieber Gott, mach, dass sie weiß, dass es mir Leid tut. Zumindest bin ich mir sicher, dass Gott mit mir Geduld hat und mir verzeiht, weil ich bereue, wie ich Anuschka behandelt habe.

Und andersherum gilt dasselbe: Geduld haben, wo ich denke, dass mir einer was schuldig bleibt. Sei geduldig mit Deinem Nächsten wie mit Dir selbst. Passt das nicht toll in den Advent? Heute ist ja der 1. Advent. Ich glaube, das ist eine gute Zeit für Erwachsene, es mit der Geduld auszuprobieren. Ich fang gleich damit an. Mein Adventskalender: 24mal Geduld haben! Ich bin gespannt, was das bewirkt.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen gesegneten und schönen 1. Advent.

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SWR4 Sonntagsgedanken

15SEP2019
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„Ist Pfarrer ein normaler Beruf?“ Das hat mich die Chefin des Hotels gefragt, in dem ich meinen Urlaub verbracht habe.
Das Hotel war ein Familienbetrieb. Und da hat es für die Chefin dazugehört am Ende noch ein bisschen Smalltalk zu machen. Wie lange fahren Sie? Freuen Sie sich auf die Arbeit? Und dann: Was arbeiten Sie eigentlich?

 

Ich habe mich darauf eingelassen: Ich bin evangelischer Pfarrer. Da machte die Chefin große Augen. „Ach“, hat sie gefragt, „ist das ein normaler Beruf?“ Ich habe eine Weile nichts gesagt. Mein Schweigen hat sie dann genutzt und gesagt: „Mein Sohn ist 9 und will unbedingt Pfarrer werden. Er geht zu jedem Gottesdienst und er betet.“ Kurze Pause: „Ich mache mir ein bisschen Sorgen.“

Zuerst musste ich lachen. Aber natürlich war es der Mutter ernst. Immerhin führt die Familie ein Hotel. Da hat sie von ihrem Sohn sicher andere Interessen erwartet als ausgerechnet Religion und Kirche. Vielleicht soll er später den Betrieb mal übernehmen. Ich kenne einige mittelständische Betriebe, da ist es ganz wichtig, dass die Nachfolge geklärt wird. Denn oft hängt an einem Familienbetrieb die Existenz – nicht nur der Familie, sondern auch der Familien drum herum, die dort arbeiten.

Dann habe ich der Chefin und Mutter gesagt: „Ja, es ist ein normaler Beruf.“ Aber ihre Sorgen hat das nicht zerstreut. Sie hat dann erzählt: „Er hat auch wenig Kontakt in der Schule. Und er ist irgendwie anders als wir. Also, er ist nicht unglücklich. Aber eben anders.“ Da habe ich erst verstanden, was sie beunruhigt. Sie hat wohl gedacht, ihr Sohn könnte ein weltfremder Eigenbrötler werden. Keine Kleinigkeit für ein Gespräch an der Rezeption. Ich habe ihr dann erzählt, dass Pfarrerinnen und Pfarrer zwar einen besonderen Beruf haben. Dass sie aber auch ganz normale Menschen sind.

Ich weiß, dass das meiner Wirtin wohl nicht richtig geholfen hat. Aber was sollte ich tun? Man sagt ja Blut ist dicker als Wasser. Die Mutter des kleinen Jungen hat aber das Gefühl gehabt, dass das ihr Sohn anders sieht. Wer weiß, was sie da alles umtreibt: Enttäuschung, weil er nicht so am Betrieb interessiert ist? Angst, dass er in Zukunft schief angeschaut wird? Sorge, dass er nicht für sein Auskommen sorgen kann?

Familienbande sind in der Regel fest geknüpft. Was tun, wenn das Kind oder der Enkel plötzlich Wege einschlägt, die unerwartet sind?

 

Beim Gespräch damals ist mir die Geschichte nicht eingefallen. Aber es gibt in der Bibel eine Geschichte über Jesus, die ganz ähnlich ist. Jesus hatte gerade angefangen, in der Öffentlichkeit zu predigen und Kranke zu heilen. Dann hat er 12 Männer als seine Jünger ausgewählt. Mit ihnen fing er an , durch das Land zu ziehen.

Seine Mutter Maria war entsetzt. Sie dachte, „er ist verrückt geworden.“ Wahrscheinlich hat sie von ihrem ältesten Sohn erwartet, dass er den Betrieb des Vaters übernimmt. Dass er die Familie versorgt und in Nazareth bleibt. Nun war Jesus drauf und dran, ein Wanderprediger zu werden. Maria macht sich auf den Weg, um ihm so ein Leben auszureden.

Jesus reagiert auf seine Mutter dann sehr scharf. Er lässt ihr ausrichten, dass seine Familie aus den Menschen besteht, die ihm folgen und wie er nach den Geboten Gottes leben. Das war für Maria sicher ein Schlag. Aber ich will Jesu Beispiel auch nicht zu sehr strapazieren. Wir sind ja nicht Jesus. Jesus konnte kompromisslos sein. Wir können Kompromisse machen, finde ich. Wir können anders als Jesus zwei Familien haben.

Erstens eine biologische Familie. Zweitens kann man dazu noch eine geistliche Familie haben, wenn man sich an Jesus orientiert. Jesus hat solche Menschen seine Brüder und Schwestern genannt. Damit hat er diejenigen gemeint, die wie er glauben und leben wollen. In diesem Sinne gewinnt man eine weltweite Familie dazu.

Es muss übrigens niemand Pfarrer werden, um zu dieser Familie zu gehören. Glauben kann man in jedem Beruf und überall. Gutes tun auch. Jesus hat ja später mit der Goldenen Regel auf den Punkt gebracht, was er meint: Was Ihr wollt, das Euch die Leute tun, das tut ihnen. Das ist sozusagen das Motto der Familie Gottes.

Weil wir nicht so radikal handeln müssen wie Jesus, können wir heute beides haben. Eine Familie aus Fleisch und Blut mit eng geknüpften Familienbanden. Die hat eigene Vorstellungen und Wünsche. Aber sie ist für mich auch ein Ort, an dem ich mich sicher fühlen kann. Und eine Familie aus Menschen, die sich an Jesus orientieren. Dazu gehören die Frau aus der Suppenküche oder der Mann, der für die Tafel arbeitet. Zu dieser Familie knüpfen Kinder und Enkel manchmal unerwartet feste Bande.

Betrachten Sie es als Geschenk, wenn Kinder und Enkel neue Bande knüpfen und eigene Wege gehen. Es kann Großes entstehen. Probieren Sie doch heute mal das Familienmotto von Jesus aus: Tun Sie einem Menschen, was Sie sich für sich wünschen. Keine Sorge, Sie gewinnen einen Bruder dazu. Oder eine Schwester. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine gesegnete und familiäre Woche.

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SWR4 Sonntagsgedanken

19MAI2019
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Singen macht frei

Anfang Mai habe ich ein Weihnachtslied gesungen: „Maria durch ein Dornwald ging“. Zusammen mit einer alten Frau. Und das war gar nicht komisch. Irgendwie war es ganz selbstverständlich. Ich möchte Ihnen erzählen, wie es dazu kam.

Frau Volkmann ist fast 90. Die Beine haben nicht mehr die Kraft, die sie früher hatten. Sie friert oft. Die Augen sind auch nicht mehr so gut. Vieles, sagt sie, ist nicht mehr so schön. Aber ihren Verstand hat sie noch. Darauf ist sie stolz. Ich habe sie zum Geburtstag besucht. Wir haben Rummikub gespielt. Während des Spiels hat sie gesagt: „Sagen Sie mal, Herr Pfarrer, können Sie singen?“ Ich habe geantwortet: „Ja, es geht. Kirchenlieder kann ich singen. Für Schlager taugt meine Stimme nicht.“

Einen Moment war Frau Volkmann in sich versunken. Dann hat sie erzählt: „Mein Lieblingslied ist „Maria durch ein Dornwald ging“. Ich habe immer wieder gedacht: Das Leben ist wie ein Wald. Das Leben ist voller Dornen. Und wenn das Jesuskind kommt, tragen die Dornen Rosen. Darauf baue ich.“ Nach einer kurzen Pause haben wir gemeinsam gesungen. Frau Volkmann war glücklich.

Solche Geschichten begegnen mir oft im Berufsalltag. Singen verbindet die Menschen. Egal, ob ich mit Erwachsenen oder Jugendlichen Musik mache. Ich merke dabei immer wieder: Singen ist einer der schönsten Wege, um Gottes Spuren zu finden. In den Melodien, in den Texten und in der Gemeinschaft mit anderen Sängerinnen und Sängern. Und das geht nicht nur mir so, glaube ich. Vielleicht kennen sie das auch…

Beim Singen passiert ganz viel. Der Atem wird trainiert. Wer singt, atmet durch. Wenn ich singe, muss ich den Mitsängern zuhören. Oder ich kann mich an den guten Sängern orientieren. Sänger helfen sich gegenseitig. Der Rhythmus der Musik bringt den Körper in Bewegung. Gerade bei Kindern sind die Lieder oft von kleinen Choreographien begleitet, damit Musik und Text ihnen wortwörtlich in Fleisch und Blut übergehen. Zu singen bringt Körper und Geist in Bewegung. Und in Kirchenchören treffe ich Menschen, die zwar nicht an Gott glauben. Aber beim Singen spüren: Durch diese Welt zieht sich eine überirdische Melodie. Ich glaube: Wer singt, findet die Harmonie des Lebens.

Miteinander zu singen – auch wenn nicht jeder Ton passt – ist ein großes Geschenk. Wer gemeinsam singt, teilt miteinander die Stimme. Wer gemeinsam singt, teilt Zeit miteinander. Und ich finde: Wer singt, lässt sich nicht unterkriegen. Das erleben alle, die singen. Musik tut gut. Man fühlt sich freier und unbeschwert.

Singen setzt Energie frei

In der Bibel wird davon erzählt, dass Gesang sogar Fesseln sprengen kann. Es heißt: Paulus wurde mit seinem Mitarbeiter Silas in den Kerker geworfen. Um ganz sicher zu gehen, dass Paulus und Silas nicht fliehen, wurden den beiden Fußfesseln angelegt. Ihre Lage war aussichtslos und bedrohlich. Mit Fluchthilfe konnten sie nicht rechnen.

Trotzdem, erzählt die Bibel: Um Mitternacht beginnen beide, zu singen. Genauer heißt es: „sie lobten Gott“. Vermutlich haben sie religiöse Lieder gesungen. So, wie die Sklaven auf den Baumwollfeldern in Amerika. Oder wie die Anhänger der Reformation zur Zeit Luthers. Sie haben Lieder vom Vertrauen auf Gott gesungen. Und das hat ihnen Mut gemacht. Das hat ihnen Kraft gegeben.

Bei Paulus und Silas im Gefängnis ist ein Wunder geschehen. Die Erde bebt, die Ketten reißen, die Tür zum Kerker geht auf. Wie genau das möglich war? Keine Ahnung.

In der Bibel ist der Clou der Geschichte, dass der Kerkerwächter vom Gottvertrauen der beiden so beeindruckt ist, dass er sich mit seiner Familie taufen lässt.  Die Lieder vom Gottvertrauen haben also zwei Dinge bewirkt: Paulus und -Silas haben ihre Freiheit zurück. Und sie haben auch andere beeindruckt und ihnen Gottvertrauen vermittelt.

Ich weiß: Wenn ich heute mit Menschen singe, dann werden sie nicht wie durch ein Wunder gesund. Ich weiß: Körperliche oder seelische Fesseln zerspringen nicht einfach. Trotzdem mag ich diese Geschichte. Sie beschreibt, wie viel Energie im gemeinsamen Singen liegt. Zum einen will ein Kerkerwächter in Zukunft mitsingen. Zum anderen vertreibt Gesang die Hoffnungslosigkeit.

Letzte Woche habe ich mich mit Frau Schwertfeger unterhalten. Sie ist 55 Jahre alt. Sie arbeitet gerne und viel. Manchmal hängt ihr die Arbeit aber zum Halse raus. Dann wird ihr alles zu viel und am liebsten würde sie die ganze Arbeit einfach hinschmeißen. Sie hat mir erzählt: Wenn ich keine Energie mehr habe, dann singe ich ‚Der Himmel geht über allen auf. Das habe ich im Kindergottesdienst gelernt. Das ist jetzt über 40 Jahre her, aber damit lade ich immer noch meine Batterien auf. Dann wird der Himmel wieder weit über mir. Und dann geht es weiter.

Gerade so, als würde die Stimme die Seele aus der Hoffnungslosigkeit rausziehen. In diesem Sinne hat Martin Luther mal gesagt, dass die Musik ein Geschenk Gottes ist. Ich singe gern, weil ich das auch schon genauso erlebt habe.

Ich hoffe, ich konnte Sie mit meinen Geschichten ermutigen, heute das Singen mal auszuprobieren. Vielleicht haben Sie ja ein Lieblingslied. Vielleicht ist es sogar ‚Maria durch ein Dornwald ging‘, wie bei der Frau, die ich besucht habe. Ich weiß jetzt: Das kann man auch im Mai noch singen.

Ich wünsche Ihnen eine gesegnete und melodiöse Woche.

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