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SWR2 Wort zum Tag

22AUG2023
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Wann sind Sie zuletzt einem weisen Menschen begegnet? Ich finde, die Spezies ist rar gesät. Ich kenne viele intelligente Menschen, manche sind raffiniert und gewitzt. Aber weise? Ich stelle mir vor, dass in einer Talkshow die Position der Weisheit besetzt werden müsste. Keine einfache Aufgabe, zumal die Logik einer Talkshow eher auf Krawall gebürstet, denn auf Weisheit hin ausgerichtet ist. Dabei braucht diese Welt dringend Menschen mit dieser Kompetenz. Weisheit ist nämlich die Gegenlogik zum Krieg, meint Aleida Assmann. Die Kulturwissenschaftlerin betont, dass Weisheit darauf ausgerichtet ist, die sozialen Kräfte im Menschen zu stärken. Diese Stärkung hilft dann, Gewalt zu vermeiden. Ein weiser Mensch kennt kein Entweder-Oder. Die Weisheit ist in der Lage, Verschiedenes nebeneinander stehen zu lassen. Schon deshalb hebelt die Weisheit die einfache Logik des Kriegs aus, die die Welt in Freund und Feind einteilt und den Feind vernichten will. Der Krieg hat eine bequeme Logik, die Logik der Weisheit ist dagegen komplex, so vielfältig wie die Welt und das Leben der Menschen. Mir leuchten die Einsichten von Frau Assmann unmittelbar ein.

Wenn ich mich so damit beschäftige fallen mir tatsächlich zwei Menschen ein, die ich als weise bezeichnen würde. Ein Jesuit, bei dem ich jahrelang Exerzitien besucht habe. Und meine Großmutter. Wenn sie gesprochen haben, habe ich genau zugehört. Sie haben mich nicht bevormundet oder verurteilt, sondern wahrgenommen. Sie konnten übrigens beide auch gut zuhören. Sie waren lebensweise und lebensklug.

Immerhin: In einer großen Wochenzeitung gibt es inzwischen eine Kolumne, in der bekannte Zeitgenossen nach dem gefragt werden, was sie gerne früher gewusst hätten und gerne an die Mitwelt weitergeben möchten. Also so eine Art Weisheiten-Börse. „Die Beschäftigung mit der Antike schützt vor den Torheiten der Gegenwart,“ meint da einer. Derselbe Zeitgenosse hat noch den Tipp parat: Lass beim Kochen öfter mal die Sau raus. Nun ja.

Unsere so vielfältig bedrohte Welt braucht dringend weise Menschen. Mir scheint, Aleida Assmann ist auch eine von ihnen. Es lohnt sich, ihr zuzuhören. Sie macht mir Mut zur Logik der Weisheit. Eine Logik der sozialen Stärkung. Gegen die Logik des Kriegs.

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SWR2 Wort zum Tag

21AUG2023
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Manchmal erlebt man mitten am Tag eine kleine Sternstunde. Es ist wie die Ahnung einer fremden, wunderbaren Wirklichkeit. Sternstundenmomente brauchen besondere Räume. Einen stillen Wald, Licht, das sich durch die Baumwipfel bricht, eine alte Kirche. Und plötzlich geschieht es.

Sternstundenmomente sind Augenblicke vollkommener, fragloser Klarheit. Das Gefühl, eins zu sein mit sich und dem Universum. Christen sagen: Es sind Augenblicke von Gottesnähe, in denen sich spüren lässt, was das Heilige ist.

Sternstundenmomente sind reine Geschenke. Niemand kann solche Augenblicke zwingen. Dennoch kann man etwas dafür tun. Die Stille suchen. Ein Schweigen aushalten. Natur auf sich wirken lassen oder heilige Räume.

Es gibt aber auch Menschen, die solchen Sternstunden lieber ausweichen mögen. Der große Dichter Mörike gehörte wohl zu dieser Sorte. „Wollest mit Freuden mich nicht überschütten...“ bittet er in einem Gedicht. Mörike hat gewusst, dass man Sternstunden nicht auf Dauer besitzt, sie sind Geschenke des Augenblicks. Um von tiefem Leid verschont zu bleiben, verzichtet er lieber auch auf die höchsten Freuden. Das Mittelmaß scheint ihm das Angenehmste: „In der Mitte liegt holdes Bescheiden“ war sein Fazit.

Sicher, der Abschied von der Sternstunde kann schmerzhaft sein. Auf der anderen Seite verpasst man auch viel, wenn man ihr bewusst ausweicht. Wollest mit Freuden mich nicht überschütten... Das wäre nicht mein Gebet. So bescheiden will ich gar nicht sein.

Ich möchte lieber, wenn auch nur für wenige, kostbare Augenblicke, den Himmel offen sehen. Denn oft genug muss ich doch auch einen Blick in schlimme Abgründe werfen, manche Menschen erleben gar die Hölle. Im Krieg. Auf der Flucht. In den Sternstunden-Augenblicken merke ich, dass die Hölle nicht das letzte Wort hat. Dass wir Menschen, auch wenn wir das nicht ständig merken, doch umgeben sind von einer größeren, berauschend schönen Wirklichkeit.

In Sternstunden-Augenblicken spüre ich das. Und diese Augenblicke hinterlassen Sternenstaub in meinem Leben. Da ist ein neuer Glanz. Darum:

Jeder Mensch darf ruhig darum bitten, mit Freude überschüttet zu werden, in kostbaren, besonderen Momenten. Warum nicht schon heute?

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SWR2 Wort zum Tag

12JUL2023
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In meiner Nachbarschaft gibt es einen wunderschönen Vorgarten. Üppig wuchern Rosen über den Gartenzaun und betören mit ihrem Duft. Zwei Feigenbäume tragen reichlich Früchte, Zitronenbäume leuchten gelb. Jedes Mal, wenn ich an diesem Garten vorbeigehe, erfreue ich mich an seiner Pracht. Ich schnuppere an den Rosen und genieße ihren Duft. Ich sehe auch viele andere Menschen, die vor diesem Garten stehenbleiben. Oft schon hatte ich mich gefragt, wieso jemand sich so viel Mühe mit einem Garten macht. Im Vorgarten steht keine Bank. Er ist offenbar nur aus Liebe zu den Pflanzen so schön angelegt. Oder – wer weiß – vielleicht aus Zuneigung zu den Menschen.

Häufig sieht es ja ganz anders aus. Da gibt es Vorgärten des Grauens, die lediglich aus Schottersteinen bestehen, zwischen denen Ziergräser ihr trübes Dasein fristen. Oder die Gärten sind abgeschlossen. Der verschlossene Garten, der hortus conclusus, ist ein wichtiges Thema der Kunst und biblisch angeregt. Im biblischen Hohelied heißt es (Hld 4, 12): Ein verschlossener Garten bist du, meine Schwester, meine Braut. Du bist wie ein Lustgarten von Granatäpfeln mit edlen Früchten. In der bildenden Kunst des Mittelalters, die das Motiv des verschlossenen Gartens aufgreift, gehört die Rose unbedingt in einen solchen Garten, Mystiker und Künstler nehmen das auf – bis in die Gegenwart.

Doch hier, mitten in einem städtischen Vorgarten, blüht das Paradies nicht verborgen, sondern für alle sichtbar und stellt sich den Vorbeigehenden zur Verfügung. Die Rosen hängen über den Gartenzaun und spenden ihren Duft.

Neulich habe ich dann zum ersten Mal einen Mann gesehen, der im Garten gearbeitet hat. Ich habe mich erkundigt, ob er der Besitzer ist. Sehr zurückhaltend hat er das bestätigt. Es wirkte so, als hätte er die Befürchtung, ich würde mich gleich über die Rosen beschweren, die über den Zaun hängen oder über deren Dornen. Angst vor der typisch deutschen Beschwerdekultur. Ich habe mich stattdessen bedankt. Ich habe ihm erzählt, dass ich mich jetzt schon seit mehreren Jahren an seinem Garten erfreue und es gar nicht selbstverständlich finde, dass er so viel Arbeit investiert. Ja, er macht Arbeit, der Garten hat der Mann bestätigt. Sehr viel Arbeit. Ich hatte den Eindruck, ich bin die erste, die dafür Danke sagt. Der Mann hat sich sehr darüber gefreut.

Heute gilt mein Gruß allen, die aus ihren Vorgärten kleine Paradiese machen, sich selbst und anderen zur Freude. Sie bringen ein Stück Himmel auf unsere so bedürftige Erde. Ihnen gebührt Dank! Manchmal darf das Paradies auch gerne öffentlich sichtbar sein.

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SWR2 Wort zum Tag

11JUL2023
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Herbert Blomstedt ist ein weltbekannter, hoch angesehener Dirigent. Eine lebende Legende. Heute feiert er Geburtstag – er wird 96 Jahre alt und ist damit der dienstälteste Dirigent weltweit. Gerade tourt er auf einer umjubelten Tournee durch Deutschland. „Dirigent zu sein ist ein guter Beruf, um alt zu werden,“ meint Blomstedt und ist selbst der beste Beweis dafür.

Was ihn auszeichnet: Er kann gut zuhören, und er tut es gerne. „Wenn man einander gut zuhört, braucht man nur sehr wenig zu besprechen,“ meint er. Wo andere laut werden oder die große Geste pflegen, nimmt Blomstedt sich zurück. Wer, so wie ich, das Glück hat, ihm bei einem Konzert zu begegnen, erlebt einen großen, charmanten, sehr einfühlsam und mit sparsamen Gesten agierenden Herrn, dem man sein Alter wahrlich nicht anmerkt.

Zuhören können – das ist nicht nur eine Kunst, es ist auch eine Kultur, eine Haltung. „Nicht alles, was man hört, mag einem gefallen,“ stellt Blomstedt fest. Dennoch öffnet er seine Ohren. Denn: „Ein Dirigent ist nur ein Zuhörer.“ Gerade weil er zuhören kann, kann er die Musiker auch leiten und führen und den Klang prägen.

Blomstedt bedauert, dass seit den 1960er Jahren der Musikunterricht zugunsten technischer Fächer in den Schulen vernachlässigt wird. Wie gut, dass es einen neuen Trend zum Singen in Chören gibt. Kaum vorstellbar, dass ein Chor funktioniert, wenn alle sich gegenseitig nur anschreien. Es geht nur, wenn eine auf den anderen hört. Zuhören kann man lernen.

So wie Blomstedt das Geheimnis seiner Kunst schildert, könnte auch eine Definition von Seelsorge klingen. Zuhören können. Tatsächlich findet der Dirigent, dass Musik auch eine spirituelle Dimension hat, er selbst ist Christ.

„Ohne Kunst und Religion verkommt der Mensch zu einem intelligenten Tier,“ sagt er sehr pointiert. Mag sein, dass da nicht jeder inhaltlich mitgehen mag. Aber warum sollte jemand, der das Zuhören so kultiviert hat, nicht auch deutlich seine Meinung sagen.

Heute an seinem Ehrentag sei ihm eine Schar von Gästen gegönnt, die Lust haben, Herbert Blomstedt zuzuhören, wenn er von den vielfältigen Begegnungen in seinem langen Leben erzählt und von der Faszination der Musik. Ich selbst habe mich von ihm inspirieren lassen. Es ist so wichtig, die Ohren zu öffnen. Für Musik. Für andere Menschen. Ich finde mit Blomstedt: Auch für Gott.

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SWR2 Wort zum Tag

10JUL2023
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Das Glück ist manchmal für kleines Geld zu haben. Ich habe es ausprobiert. Mit meiner Enkelin. Sie ist ein großer Fan von Seifenblasen, und so habe ich ein kleines Döschen Seifenblasen gekauft, für einen Euro und 98 Cent. Weil meine Enkelin nicht gerade die Geduldigste ist – das hat sie mit ihrer Omi gemein – musste ich sofort und auf der Stelle die ersten Seifenblasen produzieren. Das war mitten in der Fußgängerzone, und die Kleine ist jauchzend den kleinen und großen Seifenblasen hinterhergelaufen. Ich weiß gar nicht, wann ich zuletzt so viele lächelnde Gesichter gesehen habe. Mitten im hektischen Treiben der Fußgängerzone gab es plötzlich eine Insel der Freude, der unbeschwerten Leichtigkeit. Die bunt schillernden Seifenblasen schwebten über dem Asphalt, eine flog sogar richtig weit nach oben Richtung Himmel.

„Wer ist der Größte im Himmel?“ haben die Jünger Jesus einmal gefragt. Jesus hat dann ein Kind gerufen und gesagt: „Wenn ihr nicht umkehrt und wie dieses Kind werdet, könnt ihr den Himmel nicht erben.“ An diesem Tag in der Fußgängerzone habe ich verstanden, was Jesus damit gemeint hat. Es ist einfach himmlisch, wie Kinder sich der Freude am Leben, der Leichtigkeit eines Augenblicks unbeschwert hingeben können, wie sie jauchzen können über die Schönheit einer Seifenblase. Leider ist die Sache mit der Umkehr nicht so einfach, mir scheint sogar: Sie ist unmöglich. Ich bin kein Kind mehr. Und bei Seifenblasen denke ich zuerst an zerplatzte Träume. In der Tat war die Seifenblase in der humanistischen Literatur ein populäres Motto für die Vergänglichkeit. Ein Glasfenster aus dem 16. Jahrhundert zeigt zwei mit Seifenblasen spielende Kinder unter der Überschrift: Sic transit gloria mundi – so vergeht die Herrlichkeit der Welt.

Das ist sicher alles richtig und eine wertvolle und kluge Mahnung. Zugleich macht sie etwas madig, was ich mir nicht mehr madig machen lassen möchte: Die Freude am schillernden Augenblick, an der Freude, die ausstrahlt. Deshalb möchte ich es umgekehrt angehen und die Perspektive nutzen, zu der Jesus einlädt – und die mir meine Enkelin vorlebt! Es gibt wunderschöne, schillernd-glänzende Augenblicke im Leben, die zwar vergänglich, aber trotzdem oder vielleicht gerade deshalb kostbare Glücksmomente sind. Manchmal ereignen sie sich mitten in Fußgängerzonen.

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SWR2 Wort zum Tag

03JUN2023
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Gerade haben sie in Frankfurt ein großes Fest gefeiert: Das Jubiläum des ersten deutschen Parlaments, das 1848 zum ersten Mal in der Paulskirche getagt hat. Tausende Menschen sind dort zusammengekommen, auch der Bundespräsident war dabei, es gab ein großes Musikprogramm. Alle haben den Anfang unserer Demokratie gefeiert, für die viele Menschen unter Einsatz ihres Lebens gekämpft hatten. Auch Künstler hatten sich damals eingesetzt und Wege geebnet, allen voran Ludwig van Beethoven. Seine 3. Symphonie, genannt Eroica, die Heroische, die er in den Jahren 1802/03 komponiert hatte, wurde zu einer Hymne der Bewegung. Schon Beethoven musste allerdings erleben, dass die Helden der Freiheit sehr schnell zu ihren ärgsten Gegnern werden konnten. Aus dem Freiheitshelden Napoleon wurde der Kaiser und Kriegstreiber. Und auch die hoffnungsvollen Anfänge der Frankfurter Paulskirche sind bald von den Fürsten wieder brutal zertreten worden. Sogar die Eroica selbst wurde von Leuten vereinnahmt, die mit den Idealen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit rein gar nichts mehr zu tun hatten.

Der Schwachpunkt auch des ehrlichsten Kampfes für die Freiheit des Menschen ist leider - der Mensch. Sogar menschliche Freiheitshelden haben die ungute Tendenz, ihre Macht irgendwann wichtiger zu finden als die Freiheit ihrer Mitmenschen, für die sie einmal angetreten sind. Und auch Musik ist nicht davor gefeit, vereinnahmt zu werden.

Demokratie ist kein Selbstläufer, das hat auch der Bundespräsident betont. Sie braucht aktiven Einsatz. Das ist ganz im Sinne Jesu. Im Matthäusevangelium sagt er: Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun. So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener; und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Knecht, so wie der Menschensohn nicht gekommen ist, dass er sich dienen lasse.

„Zur Freiheit hat euch Christus befreit“ fasst Paulus das später zusammen.

Ich bin mir sicher, schon die ersten Christen haben dazu gesungen. Lieder von Freiheit und Menschenwürde.

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SWR2 Wort zum Tag

02JUN2023
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Das deutsche Adjektiv frei stammt von einer indogermanischen Wurzel ab, die unter anderem gern haben und lieben bedeutet. Das ist eine sehr tiefsinnige Erkenntnis, die uns unsere deutsche Sprache da aufzeigt. Freiheit wächst aus Liebe, die Wurzel der Freiheit ist die Liebe. Das mag nun alle erstaunen, die bei Freiheit zuerst an völlige Unabhängigkeit denken. Doch eine solche Freiheit ohne Bindung an andere ist schiere Illusion. Kein Mensch kann ohne andere Menschen leben. Ausnahmslos jeder und jede braucht vom ersten Atemzug an andere Menschenwesen, um zu leben und sich zu entwickeln. Wirkliche Freiheit entsteht dann, wenn man diese Beziehungen leichtfüßig leben kann, so selbstverständlich wie einen Atemzug. Wirklich frei ist man erst, wenn man liebt. So liebt, dass man sich selbst vergisst.

Naturgemäß ist das kein Dauerzustand. Vielleicht wäre das auch gar nicht zu ertragen, wer weiß… Jedenfalls denken auch liebende Menschen immer wieder mal nur an sich, sind egoistisch und stellen ihre Bedürfnisse an die erste Stelle. Aber alle, die schon einmal geliebt haben oder lieben, kennen den Effekt, dass man aus Liebe Hunger, Durst, Schlaf und sogar die eigenen Wünsche vernachlässigen kann. Und das ist tatsächlich die größte Freiheit, die wir Menschen erleben können: wenn wir uns selbst vergessen können. Man nennt das auch: Hingabe. Es ist die Erfahrung, völlig befreit zu sein von egoistischen Gefühlen. Manche Menschen erleben das auch in ihrer Beziehung zu Gott.

Aus christlicher Perspektive hat Jesus eine solche Freiheit vorgelebt. Wer nur auf sich und seine Bedürfnisse schauen kann, der verliert sein Leben, sagt Jesus im Lukasevangelium. Wer jedoch sich selbst vergessen und lieben kann, der gewinnt sein Leben. So ist es wirklich: Das Leben fühlt sich anders an, wenn ich lieben kann. Reich, besonders, einzigartig, kostbar. Ich finde es übrigens besonders schön, dass man diesen Zustand völliger Freiheit nicht kaufen kann. Zu lieben und geliebt zu werden ist reines Geschenk.

Zeiten der Liebe sind die kostbarsten Momente unseres Lebens. Wer sie einmal kennengelernt hat, weiß, was es heißt, wirklich frei zu sein.

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SWR2 Wort zum Tag

01JUN2023
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Eines meiner liebsten Märchen ist das von Hans im Glück. Die Geschichte vom dummen Hans, der mit einem Klumpen Gold loszieht, diesen für ein Pferd tauscht, das Pferd für eine Kuh, die Kuh für ein Schwein, das Schwein für eine Gans. Zuletzt lässt er sich von einem Scherenschleifer einen alten Wetzstein andrehen, der ihm prompt in einen Brunnen fällt. So kommt er mit leeren Händen nach Hause.

Wie kann man nur so dumm sein? könnte man fragen Der Klumpen Gold war doch wertvoll, Hans hätte sich eine ganze Pferdeherde dafür kaufen können, Kuh Schwein und Gans noch dazu. Und der Tölpel merkt noch nicht einmal, dass sich alle über ihn lustig machen und ihn übers Ohr hauen. Am Ende ist der närrische Kerl noch froh darüber, dass er auch noch seine letzten Habseligkeiten verliert und kehrt glücklich zu seiner Mutter zurück. Na, die wird ihm aber was erzählt haben!

Es bleibt aber die Frage, wer die eigentlich Dummen in diesem Märchen sind. Ich meine: Der Hans ist es nicht. In seiner unschuldigen Naivität ist er nämlich die glücklichste Figur in der ganzen Geschichte. Er bekommt ja alles, was er sich wünscht, und er muss es sich noch nicht mal ergaunern. Sogar für den Verlust des Wetzsteins dankt er am Ende Gott auf den Knien: der Stein war ihm doch arg lästig gewesen. Wie armselig sehen dagegen diejenigen aus, die ihm auf seinem Weg begegnen. Ihre diebische Freude wirkt schal gegen die ehrliche Begeisterung des Jungen.

Ob sie später wenigstens Gewissensbisse hatten, weil sie einen einfältigen Menschen betrogen haben? Ich fürchte: Nein. Doch dem Märchen ist ihr weiteres Geschick gleichgültig. Es blickt auf Hans im Glück. Während die anderen in ihren Begierden gefangen bleiben, ist der zum Schluss ganz frei. Und diese Freiheit kann sich niemand erhandeln oder ergaunern, da hat Hans ganz recht, dass er Gott dafür dankt. Befreit von jeder Last läuft er zu seiner Mutter. Während die anderen auf ihre Beute starren, blickt Hans einem lieben Menschen in die Augen.

Seine Mutter wird ihm sicherlich viel erzählt haben. Sie wird ihm erzählt haben, wie sehr sie sich darüber freut, dass er wieder zuhause ist. Sie wird ihren Hans in die Arme genommen haben. Vielleicht haben beide dann gemeinsam Gott dafür gedankt, dass er ihnen das Wertvollste geschenkt hat, das es gibt: die liebevolle Zuneigung eines Menschen.

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SWR2 Wort zum Tag

08MRZ2023
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Atmen kann man als rein physiologischen Vorgang begreifen. Sauerstoff wird vom Organismus aufgenommen und Kohlendioxid wieder abgegeben. Das ist eine Beschreibung aus biologischer Perspektive. Atmen ist jedoch mehr. Eine Atemtherapeutin hat einmal gesagt: Man ist, wie man atmet. Diese Aussage hat Bezüge zum biblischen Verständnis von Atem. Denn in der Bibel steht der Atemvorgang für den ganzen Menschen und seine Persönlichkeit.

Die Bibel sieht die Verbindung zwischen dem Atem, der in uns strömt, und dem Geist, der in uns atmet. Und wenn wir sagen, dass wir Luft zum Atmen brauchen oder dass uns etwas die Luft nimmt, dann meinen wir mehr als das körperliche Geschehen.

Atmen geschieht buchstäblich nicht im luftleeren Raum. Die Räume, in denen wir uns aufhalten und bewegen, haben einen direkten Einfluss darauf, wie frei oder mühsam wir atmen können. Ist der Raum hell und luftig, oder vollgestellt und drückend eng, eine „dumpfe Stube“. All das hat Auswirkungen auf unser Atmen und auf unseren Geist. Besonders betroffen davon sind unsere Kinder, die sich nicht aussuchen können, in welchen Räumen sie leben und atmen müssen.

Ich erinnere mich noch genau an die Schule, in der ich in meinen ersten Amtsjahren Religionsunterricht gegeben habe. An die schmutzigen Wände in dem düsteren Gebäude aus der Jahrhundertwende, das genauso gut eine Kaserne hätte sein können. Es ist sträflich, dass nach wie vor Kinder in lieblos gestalteten, angsteinflößenden Schulgebäuden lernen müssen. Bei manchen Gebäuden aus den sechziger Jahren weiß man nicht, was gefährlicher ist: Asbest in den Dächern oder die Architektur. Oft genug fällt dann noch der Sportunterricht an der frischen Luft aus – im einzigen Freiraum, in dem ein frischer Wind wehen kann. Das ist ein Skandal in einem reichen Land wie der Bundesrepublik.

Menschen - und besonders unsere Kinder - brauchen Räume, in denen sie den Geist der Menschlichkeit atmen und sowohl ihre Lungen als auch ihre Kreativität entfalten können. Wir Menschen - junge und alte - brauchen inspirierende Räume.

Als Christin meine ich: Wir brauchen Räume, in denen Gottes schöpferischer Geist wehen kann, und in denen wir diesen Geist atmen und uns inspirieren lassen können.

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SWR2 Wort zum Tag

07MRZ2023
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Nach der biblischen Schöpfungsgeschichte formt Gott den Menschen aus Erde und bläst ihm den Atem des Lebens in seine Nase. Dieses biblische Bild beschreibt, dass wir Menschen Anteil haben an der göttlichen Kraft. In uns atmet der Geist Gottes. In besonders wertvollen Augenblicken kann ich das deutlich fühlen, und es bewegt mich bis in die Tiefen der eigenen Persönlichkeit. Ich habe die Geburt meines Kindes so erlebt, den ersten Schrei, wenn - bleiben wir einmal bei den Worten der Bibel - Gottes Atem in ein Neugeborenes strömt. Der erste Atemzug, das Wunder der Schöpfung. Ich finde es ein großartiges Bild, dass Gottes Atem in uns fließt und unsere Lungen und unser Leben, unsere ganze Persönlichkeit erfüllt. Es ist die göttliche Schöpfermacht, die uns am Leben hält und in jedem Atemzug erfahrbar werden kann.

Sicherlich ist es daher kein Zufall, dass unsere menschliche Fähigkeit, selbst kreativ zu wirken, mit Atem assoziiert wird - und zwar mit einem göttlichen Atem. Sprichwörtlich wird der Künstler durch die Muse geküsst. Ein Kuss - Atem vermischt sich, die Muse haucht ihre Inspiration ein, und so wird der Mensch fähig zum gestalterischen Prozess.

Ich glaube, dass alle Menschen so geküsst sind, mal mehr, mal weniger lang.

Dem finnischen Komponisten Sibelius ist es nach seiner 7. Symphonie nie gelungen, eine 8. zu schreiben. 30 Jahre lang hat ihn dann in der Einsamkeit der Inseln und Seen seines Heimatlandes eher der Geist des Alkohols erfüllt als der der Musik. Er hat es sozusagen nur unter Narkose ertragen, dass er nicht mehr geistvoll komponieren konnte.

Andere konnten damit besser umgehen. Richard Wagner hat einmal seinen Kollegen Rossini besucht, der – zwar immer noch berühmt und hochgeehrt – jedoch längst die Lust verloren hatte, Opern zu schreiben. Seine Leidenschaft galt inzwischen der Kochkunst. Als Wagner ihn in ein tiefsinniges Gespräch über die Zukunft des Musikdramas verwickeln wollte, hat ihn Rossini mit dem Hinweis unterbrochen: "Ich muss jetzt in die Küche!" Seine berühmten Tournedos Rossini verlangten eben die volle Aufmerksamkeit. Wagner hat den Ort des Geschehens schließlich entnervt verlassen.

Ich vermute: Rossini muss ein sehr glücklicher Mensch gewesen sein. Das wünsche ich mir auch: Dankbar sein für die schöpferischen Küsse, die ich empfangen habe, gelassen mit dem Ausbleiben umgehen können. Dankbar für mein Leben, das sich einem solchen schöpferischen, göttlichen Kuss verdankt. Und, ganz nebenbei, für die anderen Küsse auch.

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