Alle Beiträge

Die Texte unserer Sendungen in den SWR-Programmen können Sie nachlesen und für private Zwecke nutzen.
Klicken Sie unten die gewünschte Sendung an.

Filter
zurücksetzen

Filter

Datum

SWR2

 

Autor*in

 

Archiv

SWR2 Zum Feiertag

Überwältigend schön ist der Wanderpfad durch die Schweizer Berge. Leuchtende Alpenblumen links und rechts des Weges. Die Anstrengung des Aufstiegs wird großzügig entlohnt durch den grandiosen Blick, der sich auf erreichter Höhe öffnet: schneebedeckte Gipfel, tiefe Täler, weite grüne Almen. Glück erfüllt die Seele!

Unerwartet taucht ein Wegkreuz an der Strecke auf: Ausgemergelt, elend und mit schmerzverzerrtem Blick hängt dort ein Mensch am Holz. Es ist eine Darstellung der Kreuzigung Jesu. Unter dem ans Kreuz genagelten Leidenden lese ich: „Steh still Sünder, schau mich an,/ Das haben mir deine Sünden gethan."

Die Idylle meiner Bergwanderung ist jäh unterbrochen. Denn das Wegekreuz mahnt gestreng: „Schau, wie unendlich Jesus leiden musste; kein Leiden ist so grausam wie seines! Du, Du großer Sünder bist daran schuld, denn Deine Sünden haben Jesus ans Kreuz gebracht!"

Genauso klingt sie manchmal, die christliche Botschaft vom Karfreitag: Das Kreuz Jesu zeige die Größe der menschlichen Sünde, die Schlechtigkeit menschlicher Natur, heißt es dann. Die Sünde der Menschen sei so groß, dass Gott nur zwei Möglichkeiten blieben: entweder er bestraft die Menschen für ihre Sünden oder er bestraft statt ihrer seinen eigenen Sohn. Allein durchs Strafen, grausam vollzogen am eigenen Sohn, könne Gottes Zorn über die Menschen sich beruhigen.

Wird vom Kreuz so geredet, dann erscheint Gott ausschließlich als strenger, unnachgiebiger Richter - und der Mensch nur als zu verurteilender Sünder. Das Kreuz am Wegesrand, das Kreuz auf einem kirchlichen Altar wird damit zum beklemmenden Zeichen der unendlichen Kluft zwischen Gott und Mensch, zum Gestalt gewordenen Vorwurf an den Menschen.

Mehr noch: Das Kreuz erscheint als Ermahnung zu Lebensverneinung und Lebensverzicht. Wenn Jesus so leiden musste, wie kann man sich selbst dann der Freude und dem Vergnügen hingeben, wie darf man dann im eigenen Leben glücklich sein? Der Philosoph Friedrich Nietzsche sah scharf: ein so verstandener Gott sagt „dem Leben, ... dem Willen zum Leben die Feindschaft an"; er ist „die Formel für jede Verleumdung des ‚Diesseits'". 

Das Kreuz, eine einzige Vorhaltung, die uns wegen unseres Versagens, aber auch ob unserer Freuden und Heiterkeiten anklagt und zur Verantwortung zieht. Kein Wunder, dass ein solches Kreuz unser Leben vergiftet. Es macht uns ängstlich und klein - oder im besten Fall wütend und zornig. Ängstlich und klein, weil wir stets darauf achten, nicht zu sündigen - oder zumindest mit unseren vermeintlichen Sünden nicht aufzufallen. Oder wütend und zornig, weil wir spüren, wie sehr eine solche Vorstellung unser Leben beschneidet, uns einengt und beschwert. Mich selbst hat eine solche Vorstellung vom Kreuz lange Jahre vor allem ängstlich und klein gemacht, ständig darauf bedacht, möglichst keinen Fehler zu machen, um vor diesem strengen Gott nicht noch mehr zu versagen. - Es hat lange gebraucht, bis mir klar wurde: ich darf auf eine solche Kreuzesbotschaft wütend sein, weil sie mich bange und freudlos macht. Es hat Jahre gedauert, bis ich gemerkt habe: Die Vorstellung vom Kreuz als einer Gott zu zahlenden Strafe und als Mahnmal für unsere Sünden ist nicht die einzig mögliche Leserart des Kreuzes Jesu. Wie kann man es dann verstehen?

Halten wir inne und fragen beherzt: Stimmt es denn, dass, wie man uns oft weißmachen will, das Leiden dieses Jesus unendlich ist, größer und schwerer als alles andere menschliche Leid? Die Antwort lautet schlicht: Nein! Menschen haben länger und schmerzlicher gelitten, sind grausamere Tode gestorben als dieser Mann vor 2000 Jahren in Jerusalem. Menschen wurden gründlicher gefoltert, mussten elender verrecken als Jesus auf Golgatha. Die Besonderheit des Kreuzes Jesu kann nicht in einer noch nie dagewesenen Schwere des Leidens Jesu liegen. Worin aber dann?

Das Besondere des Kreuzes ist darin zu finden, dass am Kreuz nicht nur ein Mensch hängt, sondern nach christlicher Vorstellung Gott selbst. Denn, so glauben die Christen, dieser Mensch Jesus ist Gott. An Weihnachten wird daran gedacht: Gott hat sich in einem kleinen Kind dieser Welt zugewandt. Dieser Glaube an die Gegenwart Gottes in Jesus hört angesichts des leidenden Jesus am Kreuz nicht auf. Das will sagen: In Jesu Kreuz erfährt nach christlicher Vorstellung Gott selbst, was menschliches Leid bedeutet. Gott betrachtet menschliches Leiden nicht unberührt und distanziert von einem Ort jenseits dieser Welt, sondern er erlebt es förmlich am eigenen Leib. Gott selbst erleidet am Kreuz Schmerzen, Elend und die Einsamkeit des Ausgestoßenseins an den Rand der menschlichen Gesellschaft.

Diese Einsamkeit verschärft sich im Sterben. Im Sterben ist jeder Mensch radikal für sich. Auch wenn Andere die Hand eines Menschen im Sterben halten - den Schritt durch die Tür des Todes geht jeder allein. Dass Jesus am Kreuz nicht nur gelitten hat, sondern gestorben ist, besagt: In Jesus ist Gott selbst in die Einsamkeit des Todes hineingegangen.

Die Passionsgeschichte der Bibel treibt diese Einsamkeit auf die Spitze: Jesus ruft aus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen!" Jesus kann sich in der Einsamkeit des Sterbens noch nicht einmal durch die Nähe Gottes trösten. Nein, er erlebt Verlassensein sogar von Gott.

Schmerzen und Leid, Sterben und Gottverlassenheit: Jesus widerfahren sie - und damit Gott selbst. Gott lässt sich am Kreuz derart auf den Menschen ein, dass er dessen fundamentalste Einsamkeiten teilt: sein Leid, sein einsames Sterben und die Verlassenheit von Gott.

Doch wenn Gott selbst leidet, stirbt und Gottverlassenheit erlebt, dann bekommen Leid, Tod und Gottverlassenheit ihren Ort in Gott. Fortan trennen den Menschen sein eigenes Leid, sein Tod und erst recht seine eigene Gottverlassenheit nicht mehr von Gott, ist er in ihnen nicht mehr allein. Seit in Jesus Gott selbst diese Tiefen durchlebt hat, gibt es keine wirkliche Gottverlassenheit mehr, ja kommt Gott uns in Situationen vermeintlicher Gottverlassenheit bereits entgegen.

Genau das aber ist die frohe Botschaft von Karfreitag: Indem Gott selbst Leid, Sterben und Gottverlassenheit erlebt, werden das menschliche Leid, das Sterben und die menschliche Gottverlassenheit neu qualifiziert.

Während wir Menschen uns von den Schwachen und Leidenden, von den am Rand der Gesellschaft Lebenden lieber abwenden, hat Gott sich ihnen in Jesus zugewandt. In den Worten Dietrich Bonhoeffers: „... Elend, Leid, Armut, Einsamkeit, Hilflosigkeit und Schuld [bedeuten] vor den Augen Gottes etwas ganz anderes ... als im Urteil der Menschen ... Gott [wendet] sich gerade dorthin ..., wo die Menschen sich abzuwenden pflegen ..."

Der am Kreuz leidende Gott durchkreuzt damit das uns so liebe Denken: Wer leidet, kann nur ein Versager, kann, religiös gesprochen, nur ein von Gott Verlassener sein. Der am Kreuz leidende Gott stellt unsere Zuordnung: Glück und Erfolg bedeuten gesegnet sein, Leid und Misserfolg heißen bestraft werden, fundamental in Frage.

Ist ein solcher Gott nur noch ein Gott der Leidenden und Schwachen? Keineswegs, denn Gottes Mitleiden will nicht mein Leiden verherrlichen. Gottes Nähe im Leid, das Wissen, von ihm auch jetzt nicht verlassen zu sein, sie wollen mir Kraft geben - zumKampfgegen das Leid, damit es eines Tages vorbei ist, und Kraft zum Aushalten, wo Kampf nichts hilft. Dass ich gegen das Leid kämpfen darf, gegen meines und gegen das anderer Menschen, dass ich auf das Ende des Leides, auf Freude und Glück hoffen darf, aber auch zum Aushalten des Leids Kraft durch das Kreuz bekomme, zeigt, dass das Kreuz keineswegs zu Lebensverneinung und Lebensverzicht ermahnt. Das Kreuz ist Einladung zum Leben, zum Leben in seinen Tiefen und seinen Höhn.   

Die Botschaft des Karfreitag lautet: Am Kreuz zeigt sich die Größe der Liebe Gottes, der sich vom Leid der Menschen nicht abwendet, den ihr Elend und ihre Einsamkeit nicht zurückschrecken lässt, sondern der mitten im Leid, mitten in der Trauer, in der Einsamkeit da ist, selbst noch im Tod. Denke ich an meine Wanderung zurück, dann wird mir klar: Unter dem Wegkreuz, das mir auf der Wanderung begegnete, sollte eigentlich stehen: Steh still, Mensch, und sieh: Es gibt nichts, was Dich aus Gottes Hand reißen kann.

Weil es Gottes Hand ist, die den Menschen in seiner Trauer, seinem Leid, seinem Sterben hält, hat der Mensch Grund zu hoffen, dass seine Trauer, sein Leid und sein Tod nicht das letzte Wort haben, sondern dass immer wieder auch in seinem Leben - ja erst recht am Ende seines Lebens - Ostern werden wird.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=7968
weiterlesen...