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SWR2 Wort zum Tag

02NOV2023
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Letzte Woche war's ein wertvolles Weinglas, das mir beim Spülen einfach auseinandergebrochen ist. Und ein paar davor Tage ging mir eine getöpferte Schale zu Bruch. Das Bild mit dem zerbrochenen Rahmen steht immer noch an der Wand. Und erinnert mich jeden Tag aufs Neue daran: Scherben lassen sich manchmal nicht vermeiden. Ob aus Unachtsamkeit. Oder einfach so.

 

Manchmal zerbricht aber auch anderes. In der Beziehung zwischen Menschen. Die Liebe, die ein Paar miteinander verbindet. Das Vertrauen, das in einer langjährigen Freundschaft gewachsen war. Das eingespielte Miteinander zwischen Kolleginnen und Kollegen.

Gleich mehrfach wird in der Bibel das Bild vom zerbrochenen Vertrauen aufgegriffen. Dann wird von Gott als der Kraft gesprochen, die Zerbrochenes wiederherstellt. „Gott heilt, die zerbrochenen Herzens sind“, heißt es etwa in einem Psalm, „und verbindet ihre Wunden.“

Manchmal erzählt mir jemand, warum es in einer Beziehung einfach nicht mehr weitergegangen ist. Und dann höre ich dieselbe Geschichte manchmal auch von beiden Seiten. Dann suche ich nach einer Idee, wie es vielleicht doch noch einmal weitergehen könnte. Wie bei den Scherben aus Ton. Da lässt sich manchmal auch noch einmal etwas reparieren.

In Japan gibt es eine alte, besonders schöne Tradition, mit Zerbrochenem umzugehen. Kintsugi heißt sie. Auf Deutsch: Reparieren mit Gold. Zerbrochene Gefäße werden wieder zusammengeklebt. Aber dann – und das ist das Besondere – werden die Bruchstellen mit Blattgold überzogen. Sie werden nicht verborgen, sondern sollen gerade sichtbar gemacht werden. Umspinnen das neu zusammengefügte Gefäß wie mit goldenen Fäden.

Ins Leben gezogen könnte das heißen: Auch bei zerbrochenem Vertrauen könnte es - manchmal zumindest - weiterhelfen, wenn es gelingt, Bruchstellen mit Blattgold zu überziehen. Das Zerbrechen lässt sich nicht einfach rückgängig machen. Die Spuren bleiben. Wie Narben können die Bruchstellen wirken. Aber mit ihrer Goldauflage sehen sie aus, als seien sie mit Zeichen einer neu erworbenen Schönheit verziert.

Mir hilft gerade mein Glaube beim Versuch, Bruchstellen mit Gold wieder ansehnlicher zu machen und zerbrochenem Vertrauen doch noch einmal eine Chance zu geben. Zum Glück mache ich immer wieder die Erfahrung, dass das geht.

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SWR2 Wort zum Tag

23SEP2023
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Ich liebe den Herbst! Er hat sonnige Tage. Aber die Wärme der Sonne ist wohltuend und erträglich. Die Blätter haben ihr Grün meist schon eingebüßt. Aber bunt sind sie ja noch viel schöner. Irgendwann wird die Kälte des Winters kommen. Aber bis dahin ist es zum Glück noch lang.

Seit meiner Kindheit hat es mit dem Herbst für mich etwas Besonderes auf sich.  Er ist nicht nur der Name einer Jahreszeit. Er ist auch mit einem Tätigkeitswort verbunden. Herbsten, das bedeutet, dass die Trauben in den Weinbergen geerntet werden. Im Moment wird wieder geherbstet! Niemand wintert oder sommert. Aber „herbsten“ – das hat sich als Tätigkeitswort durchgesetzt.

Herbstzeit ist Erntezeit. Der beginnende Herbst – er könnte auch für mich als Mensch, der keinen eigenen Weinberg besitzt, den Einstieg in eine neue Phase im Jahr bedeuten. Ich blicke zurück auf den Anfang des Jahres. Und ich schaue, wo sich vielleicht bald etwas ernten lässt, von dem, was ich gesät und bearbeitet habe. In einer Beziehung. Im Beruf. In einem Projekt, in dem ich mich ehrenamtlich engagiere. Manches ist schon zur Ernte reif. Anderes braucht noch etwas Zeit.

In der Bibel ist das Ernten ein ganz zentrales Thema. Von Oliven und Trauben wird erzählt, die zur Ernte anstehen. Von den reifen Ähren, die geschnitten werden müssen. Im Herbst kommts zum Schwur. Da zeigt sich, was die Menschen zuvor investiert haben. „Der Faule pflügt nicht mehr im Herbst. Er schaut nach der Ernte – und es ist nichts da!“ – so heißt es in einer Sammlung weisheitlicher Sprüche (Sprüche 20,4). Die Versäumnisse des Frühjahrs und des Sommers kommen im Herbst zum Tragen. Aber genauso der Lohn für unermüdlichen Einsatz der letzten Monate.

Ich spüre: Mehr als andere Zeiten wird der Herbst für mich auch zum Bild eines Menschenlebens. Vor allem, wenn’s darum geht zu prüfen, was bleibt. Leben zwischen den Zeiten. Zwischen Sommer und Winter. Zwischen Aufkeimen und Vergehen. Zeit, mit dem, was ich ernten kann, etwas anzufangen, entscheidende Zeit, die mir gewährt wird. Damit ich auch in meinem Leben „herbsten“ kann. Ich hoffe, da lässt sich dann auch einiges an guten Lebensfrüchten ernten. Der heutige Herbstanfang erinnert mich daran.

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SWR2 Wort zum Tag

22SEP2023
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„Kennst du mich noch?“ Immer wieder habe ich solche Begegnungen, die mit dieser Frage beginnen. Ich treffe auf Menschen, mit denen ich in der Schule war. Die ich aus dem Studium kenne. Oder mit denen ich sonst irgendwie zu tun hatte. Auch wenn es manchmal ein paar Sekunden dauert - die meisten erkenne ich dann doch auch wieder.

Erst vor kurzem habe ich wieder jemand getroffen, den ich vor vierzig Jahren das letzte Mal gesehen habe. Und trotzdem war sofort wieder eine Nähe da. Erstaunlich, wie sich die Intensität einer Beziehung auch über einen langen Zeitraum hält.

Über diese vierzig Jahre muss ich seither immer wieder nachdenken. Vierzig Jahre, denke ich – das war doch die Dauer der Wüstenzeit für die Israeliten, der Zeitraum zwischen ihrer Zeit als Sklaven in Ägypten und dem Einzug in ihre neue Heimat, die ihnen wie ein gelobtes Land erscheint. Der biblische Vergleich hinkt natürlich etwas. Hinter mir liegen doch keine Wüstenjahre. Und die Gegenwart ist auch nicht das Gelobte Land. Aber was richtig daran ist: Irgendwann ist eine bestimmte Phase unwiderruflich vorbei. Aufgaben haben sich verändert. Orte, an denen sich mein Leben abgespielt hat. Rollen, die mir zugeschrieben wurden. Aber in allen Brüchen gibt es auch Linien, die weiterlaufen. Der Gott der Sklaven, der Gott der Wüstenzeit und dann auch im neuen gelobten Land – es ist derselbe. Die Beziehung bleibt – mitten in aller Veränderung.

In den meisten Fällen freue ich mich deshalb über die Begegnungen, die mit dem „Kennst du mich noch?“ beginnen. Sie bestätigen mich: Die Beziehung, die einmal war, hat sich nicht einfach aufgelöst. In meinem Kopf, in meinem Gehirn, in meinem Herzen bleibt etwas eingeschrieben. Linien, die unbewusst weiterlaufen. Auch wenn sie manchmal unsichtbar sind.

So kann ich mein Leben in aller Bruchstückhaftigkeit als ein Ganzes sehen. Und in dem, was mein Leben dann zu einem Ganzen macht, sehe ich für mich Gott am Werk. Und Gottes Zusage: „Bis in euer Alter bin ich derselbe!“ (Jesaja 46,4) Gott ist für mich mein bleibendes Gegenüber. In allen Lebensphasen.  Selbst dann, wenn dieses Gegenüber für mich manchmal ganz verschwindet. So wie in andere Beziehungen eben manchmal auch. Mit einem Mal taucht dann Gott ganz überraschend wieder auf: „Kennst du mich noch?“ Dann schaue ich womöglich vierzig Jahre zurück. Vor allem schaue ich zuversichtlich nach vorne.

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SWR2 Wort zum Tag

21SEP2023
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Ich bin nicht schwindelfrei. Und bei anstrengenden Bergtouren komme ich schnell an meine körperlichen Grenzen. Aber ich beneide die Bergsteiger, die sich in den Bergwelten wie in ihrem Zuhause bewegen. So wie den jungen Mann, den meine Frau und ich unlängst als Anhalter mitgenommen haben. Spät am Vorabend, erzählt er, fast um Mitternacht, war er bei einer Berghütte angekommen. Um drei Uhr in der Frühe war er am Vortag mit zwei anderen Bergsteigern aufgebrochen. Drei Gipfel hintereinander haben sie dann bestiegen. Auf einem Grat, den in diesem Jahr bisher noch niemand vorher gegangen war. Der Stolz steht dem jungen Mann ins Gesicht geschrieben, als er davon berichtet.

Ob das nicht doch sehr gefährlich gewesen sei, habe ich ihn gefragt. „Ich glaube, die Fahrt hier auf der Autobahn ist viel gefährlicher!“, gab er zur Antwort. „Man muss sich halt nur immer gut absichern und darf keine Angst haben.“ Und er hat dann noch hinzugefügt: „Das Wichtigste ist nicht der Umgang mit dem Berg und seinen Herausforderungen. Das Wichtigste passiert im Kopf. Ich muss immer präsent sein. Und hellwach. Damit ich genau weiß, was als Nächstes zu tun ist. Und: Wir müssen uns als Gruppe blind aufeinander verlassen können.“

Die Begeisterung des jungen Bergsteigers hat für mich fast religiöse Dimensionen. Ergriffen wirkt er, wenn er von seinen Erfahrungen erzählt.  Darum wundert es mich auch nicht, dass in der Bibel immer wieder die Berge zum Ort der Gottesbegegnung werden. Auf dem Berg, so lesen wir, erhält Mose die Tafeln mit den Zehn Geboten. Und ein in Bedrängnis geratener Mensch betet: „Ich richte meine Augen hinauf zu den Bergen! Von wo anders soll ich sonst Hilfe erwarten? Meine Hilfe kommt doch von Gott, dem Schöpfer!“ (Psalm 121,1+2)

Die gewaltigen Bergmassive, ihre Schönheit, zugleich aber auch ihre riesigen Ausmaße – sie spiegeln für diesen Menschen die Größe und Erhabenheit Gottes wider. Da nehme ich als Mensch meine eigene bescheidenen Größe wahr. Und ein Gefühl der Ehrfurcht. Das hilft mir auch, wenn ich mich auf den Weg mache, um Gott zu suchen. Ich nehme mir vor, andere auch etwas von dieser Begeisterung spüren zu lassen – so wie der junge Mann. In meinem Glauben muss ich nicht einmal schwindelfrei sein. Es reicht, wenn ich mich darauf verlasse, dass da jemand ist, der mich hält.

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SWR2 Wort zum Tag

26AUG2023
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„Ich darf hier doch vorbeigehen?“ Mit einem Strahlen im Gesicht hat uns der Mann dabei angeschaut. „Ja, gerne!“, habe ich gesagt. „Was haben sie denn vor?“ „Ich feiere heute meinen 60. Geburtstag, antwortet er. „Und auf dieser Bank da vorne habe ich schon bei meinem 50. Geburtstag gesessen. Zusammen mit meiner Frau und meinen Kindern. Da muss ich nach zehn Jahren endlich wieder hin.“

Dieses Mal ist der Mann alleine unterwegs. Die Kinder werden aus dem Haus sein. Auch die Frau ist nicht mit dabei. Ich wage nicht nachzufragen, warum das so ist. Aber der Mann wirkt nicht so, als hätte er einen schweren Gang vor sich. Er scheint nicht unterwegs zu sein, weil die Erinnerung an den schönen Tag vor zehn Jahren schmerzt. Eher kommt es mir vor, als hätte er einen Glücksort seines Lebens vor Augen. An diesem Ort möchte er wohl erneut Kraft tanken. Ein Ort, der für ihn so etwas wie Heimat darstellt.

Solche Orte brauche ich auch! Gerade weil die Welt so mobil geworden ist. Berufsbedingte Ortwechsel. Neuanfänge. Belastendes genug. Im Kleinen. Aber derzeit ja auch beim Blick auf die Weltlage. Da ist es gut, wenn ich Orte habe, an denen ich mich sicher fühle. In den alten biblischen Berichten ist die Heimat oft ein Bild für diesen Kraftort. In der Verbannung in Babylon ist vielen Israeliten, die dorthin verschleppt worden sind, von dieser Heimat nur die Sehnsucht nach einer Rückkehr geblieben. Es war für die Menschen ein Leben im Exil. Fern der Heimat. Und die Zusage dieser Rückkehr in die Heimat war dann die große Hoffnung. Der Prophet Jeremia bringt es auf den Punkt, wenn er zu seinen Landsleuten sagt: „Es gibt eine Hoffnung für deine Zukunft: Deine Kinder werden in die Heimat zurückkehren!“ (Jeremia 31,17)

Gegenwärtig habe ich Immer wieder den Eindruck, dass Menschen mit diesem Gefühl des Exils unterwegs sind - ohne dass sie ihre Heimat verlassen mussten. Irgendwie finden sie sich in ihrer eigentlich vertrauten Welt nicht mehr zurecht. Da tun solche kleinen Symbolorte der Heimat gut. Wahrscheinlich ist auch diese Bank für den Mann ein solcher Symbolort der Heimat, ein Ankerort im bewegten Meer des Lebens. Das Leuchten auf dem Gesicht dieses Mannes spricht auf jeden Fall dafür. Hoffentlich geht ihm dieser Glücksort nicht verloren.

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SWR2 Wort zum Tag

25AUG2023
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In unserem Garten haben wir vor einigen Wochen einen Feigenbaum gepflanzt. Eine unserer Töchter hat ihn aus einem Ableger für uns gezogen. Er steht jetzt ganz zentral mitten auf einem kleinen Rasenstück. Irgendwie steht der herausgehobene Ort auch für seine besondere Bedeutung. Für meine Frau und für mich. Aber auch für Gäste, die ihn sehen. Und die uns auf den Feigenbaum ansprechen. Und nachfragen.

Eigentlich hatten wir das gar nicht im Blick, als wir den Baum dorthin gesetzt haben. Wir wollten ihm nur genügend Platz zum Wachsen gönnen. Aber ein Freund hat uns den Baum dann noch einmal in anderer Weise in den Blick gerückt. „Da könnt ihr im Alter ja unterm Feigenbaum sitzen!“ hat er gesagt. Und damit einiges in unserer Sicht auf den Feigenbaum in Gang gesetzt. „Im Alter unter dem Feigenbaum sitzen!“ Ein schönes Bild! Und zugleich ein biblisches Bild! Vom weisen König Salomo wird berichtet, dass seine Landsleute unter seiner Herrschaft viele Jahre in Frieden leben konnten. „Jeder unter seinem Feigenbaum!“ (1. Könige 5,5)

Er muss also schon vor 3000 Jahren ein besonderer Baum gewesen sein. Schatten fanden die Menschen unter seinen Zweigen. Süße, köstliche Früchte gleich zweimal im Jahr. Und ich gebe zu: Auch ich liebe Feigen. Egal, ob ich sie einfach so in den Mund stecke. Oder in Form von Marmelade. Oder als fruchtiger Feigensenf.

Irgendwie hat er also etwas Magisches. Ein Baum mit Früchten, der schon vor 3000 Jahren als etwas Besonderes gegolten hat. Auch von Jesus werden Feigenbaumgeschichten überliefert. Einmal verflucht Jesus sogar einen dieser Bäume. Weil er keine Früchte an ihm findet. Gerade so, als ob es zu den Aufgaben eines Feigenbaumes gehört, schattiger Ort und Spender köstlicher Früchte zu sein.

Unser Feigenbaum ist erstmal noch nicht so groß, dass er eine dieser herausragenden Funktionen erfüllen könnte. Aber er verbindet sich jetzt schon mit einer großen Tradition, die bis in die Zeit des Königs Salomo zurückreicht. Und er ist für mich zugleich ein Zeichen der Verheißung, dass diese Welt Zukunft hat. Ich hoffe sehr, dass ich eines Tages unter den Zweigen des Feigenbaums Schatten und Kühle finde. Und dass er für alle, die ihn sehen, zum Zeichen des Friedens wird. Und bis es so weit ist, lasse ich mir an seinen süßen Früchten genügen.  

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SWR2 Wort zum Tag

24AUG2023
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Gerade noch rechtzeitig haben wir den Hafen erreicht. Alles schnell zusammengepackt und los. Auf dem Weg zum Hafen der Insel hatte der Wind schon ordentlich an Kraft zugenommen. Am Schiffsanleger angekommen, sind wir schon ordentlich durchnässt. Aber die letzte Fähre haben wir gerade noch erreicht. Ab dem kommenden Vormittag waren alle weiteren Fahrten bis auf unbestimmte Zeit erst einmal ausgesetzt. Zu gefährlich bei dem unübersehbar aufziehenden Sturm. Und auf dem Festland hatte ein freundlicher Nachbar für uns noch schnell ein gutes Quartier beschafft.

Anlass zu wirklicher Sorge oder gar zu Dramatik hat es zu keinem Zeitpunkt gegeben. Aber es war trotzdem ein gutes Gefühl, mit dem vorerst letzten Schiff davongekommen zu sein. An viel dramatischere Geschichten musste ich plötzlich denken. An verfolgte Menschen, denen mit dem letzten Schiff die Flucht vor den Nazis gelungen ist. An Menschen auf der Flucht heute, auf einem überfüllten Schiff irgendwo im Mittelmer in Seenot. Und ein herannahendes Schiff rettet ihnen in letzter Minute das Leben.

Einer der ganz großen Berichte der Bibel erzählt gleich mehrfach von solch gelungenen Rettungen in letzter Minute. In letzter Minute gelingt den israelitischen Sklavinnen und Sklaven die Flucht vor den Verfolgern des Pharaos. In letzter Minute schaffen sie es durch das rettende Rote Meer, ehe die Wellen hinter ihnen wieder zusammenschlagen und den Fluchtweg verschließen. Mehr als einmal finden sie unterwegs in letzter Minute etwas zu essen und zu trinken, bevor sich Hunger und Frust breitmachen und das ganze Projekt des Aufbruchs in die Freiheit endgültig scheitern lassen. Exodus, nennt man diese zentrale biblische Geschichte, auf Deutsch wörtlich: Auszug. Der Aufbruch in eine neue Freiheit, an einen Ort sicheren Lebens und in eine bessere Zukunft ist ein Urmodell der biblischen Geschichte. Geschichten von Gotteserfahrungen sind oft Aufbruchsgeschichten. Und sie sind aktuell. Bis heute.

Nein, mein eigener kleiner Exodus kann mit diesen großen Geschichten der Bibel sicher nicht mithalten. Aber das Gefühl, gerade noch einmal rechtzeitig davongekommen zu sein – im wahrsten Sinn des Wortes, hat mich an diese religiöse Urerfahrung erinnert. Und mich einen Hauch der großen Befreiungsgeschichten Gottes spüren lassen. Eine schöne Erfahrung!

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SWR2 Wort zum Tag

20MAI2023
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Ich habe Geheimnisse. Große und kleine. Damit befinde ich mich in guter Gesellschaft. Denn eine Studie hat jüngst ergeben, dass 97% aller Menschen etwas vor ihren Mitmenschen verbergen. Dabei geht es um Beziehungsthemen, um verborgene Wünsche, ums Geld. Aber auch um Schuldgefühle und um Gedanken, für die man sich schämt.

Manchmal lüfte ich eines meiner Geheimnisse. Dann erzähle ich jemandem, was bisher noch niemand weiß. Dann offenbare ich mich.

Auch Gott trägt Geheimnisse in sich. Für mich ist Gott sogar ein Name für das größte Geheimnis meines Lebens. Wenn ich mich frage, wie alles seinen Anfang genommen hat. Und was am Ende stehen wird. Am Ende meines Lebens. Und am Ende der Welt. Gott gibt uns immer wieder Einblicke in die Geheimnisse des Lebens. In der Bibel trägt gleich ein ganzes Buch den Namen Offenbarung. Das letzte Buch. Ganz hinten. In diesem Buch werden auch Geheimnisse gelüftet. Geheimnisse über die Zukunft der Welt. Dinge, die die Menschen gerne von Gott erfahren hätten. Den Menschen, für die dieses Buch geschrieben wurde, ging es nicht gut. Sie wurden verfolgt. Mussten sich verstecken. Die Enthüllung über den Fortgang der Welt sollte ihnen Mut machen. Sollte sie trösten. Und ihnen eine bessere Zukunft vor Augen malen. Mit Bildern, die sie verstehen konnten. Die ihren Verfolgern aber ein Geheimnis bleiben mussten.

Im biblischen Buch der Offenbarung enthüllt Gott etwas über sich selbst. Und über die Zukunft der Welt. Mit starken Sätzen: „Siehe, ich mache alles neu!“, sagt Gott da. Und: „Schmerzen, Krankheit, selbst der Tod werden nicht mehr sein! Diese erste, diese böse Welt ist im Verschwinden!“ (Offenbarung 21,4+5) Es ist leider kein Geheimnis, dass wir von diesem Zustand noch sehr weit weg sind. Und es ist Gottes Geheimnis, wann etwas von den Sätzen dieser Offenbarung wahr werden wird. Für mich ist es die schönste Offenbarung überhaupt: Die Zusage, dass irgendwann alles gut wird. Seit dem biblischen Buch der Offenbarung ist es kein Geheimnis mehr: Die Übeltäter haben nicht das letzte Wort. Nicht über diese zurzeit so geschundene Welt. Nicht über mich. Darum bleibe ich zuversichtlich. Und möchte daraus kein Geheimnis machen. Sondern darüber reden. So wie jetzt!

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SWR2 Wort zum Tag

19MAI2023
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„Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben.“ Auf einem Auto habe ich diesen Satz entdeckt. Als Aufkleber auf der Kühlerhaube. Er hat mich richtig elektrisiert. Ein wenig aber auch irritiert. Meine Kindheit liegt doch hinter mir. An der kann ich doch nichts mehr ändern. Auch wenn’s mich manchmal schon reizt, mir vorzustellen, was alles hätte anders werden können, wenn ein paar Dinge ganz anders verlaufen wären. Aber eine schwierige Kindheit nachträglich zu einer glücklichen umzumünzen, das geht schon gar nicht.

Womöglich ist der Satz ganz anders gemeint. Und die Kindheit, von der er spricht, liegt gar nicht hinter mir, sondern vor mir. Dann müsste die Zeit, auf die ich zugehe, etwas enthalten, was ich mit der Kindheit verbinde. Menschen um mich herum, auf die ich mich absolut verlassen kann. Wie damals auf meine Eltern. Die Fähigkeit zu staunen, gerade auch über die kleinen Dinge des Lebens, die uns Erwachsenen längst abhandengekommen sind. Etwas von der kindlichen Unbeschwertheit. Die Fähigkeit, einfach auszuprobieren, was geht.

Dass es nie zu spät ist, eine glückliche Kindheit zu haben - davon hat auch Jesus von Nazareth gesprochen. „Wenn ihr nicht wieder wie Kinder werdet, kommt ihr nie ins Reich Gottes!“ (Matthäus 18,3) Das sagt Jesus, als seine Freudinnen und Freunde von ihm wissen wollen: „Wer ist denn der Größte unter uns?“. Auch das eine typische Kinderfrage.  Wenn ich an unsere eigenen Kinder denke, erinnere ich mich gut, wie sie miteinander gerangelt haben. Und ihre Kräfte ausgetestet. Nicht nur für sich selber. Sondern als Bitte an uns als Eltern: „Überschau mich doch bitte nicht! Schließlich bin ich ganz wichtig.“ Kinder leben viel stärker einfach in der Gegenwart. Verstehen das Leben als Spiel. Und finden genau darin erstmal ihr Lebensglück.

„Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben.“ Dem Autofahrer, der diesen Satz wie ein Bekenntnis auf seine Kühlerhaube geklebt hat, gings vielleicht genau darum: auszusteigen aus dem Streit um den besten Startplatz auf der Bühne des Lebens. Und etwas zurückzugewinnen von der kindlichen Art, im Hier und Jetzt zu leben und sein Glück zu finden. Wenn es dazu nie zu spät ist, dann lasse ich es doch gleich heute auf den Versuch ankommen. Ich entdecke etwas vom Glück der späten Kindheit. Und denke einfach nur an das, was heute wichtig ist.

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SWR2 Wort zum Tag

25MRZ2023
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Für einen Freund ist es der Barhocker. Eine Musikerin, nennt ohne Zögern ihr selbstgebautes Cembalo. Ein Kollege hat mir unlängst stolz seinen höhenverstellbaren Schreibtisch vorgeführt. Jeder bezeichnet ein anderes Stück als sein Lieblingsmöbel. Haben Sie auch eins? 37 Prozent der Deutschen nennen das Sofa, immerhin 20 Prozent das Bett.

Meines ist ein Sessel, den eine Polsterin vor einem Jahr in einem alten Holzgestell wieder aufgepolstert hat. Wunderbar, um abends zu entspannen. Und staunend zu genießen, wie in ein schon ausrangiertes Möbel neues Leben eingehaucht werden kann. Ich hoffe schon, dass ich diesem Möbel immer wieder genügend Zeit widmen kann.

Auch Jesus hatte ein Lieblingsmöbel. Sein Lieblingsmöbel ist der runde Tisch. Zumindest symbolisch. Tische, wie wir sie heute kennen, gabs damals ja noch nicht. Meist saß man gemeinsam im Kreis auf dem Boden.  Was man miteinander essen und genießen wollte, stand in der Mitte. Die Pflege solcher Tischgemeinschaft wurde zu einem Markenzeichen von Jesus. So oft ist er mit ganz unterschiedlichen Menschen auf diese Weise zusammengesessen, dass er in manchen Kreisen als „Fresser und Weinsäufer“ verschrien war. Dabei ging es ihm um etwas ganz anderes. Er hat auf diese Weise nämlich Menschen in seinen Kreis, an seinen Tisch geholt, für die an anderen „Tischen“ kaum Platz war. Zolleinnehmer, die mit der verhassten römischen Besatzungsmacht zusammengearbeitet haben. Prostituierte, mit denen man den öffentlichen Kontakt lieber vermieden hat.  

Wenn Jesus den Menschen ein positives Bild von der Zukunft vor Augen stellen wollte, dann sah das genau so aus: Alle Menschen versammeln sich gemeinsam um einen Tisch. Ohne Unterschied. Ohne oben und unten. „Hört, wie ich mir Gottes neue Welt vorstelle, sagt er einmal: Sie werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und Süden, die zu Tische sitzen werden im Reich Gottes.“ (Lukas 13,29)

Gemeinsam entspannt am Tisch Gottes sitzen. Das ist eine schöne Vorstellung. Und vielleicht liege ich am Ende mit meinem neuen Sessel da gar nicht so schlecht.  Er lädt nicht nur ein zum Entspannen. Er passt auch wunderbar an jeden runden Tisch. Und lässt mich so jedes Mal schon im Voraus etwas vom Reich Gottes kosten.  

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