Alle Beiträge

Die Texte unserer Sendungen in den SWR-Programmen können Sie nachlesen und für private Zwecke nutzen.
Klicken Sie unten die gewünschte Sendung an.

Filter
zurücksetzen

Filter

Datum

SWR2

  

SWR4

 

Autor*in

 

Archiv

SWR4 Abendgedanken

09MAI2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Wenn ich das Vaterunser bete, bleibe ich jedes Mal bei dem Satz hängen „Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden“. Mir fällt da gerne die Situation ein, wie Jesus vor seiner Verhaftung und seinem Tod so gebetet hat. Er sieht die Katastrophe kommen und unterwirft sich Gottes Willen. Und wenn ich das Vaterunser bete, stelle ich mir an dieser Stelle auch immer die Frage, ob ich mich damit auch den Katastrophen beugen muss, die noch vor mir liegen. Das würde mich verwundern, denn Krankheiten, Krieg und Klimakatastrophe – ich weiß nicht, ob ich mich da fügen will. Oder sogar kann. Wenn ich so denke, will ich Gott widersprechen. Aber mich stört an dieser Vorstellung, dass ich damit Gott als einen sehe, der schlimme Ereignisse verursacht und sie mir und uns allen zumutet. Dabei gibt es gar keinen Grund, warum er das sollte.

Ein Gott, der Unheil schickt, den Menschen misstraut und sie testet und prüft, entspricht auch nicht dem, was Jesus geglaubt hat. Und von Jesus stammt ja dieses Gebet mit dem Satz: „Dein Wille geschehe“.

Jesus sieht in Gott eine väterliche und mütterliche Gestalt, die sich um das Wohl des Menschen sorgt und alles daransetzt, dass es den Menschen und allen Geschöpfen dieser Welt gut geht. Er verkündet einen Gott, der uns unbedingt unsere Fehler verzeihen will und uns immer wieder und wieder eine Chance gibt, bessere Menschen zu werden. Jesus ist davon überzeugt, dass Gott die Welt schon von Anfang an gut gemacht hat und sie letzten Endes auch zum Guten führen wird. Er testet die Menschen nicht mit Katastrophen. Da wäre er ja ein Sadist. Im Gegenteil, Jesus glaubt, dass Gott trotz all dieser schlimmen Ereignisse alles zum Guten führen kann.

Wenn ich im Vaterunser bete, „Dein Wille geschehe“, will ich umdenken. Ich sage Gott damit, dass ich ihm vertrauen möchte. Und selbst wenn schlimme Ereignisse mich treffen, will ich mich auf ihn verlassen und darauf, dass sein Wille letztlich geschieht: Der Wille, dass alles gut wird.  

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37628
weiterlesen...

SWR4 Abendgedanken

08MAI2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Schon im Mittelalter gab es Segnungsfeiern für homosexuelle Paare! Das weiß man, weil der französische Philosoph Michel de Montaigne das in seinem Reisetagebuch notiert. Als er im 16. Jahrhundert nach Rom reist, berichtet er von einem Kloster, in dem die Mönche sich untereinander verheiraten. Für Michel de Montaigne ein Skandal! Aber scheinbar war das dort einmal üblich und nicht nur dort.

Es ist nicht ganz sicher, was Michel de Montaigne da genau beobachtet hat. Aber vieles spricht dafür, dass er ein Ritual gesehen hat, das auf Deutsch „Verbrüderung“ heißt. Im 20. Jh. hat John Boswell, Professor im amerikanischen Yale, die Quellen dazu studiert und viele Belege für so ein Ritual gefunden, alte christliche Dokumente. Sie beschreiben einen Gottesdienst, bei dem zwei Männer sich in der Kirche vor dem Priester „verbrüdern“: Sie tauschen Ringe und versprechen sich, dass sie in Liebe zusammenhalten. Dabei halten sie sich gegenseitig an den Händen. Der Priester legt seine Stola um ihre Hände und macht so deutlich, dass sie verbunden sind. Dann führt er sie dreimal um den Altar. Die Gemeinde singt dazu Psalm 133, in dem es heißt: „Seht, wie köstlich es ist, wenn Brüder in Eintracht zusammen sind“. Danach segnet der Priester die beiden.

John Boswell belegt diese Segnungsfeier in mehreren Textversionen aus Ägypten und Rom seit dem 11. Jahrhundert. Die Kirchenoberen haben das Ritual erst viel später verboten. Heute wird es noch von manchen abgetan, als sei das ein Ritual unter Handwerkern gewesen, eine so genannte „Zunftbrüderschaft“. Dabei ist es doch einer Eheschließung sehr ähnlich. Für John Boswell, der selbst homosexuell war, ist klar, dass es hier um eine Möglichkeit geht, wie Menschen im Mittelalter als Christen homosexuell leben konnten.

Wenn das wirklich stimmt, dann hätte die Segnung von homosexuellen Menschen eine mehr als jahrhundertelange Tradition. Und Tradition ist in der katholischen Kirche ein starkes Argument.

Wenn aber nur John Boswells Wunsch der Vater des Gedankens wäre, so wäre es doch gut gewünscht. Und es wäre an der Zeit, so einen Segen einzuführen. In meinen Augen gibt es keinen Grund, warum die Liebe von Menschen nicht gesegnet werden sollte. Wie die Autoren der Bibel sagen: Wo die Liebe ist, da ist Gott.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37627
weiterlesen...

SWR2 Lied zum Sonntag

07MAI2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Musik 1:

Vorspiel und „Ave Maria“

Diesen Anfang kennen vermutlich viele. Wenn die gebrochenen Akkorde der Begleitstimme erklingen, weiß ich, jetzt folgt das „Ave Maria“. In einer Melodie, die in sich ruht und sich von der bewegten Begleitung auch nicht aus dieser Ruhe bringen lässt. Viele Menschen wünschen sich dieses Lied bei besonderen Anlässen, bei Beerdigungen oder Hochzeiten. In meinen Augen liegt das daran, dass dieses Lied Gefühle anspricht und weckt. Manche sagen, dass es Kitsch ist. Ich vermute, dass sie das sagen, weil das Lied so emotional berührt. Vielleicht berührt so, weil diese bewegte Begleitung und die souveräne Melodie darüber mir spiegeln, was ich in meinem Leben auch kenne: Es gibt Krisenzeiten, in denen ich innerlich unruhig bin und mich nach dem Trost sehne, der mir wieder (die) innere Ruhe bringt.

Kaum jemand kennt den eigentlichen Titel dieses Liedes: „Ellens dritter Gesang“. Es stammt aus dem Gedicht-Zyklus „The lady of the lake“ von Walter Scott. Darin geht es um das Mädchen Ellen Douglas, das mit ihrem Vater auf der Flucht ist. Sie wollen der Rache des Königs entgehen und sind in einer Höhle versteckt:

Musik 2:

Erhöre einer Jungfrau Flehen,

Aus diesem Felsen starr und wild

Soll mein Gebet zu dir hinwehen.

Wir schlafen sicher bis zum Morgen,

Die Situation dieser jungen Frau trifft das, was auch ich in meinem Leben erfahre. Da gibt es eine schwere Krankheit, die mein Leben und meine innere Ruhe bedroht. Aber auch die Gewalt, die Menschen sich gegenseitig antun, wie in den aktuellen Kriegen, vor allem in der Ukraine und im Sudan: Ich habe eine große Sehnsucht nach einer inneren Ruhe, danach, dass meine Lebenswelt wieder heil wird. Als Christ erhoffe ich mir, dass mein Glaube mich tröstet. Ich baue dabei darauf, dass es in mir und in jedem Menschen einen inneren Kern gibt, der gut ist, und der unverletzlich und heil ist. Im Christentum gibt es dafür das Bild der Jungfrau, die ein Kind zur Welt bringt. Bei diesem Bild geht es nicht so sehr um biologische Tatsachen, sondern darum, dass die Geburt, die oft schmerzhaft ist und Spuren hinterlässt, etwas schenkt, was unverletzbar und heil ist. So hoffe ich für mich auch, dass hinter allen Narben und Verletzungen, die ich im Leben bekomme, im Innern meiner Seele etwas ist, das keine Gefahr erreichen kann, weil es von Gott geschützt ist. Das „Ave Maria“ hilft mir, diesen Trost zu finden und die Zuversicht, dass Gott mich heil durch alle Stürme des Lebens führt.

Musik 3:

„Ave Maria“ und Nachspiel

 

Musikquellen:

  • Musik:Ellens dritter Gesang (Ave Maria) gesungen von Sabine Devieilhe unter der Leitung von Raphael Pichon, bei Harmonia Mundi (HMM 905345)
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37626
weiterlesen...

SWR4 Abendgedanken

03FEB2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Vor ein paar Wochen habe ich mit meinen Schülerinnen und Schülern im Religionsunterricht zum Jahresbeginn ein gemeinsames Frühstück gemacht. Ich sehe es auch als Aufgabe des Religionsunterrichts, Angebote zu machen, die die Gemeinschaft stärken. Ich weiß nicht, ob es wegen des Fachs „Religion“ war oder weil sie es so gewohnt ist: Eine Schülerin hat gefragt, ob wir nicht vor dem Essen beten. Ich habe da sehr zurückhaltend reagiert, weil ich den Schülern das Beten nicht aufdrängen oder abverlangen will. Aber ich fand es spannend, was dann passiert ist. Die anderen Schüler haben unschlüssig reagiert. Das Mädchen hat gemeint, sie wolle jetzt beten und hat dann frei ein Gebet formuliert. Darin hat sie sich bei Gott bedankt, dass wir alle gesund aus den Ferien zurückgekommen sind, dass wir zu essen haben und dass wir jetzt so in der Gemeinschaft zusammen sein können.

Mich hat dieses Gebet sehr berührt und ich habe in diesem Moment gespürt, wie diese Dankbarkeit meine Stimmung verändert. Ich habe gemerkt, dass es mir guttut, wenn ich danke sage. Es geht dabei gar nicht nur um den, bei dem ich mich bedanke. Das ist der eine Teil: Ich weiß, dass viel Gutes, was ich erlebe, nicht von mir selbst hergeführt, erarbeitet oder verdient ist. Als Christ schreibe ich das Gute, das mir geschieht, Gott zu. Er ist für mich der Urheber von allem Guten. Und dafür danke ich ihm. Ich bedanke mich z.B., wenn ich gesund bin. Oder dafür, dass es Menschen gibt, die mich umsorgen und sich um mich kümmern. Dieser Teil ist ein bisschen wie eine höfliche Verpflichtung, die ich als Kind gelernt habe. Es gehört sich, dass man Danke sagt, wenn man etwas geschenkt bekommt.

Der zweite Teil ist aber mindestens genauso wichtig. Er ist mir erst bei dem spontanen Gebet der Schülerin richtig klar geworden. Und er ist auch das, was meine Stimmung an diesem Tag von einem eher neutralen Zustand in ein gutes Gefühl verändert hat. Wie ein kleines Glück. Wenn ich nämlich Gott danke sage, überlege ich ja auch, wofür ich danke und ich spüre dann auch, dass ich beschenkt bin. Und dabei ist mir an diesem Tag in der Schule erst bewusst geworden, wie schön es ist, dass wir in der Klasse eine Gemeinschaft erlebt haben, dass wir alle gesund aus den Ferien zurückgekommen sind und dass wir zu essen und zu trinken haben. Für mich gehört beides zum Danken: Es geht um den, der den Dank bekommt und macht den glücklich, der dankt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37023
weiterlesen...

SWR4 Abendgedanken

02FEB2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Katholische Christen feiern heute Mariä Lichtmess. Dieser Festtag markiert den 40. Tag nach Weihnachten. Der Ursprung dieses Festes hat mit dem jüdischen Brauch zu tun, dass eine Frau nach einer Geburt 40 Tage lang als unrein galt und erst dann wieder in den Tempel und in die Synagoge zu den Gottesdiensten durfte. Für heutige Ohren klingt das eigenartig und so eine Regelung wäre heute nicht mehr nachvollziehbar, sondern schlichtweg diskriminierend.

Einige Altertumsforscher haben die Vermutung, dass die jüdischen Reinheitsvorschriften, die für Frauen galten, ursprünglich Hygiene-Vorschriften waren. Es gab auch entsprechende Regelungen, wenn eine Frau ihre Monatsblutungen hatte. Und ich kann mir vorstellen, dass das für Nomaden vor gut 2000 Jahren sicherlich einen Nutzen hatte. Sie haben vermutlich in der Familiensippe in Zelten gelebt und sind im heutigen Israel von Weidegrund zu Weidegrund gezogen: tags bei extremer Hitze, nachts empfindlich kalt.  Klar, dass sich da besondere Hygieneregeln bewähren. Nach einer Geburt muss der Körper einer Frau heilen und das braucht Zeit. Die 40-Tage-Regelung hat da den Frauen sicherlich geholfen. Ähnlich wie heute das Wochenbett. Und weil diese Regelungen sich bewährt haben, haben Juden sie als göttliche Vorschrift ausgelegt. Sie glauben, dass Gott einer ist, der das Leben schützen und fördern will.

Die Sonderbehandlung für die (jungen) Mütter damals klingt heute für mich eigenartig. Deshalb will ich zu Mariä Lichtmess heute etwas Anderes ins Zentrum stellen. Nach ihrer Erholungsphase und dem anfänglichen Staunen über das neue Leben, hat Maria in der Zwischenzeit erste Erfahrungen damit gemacht, was es nun bedeutet Mutter zu sein. Beziehungsweise gemeinsam mit Josef Eltern zu sein. Darum geht es in meinen Augen an diesem Tag auch. Die Erfahrung zeigt, dass Elternschaft Menschen für ihr ganzes Leben prägt.  Auch wenn die Kinder erwachsen werden, bleiben die Eltern ihre Eltern. Meine Eltern sind für mich bis heute eine Anlaufstelle und ein Rückhalt. Und so wird es ja auch von Maria erzählt, die an Mariä Lichtmess im Mittelpunkt steht. Sie war für ihren Sohn da, besonders dann noch, als er sterben musste.

Diese Elternliebe leben nicht nur die, die leibliche Kinder zur Welt gebracht haben, auch viele andere, die sich in elterlicher Liebe um andere Menschen kümmern. Heute denke ich also dankbar an alle, die väterlich und mütterlich für andere Menschen da sind.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37022
weiterlesen...

SWR4 Abendgedanken

01FEB2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Ein Freund von mir hat vor kurzem eine Krebsdiagnose bekommen. Von einem Tag auf den andern ist seine Welt eine andere. Das eine ist die Krankheit selbst, das andere ist, wie man mit so etwas fertig wird, weiterlebt und den Alltag meistert. Mein Freund hat es am Anfang sehr gefasst aufgenommen. Fast cool, wie sachlich er seine Krankheit angegangen ist. Aber nach wenigen Tagen hat der Schock ihn eingeholt und es hat ihn auch gefühlsmäßig getroffen. Wir haben dann darüber gesprochen, wie man mit so einer Erkrankung weitermachen kann. Da stehen ja viele Untersuchungstermine an, die über die Therapie entscheiden und dann entsprechend weitere Termine, wenn man die Therapie macht. Dazu kommen Termine, an denen die Ärzte kontrollieren, wie die Krankheit sich entwickelt.

Ich kenne das aus eigener Erfahrung, wenn der Arzt einem eine Diagnose mitteilt, die das Leben auf den Kopf stellt. Schon Tage vor den Kontrollterminen und Untersuchungen tauchen Ängste und Fragen wieder aus dem Unterbewusstsein auf: Wie geht es weiter, wenn die Krankheit fortschreitet? Was kommt da alles noch auf mich zu? Ich habe in diesen Situationen oft gedacht, dass ich doch aufwachen muss aus diesem Albtraum. Aber das hilft ja nicht weiter.

Zum Glück findet aber zwischen den Kontrollen noch das ganz normale Leben statt. Und das ist ja das Gute. Es hilft, wenn ich die Realität meiner Erkrankung anerkenne. Und es hilft hoffentlich alles, was ich gegen meine Krankheit unternehme. Aber mir hilft auch, wenn ich dabei viel normalen Alltag erlebe und die Krankheit mal vergesse. Es ist ja schon schlimm, wenn der Krebs im Körper da ist, aber in meinen Gedanken muss er nicht auch noch wuchern.

Ich finde, dass es dann erlaubt ist, die Krankheit zu verdrängen. Vorausgesetzt, ich tue alles, was ich dagegen tun kann. Ein Satz, der mir dabei hilft, hat auch bei meinem Freund positiv eingeschlagen. Wenn ich also alles getan habe, was zu tun ist und was ich überhaupt tun kann, wenn die Termine stehen, aber heute noch nicht dran sind, dann sage ich mir: Heute sterbe ich nicht an Krebs. Heute lebe ich erst einmal.

So einfach dieser Satz ist, so wahr ist er auch. Und deshalb hilft er. Ich denke, das gilt in so vielen Situationen: Wenn ich für die Zukunft getan habe, was möglich ist, kann ich mich wieder auf die Gegenwart konzentrieren. Und mir sagen: Heute lebe ich.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37021
weiterlesen...

SWR4 Abendgedanken

31JAN2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Ein Schüler wird zu mir geschickt. Die Lehrer beobachten, dass er sich nicht im Unterricht beteiligt, keine Arbeitsmaterialien dabeihat und oft fehlt. Ich bin der Schulleiter. Also schicken sie ihn zu mir. Für das Gespräch habe ich ihn mit seiner Mutter in mein Büro eingeladen. Er ist höflich, aber er wirkt unbeteiligt. Mein erster Gedanke ist, dass er uns Erwachsene provozieren will. Typisch Pubertät. Ein Junge mit Null-Bock-Haltung. Am Anfang frage ich bei solchen Gesprächen meistens zuerst die Eltern, wie sie ihre Kinder zuhause wahrnehmen. Diese Frage habe ich auch seiner Mutter gestellt und das hat alles verändert. Die Mutter hat geantwortet, dass ihr Sohn es momentan schwer hat und dass er sehr traurig sei. Und er hat erzählt, dass sein Vater vor zwei Monaten gestorben ist. Das hat mich richtig getroffen. 

Wir haben dann darüber gesprochen, wie sich dieses Traurigsein anfühlt und wie er wieder aus dem schwarzen Loch herauskommt, das er gerade fühlt. Ich habe versucht mit ihm eine andere Perspektive zu finden. Wir haben überlegt, auf was sein Vater stolz wäre, wenn er in einem Jahr vom Himmel herab auf ihn schauen könnte. Ich wollte ihn so für neue Ziele öffnen. Ob das gelungen ist, weiß ich nicht.

Was mich im Nachhinein aber noch beschäftigt hat, ist mein Vorurteil gewesen, dass ich mir so schnell gebildet habe. Zum Glück habe ich am Anfang des Gesprächs noch routinemäßig nachgefragt, was zuhause los ist und wie es ihm geht. Innerlich war ich zu dem Zeitpunkt aber noch darauf eingestellt, dass ich es mit einem jungen Menschen zu tun habe, der rebelliert. Ich habe mich also schnell auf ein Vorurteil festgelegt und nur mein Nachfragen am Beginn des Gesprächs hat das Gespräch in eine gute Richtung gelenkt.

Ich habe mir vorgenommen, mir in Zukunft noch stärker bewusst zu machen, wo ich so vorschnell urteile. Vor allem, wenn es um junge Leute geht, aber auch bei allen anderen. Was ich beobachte, ist das eine. Wenn ich dann schnell Schlüsse daraus ziehe, ist das etwas Anderes. Das muss nicht sein.

Gerade, wenn es um ein Verhalten geht, das mir nicht gefällt oder das unangenehm ist, andere haben es verdient, dass ich nicht voreilig urteile. Ich finde das besonders bei jungen Menschen wichtig, weil ich da schnell den typischen Klischees auf den Leim gehe, anstatt an den guten Kern im Menschen zu glauben. Dabei gibt es doch meistens verständliche Gründe, warum jemand sich so verhält, wie er es tut. Es hilft, wenn ich nachfrage.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37020
weiterlesen...

SWR4 Abendgedanken

30JAN2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Ein Smartphone zum 90. Geburtstag. Das war der größte Geschenkwunsch eines Bekannten. Ich war bei der Geburtstagsfeier eingeladen und habe mitverfolgt, wie sein Wunsch in Erfüllung gegangen ist. Die Großneffen und Großnichten haben zusammengelegt, um ihrem Onkel das gewünschte Smartphone zu schenken. Was mir daran besonders gefallen hat, ist, dass dieser Wunsch eine Eigenschaft meines Bekannten auf den Punkt bringt, die ich bewundere. Er ist im höchsten Alter, hat aber nie aufgehört zu lernen. Ich kenne noch andere Personen, bei denen das so ist. Ein befreundeter Pfarrer hat in seinem Ruhestand neue theologische Studien betrieben. Und das mit Begeisterung. Selbst wenn die Erkenntnisse alles auf den Kopf gestellt haben, was ihm wichtig gewesen ist. Zumindest hat er mir gesagt: Wenn ich das alles damals schon gewusst hätte, hätte ich alles anders gemacht. Ich habe da keine Wehmut oder Reue herausgehört. Die Begeisterung für das, was er gelernt hat, war stärker. Und ich kenne viele, die sich mit dem Eintritt ins Rentenalter neue Lernziele setzen oder Herausforderungen suchen.

Ich bin zwar noch weit davon entfernt in Rente zu gehen, aber ich kann sagen, dass ich bisher auch nie aufgehört habe, zu lernen. Und ich genieße es, dass ich das kann. Hirnforscher sagen, dass unser Gehirn fast bis zur letzten Minute unseres Lebens lernbereit ist. Und ich will lernen bis zu meiner letzten Minute.

Vor ein paar Tagen habe ich dann das Gefühl gehabt, dass mich nicht mehr viel interessiert, weil ich zu müde bin von der Arbeit. Dann habe ich mir bewusst gemacht, was ich in der letzten Zeit alles so gelernt habe: Die Themen kommen meistens wie von selbst auf mich zu. Mal ist es eine Epoche der Geschichte, für die ich mich plötzlich interessiere und dann lese ich dazu alles, was ich finden kann, z.B. zur Renaissance. In den letzten zwei Jahren habe ich gelesen und gelernt, was man über Corona-Viren und Impfstoffe als Laie verstehen kann.

Fast alles, was das Leben für mich bietet, kann für mich zum Lernstoff werden. Als Christ ist das für mich auch wichtig. Wenn ich lerne, verstehe ich Gottes Schöpfung immer besser und ich entwickle auch ein Verständnis für die Perspektiven der anderen Menschen. Es ist ein offener Lernprozess. Dass ich damit nicht an ein Ende kommen werde, solange ich lebe, ist für mich kein Hindernis. Es zeigt, dass ich mein Leben lang dazu lernen kann. Dafür bin ich dankbar und ich will diese Chance bewusst nutzen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37019
weiterlesen...

SWR2 Lied zum Sonntag

15JAN2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

„Wohin gehe ich, wenn es mir nicht gut geht?“ Diese Frage bleibt ein Leben lang aktuell. Die Menschen, die für mich da sind, wenn es nicht rund läuft, sind bei mir dieselben wie die, die als erstes erfahren, wenn es gut gegangen ist. Ganz gleich, ob ich mit einem unklaren Befund vom Arzt komme oder strahle vor Glück, weil es mit einer Bewerbung geklappt hat. Kann Gott auch so eine Adresse sein? Das heutige Lied zum Sonntag „Wohin soll ich mich wenden…“ spricht Gott als so eine Adresse an. Er gehört für mich maßgeblich zu dieser Unterstützergruppe, zu der auch meine Eltern und Freunde gehören, früher meine Großeltern und Lehrer.

Die Frage nach dem „Wohin“ ist für die Menschen besonders bedrängend, die momentan auf der Flucht sind oder deren Leben bedroht ist von Hunger und Kälte. Sie suchen Menschen, die sie aufnehmen, und einen Ort, wo sie geborgen und geschützt sind:

 

Musik 1:

Wohin soll ich mich wenden,

wenn Gram und Schmerz mich drücken?

Wem künd' ich mein Entzücken,

wenn freudig pocht mein Herz?

Zu dir, zu dir, o Vater,

komm ich in Freud' und Leiden,

du sendest ja die Freuden,

du heilest jeden Schmerz.

M 10843, LC 08748

Dass Menschen bei Gott ihren Halt finden, ist ein wesentliches Merkmal, wenn man glaubt. Das hat zu allen Zeiten Menschen getröstet. Gerade auch, als Johann Philipp Neumann die Texte für die Deutsche Messe geschrieben hat. Franz Schubert hat sie 1826 vertont. Viele habe die Ideen der Revolution verfolgt und gleichzeitig erlebt, wie Napoleons Kriege dazu geführt habe, dass es den Menschen schlechter geht. Viele waren vertrieben, arm und mit Krankheiten belastet. Es war auch eine Zeit, in der Missernten viele hungern ließen. Die alten Sicherheiten waren zerstört und ob die neue Ordnung Sicherheit gibt, war fraglich. Schubert sucht in dieser Zeit nach neuen Wegen, die Herzen der Menschen zu erreichen. Statt in Latein zu singen, geht das für ihn besser in Deutsch, wo jeder seinen Kummer und seine Sorgen ausdrücken kann. Er gibt diesem Text eine Melodie, die sehnsuchtsvoll ist und gleichzeitig tröstet.

 

Auch wenn der Text für die heutige Zeit altbacken und kitschig klingen mag, bedeutet er den Menschen viel, die dieses Lied gerne singen. Diese Musik tröstet, weil sie Sehnsucht und Kummer ausdrückt. Sie gibt mir persönlich Kraft, meine Sorgen in dieses Lied zu legen und meine Probleme zu meistern, weil ich Gott an meiner Seite habe:

 

Musik 2:

4. Süß ist dein Wort erschollen:

Zu mir, ihr Kummervollen!

Zu mir! Ich will euch laben,

Euch nehmen Angst und Not.

Heil mir! Ich bin erquicket!

Heil mir! Ich darf entzücket

Mit Dank und Preis und Jubel

Mich freu'n in meinem Gott.

M 10843, LC 08748

 

 

Musikquellen:

  • Musik:Deutsche Messe, D 872, Rias-Kammerchor, Rundfunk-Symphonie-Orchester Berlin unter der Leitung von Marcus Creed, M 10843, LC 08748
https://www.kirche-im-swr.de/?m=36834
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

07JAN2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Wie lange dauert die Erholungsphase nach einer Krise? Ich frage mich das momentan oft, denn ich habe den Eindruck, dass wir nach der Pandemie-Krise ziemlich nahtlos wieder in den Alltag von zuvor zurückgekehrt sind. Bei uns in der Schule läuft alles wieder wie vorher. Ich finde das auch gut, weil ich den Alltag vermisst habe und die Normalität guttut. Aber abends merke ich, dass ich oft nicht mehr aus dem Haus will, obwohl ich doch vor der Pandemie gerne noch ins Theater und ins Konzert gegangen bin oder nach dem Feierabend noch Freunde getroffen habe. Und morgens spüre ich deutlich eine tiefere Erschöpfung. Wenn ich das anderen erzähle, sagen viele, dass es ihnen genauso geht. Erst recht merke ich es bei den Schülerinnen und Schülern. Sie wirken manchmal wie getrieben, von dem Druck, dass sie alles nachholen müssen: Lernstoff, den sie versäumt haben, aber auch Feste und Urlaube, die sie nicht haben konnten. Ganz zu schweigen von den Diskussionen, die sie im Klassenzimmer und in den Pausen führen und die helfen, erwachsen zu werden und seinen eigenen Stand im Leben zu finden.

Ich denke nicht, dass ich diesen Trend einfach umkehren oder verändern kann. Mir kommt es nur so kurzsichtig vor, wenn wir so tun, als ob nichts geschehen wäre. Als ob wir nichts verarbeiten müssten. Dabei haben wir Einschränkungen ertragen, waren voller Sorge, wie es mit der Pandemie ausgeht und haben oft Meinungsverschiedenen erlebt, die unsere Beziehungen auf eine harte Probe gestellt haben.

Ich habe auch keine Faustformel gefunden, wie lange man sich durchschnittlich von einer Krise wie dieser erholt. Wenn ich im Internet suche, finde ich allenfalls Berechnungsformeln dafür, wie lange man Liebeskummer haben darf. Aber vielleicht geht es ja gar nicht darum, was dabei normal ist und was man darf. Denn diese Krise, die wir alle erlebt haben, war ja vieles, aber eins nicht: Sie war nicht normal.

Ich habe mir deshalb vorgenommen, dass ich mir kein Zeitlimit setze, wann ich mit der Erholung durch sein muss. Aber ich will auf mich und auf die anderen in meinem Umfeld achten, und immer wieder darauf aufmerksam machen, dass wir uns so eine Erholungszeit zugestehen und liebevoller mit uns sein dürfen. Denn als Menschen brauchen wir Zeit für die körperliche und geistige Erholung. Ich setzte mir konkrete Erholungszeiten in meinen Wochenkalender. Und diese Zeit will ich mir und anderen zugestehen und aushalten. Denn ich bin noch nicht wieder so zu Kräften gekommen wie vor der Krise.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36837
weiterlesen...