Alle Beiträge

Die Texte unserer Sendungen in den SWR-Programmen können Sie nachlesen und für private Zwecke nutzen.
Klicken Sie unten die gewünschte Sendung an.

Filter
zurücksetzen

Filter

Datum

SWR4

 

Autor*in

 

Archiv

SWR4 Abendgedanken RP

Ob uns jemand liegt, ob wir gut miteinander können und uns einer sympathisch erscheint, darüber befinden wir meist mit allen Sinnen. Menschen müssen „sich riechen können”, um sich zu verstehen. Ist Nächstenliebe möglicherweise eine Sache der Chemie?


Teil 1
Eine Kollegin und ich, wir sitzen zusammen und planen eine gemeinsame Veranstaltung. Die Absprachen sind schnell getroffen, und das Ganze verläuft wohl zu ihrer Zufriedenheit. Am Ende stellt sie jedenfalls fest: „Ich merke, zwischen uns stimmt die Chemie”. Ich deute das so: Wir verstehen uns und können gut miteinander.

Nun glaubte ich allerdings schon vor unserem Treffen zu wissen, dass die Chemie stimmt. Schließlich ist sie eine Wissenschaft. Unter anderem die Wissenschaft von den chemischen Grundstoffen und von den chemischen Verbindungen. Chemisch habe ich mich mit meiner Kollegin nicht verbunden, und doch ist sie überzeugt: die Chemie stimmt. Ich weiß auch nicht, warum chemische Vorgänge heutzutage als „Chemie” bezeichnet werden. Aber so spricht man eben. Ähnlich ist es, wenn einer durch „die Botanik” wandert. Schön, wenn er dabei keinen „Knick in der Optik” hat. Gleich steht das ganze Fach für einen einzelnen Vorgang.

Chemiker experimentieren gern. Warum soll ich als Theologe nicht auch ein wenig mit der Chemie experimentieren? Schließlich war es der große Theologe David Friedrich Schleiermacher, der schon um 1799 eine Abhandlung über den „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens” schrieb. Dort ist zu lesen, dass Menschen, die miteinander im Einklang sind, sich gleichsam „unwillkürlich durch chemische Ähnlichkeit krystallisieren” können.

Also habe ich das mit der Chemie gleich ausprobiert. Ich habe mir ein paar Sätze aus der Bibel, speziell aus der Bergpredigt Jesu herausgesucht und überall dort, wo von Menschen die Rede ist, die einander nahestehen, probehalber die Wendung eingesetzt: „die Chemie stimmt”. Es hat sogar einen Sinn ergeben. Zum Beispiel: „Wenn ihr nur die grüßt, mit denen die Chemie stimmt, was tut ihr damit Besonderes?” (Mt. 5, 47). Ob der Jesus der Bergpredigt heute so reden würde? Oder Paulus in seinem bekannten Lied von der Liebe: „Wenn ich in der Sprache der Menschen und der Engel redete, aber die Chemie würde nicht stimmen, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke” (1. Kor. 13,1) Mir scheint, das trifft dann doch nicht ganz das, was Paulus mit der Liebe ausdrücken wollte.

Liebe und Wertschätzung - kann es die vielleicht auch dann geben, wenn die Chemie nicht stimmt? Dazu mehr nach der Musik.

Teil 2

In der Bibel gibt es genug Beispiele auch dafür, wie die Chemie zwischen den Beteiligten offenbar nicht stimmte - und doch hat einer trotz unstimmiger Chemie umsichtig gehandelt. Er hat das Notwendige getan. Ganz wörtlich: Das, was die Not wendet.

Nehmen Sie zum Beispiel den barmherzigen Samariter. Zwischen ihm und dem unter die Räuber Gefallenen hat die Chemie sicher nicht gestimmt. Zumindest fehlten alle Voraussetzungen dazu: Beide kannten sich nicht. Beide hatten nicht die gleiche Konfession. Auch sozial standen sie einander nicht nahe. Trotzdem tat der Samariter das Nächstliegende und versorgte das Opfer. In den Augen Jesu wurde er damit dem andern zum Nächsten.

Der Ausdruck „Nächster” ist dabei etwas missverständlich, weil er gleich an die „nächsten Angehörigen” denken lässt. Oder an die Menschen, die einem nahestehen. Oder eben an jene, mit denen „die Chemie stimmt”.

Jesu Sprachgebrauch geht da weiter. Weiter, als die Polizei erlaubt: Sogar dem Feind soll einer zum Nächsten werden. Das wirbelt doch glatt die ganze Chemie durcheinander!

Kein Wunder, dass schon die frühen Christen zunehmend von der „Bruderliebe” gesprochen haben. Da wurde Jesu Forderung der Nächstenliebe in den jungen Gemeinden eingeengt auf die Verträglichkeit in der Gemeinde. Bruderliebe - ein Wort, das Jesus selbst nicht benutzt hat. Allerdings, bei der Bruderliebe stimmt dann die Chemie wieder. Doch Jesus selbst sprach von Nächstenliebe und hat diese zur Feindesliebe erweitert. Damit hat er übrigens nicht gemeint: „Verhaltet euch so, dass ihr keine Feinde habt”. Wohl aber dies: Geht mit euren Widersachern so um, dass sie immer noch die Chance behalten, als Menschen geachtet zu werden. Es lohnt sich, mit dem Gegner, mit dem Andersdenkenden zu leben. Auch wenn die Chemie nicht stimmt - es ist allemal besser, als an der eigenen Gnadenlosigkeit unterzugehen.

Übrigens, Nächstenliebe heißt nicht, selbstlos sein. Sie ist keine Einbahnstraße, als müssten Christen uneigennützig und bescheiden ihr eigenes Wohlergehen zurückstellen. Nach Jesu Maßstäben wäre das gerade keine Nächstenliebe. Jesus will nicht, dass einer sich für den Partner, die Kinder, die Eltern, das Geschäft, die Firma aufopfert. Denn Jesus glaubte an einen Gott, der keine Opfer will, schon gar keine Menschenopfer.

Geben und Nehmen, was man einsetzt und welchen Nutzen man davon hat- das darf in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Deshalb legte Jesus Wert darauf, dass einer sich selbst in die liebvolle Fürsorge miteinbezieht.

Dass man auch einen Fremden in diese liebevolle Fürsorge miteinbeziehen kann - darum geht es gleich nach der Musik.


Teil 3

Den kann ich nicht leiden“ - „Die kann ich nicht riechen“ - „Den kann ich einfach nicht gut ertragen“. So sagt man, wenn man einfach nicht miteinande klarkommt. Wenn – wie man so schön sagt - die Chemie nicht stimmt.

Wenn Sie auch solche Beziehungen haben, dann kann ich Ihnen sagen: Man muss nicht gleich die Flinte ins Korn werfen. Denn die Bibel hat für Sie und mich dazu einen praktischen Tipp. Im Neuen Testament nämlich steht: „Alles, was ihr wollt, das euch die Leute tun, das tut ihnen auch” (Mt. 7,31).

Die ganze Kunst des Zusammenlebens hat Jesus mit diesem einen Satz zusammengefasst und auf den Punkt gebracht. „Alles, was ihr wollt, das euch die Leute tun, das tut ihnen auch”. Die „goldene Regel” hat man diesen Satz aus dem Evangelium genannt. Sie regelt das Zusammenleben von Menschen auf eine gute und für alle bekömmliche Weise.

Das ist wohl auch der Grund, warum sich diese sogenannte „goldene Regel” in so gut wie allen Weltreligionen wiederfindet: im Islam, im Judentum, im Buddhismus, im Hinduismus, um nur ein paar zu nennen.

Das leuchtet ja auch ein und ist vernünftig: Mit dem eigenen Verhalten gebe ich vor, wie ich behandelt werden möchte. Mein Gegenüber und ich - wir sind dann nicht mehr darauf angewiesen, ob zwischen uns auf Anhieb die Chemie stimmt. Sondern: ich gebe durch mein Verhalten vor, wie ich das Zusammenleben wünsche. Und auch wenn mein Gegenüber sich nicht darauf einlässt, kann ich doch wenigstens bei dem bleiben, was mir als Umgangsstil wichtig ist. Das Jesuswort ist klar und praktikabel: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut ihnen auch”.

Wer gewohnt ist, schon von Berufs wegen in wirtschaftlichen Kategorien zu denken, der wird merken: Es zahlt sich aus, das Miteinander nach guten Regeln zu ordnen.

Nehmen wir mal die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einem Unternehmen. Es ist erwiesen, dass sie ihre höchsten Potentiale entwickeln, wenn sie sich darauf verlassen können, dass die Unternehmensführung sie mit Respekt behandelt. Mögen die Mitarbeiter in der Kalkulation der Unternehmensführung zwar als „Humankapital” geführt werden - es bleiben Menschen, die wie alle Menschen das Grundbedürfnis haben, wertgeschätzt zu sein.

Mag auch manchmal die Chemie zwischen den Beteiligten nicht stimmen - es lohnt sich, dass man sich einlässt. Sich einlässt auf den Menschen, der einem so andersartig, so fremd erscheint, und wo man dem ersten Impuls folgen möchte: „Was habe ich mit dem zu schaffen?!”

Religionen, auch die christliche Religion, können die ökologischen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Probleme der Erde nicht lösen. Aber Religionen und eben auch der christliche Glaube kann das erreichen, was allein mit ökonomischen Plänen, politischen Programmen oder juristischen Regelungen nicht erreichbar ist: die innere Einstellung, eben das „Herz” des Menschen zu verändern und ihn zu einer neuen Lebenseinstellung zu bewegen. https://www.kirche-im-swr.de/?m=4728
weiterlesen...

SWR4 Sonntagsgedanken

„Das Leben kann man nur rückwärts verstehen, muss es aber vorwärts leben”. So hat es der Theologe und Philosoph Kirkegaard auf den Punkt gebracht. Aber woher kommt die Kraft, zuversichtlich vorwärts zu leben, wenn man schon einiges hinter sich hat?

Teil 1
Wer „in die Jahre kommt”, schaut gern zurück. Schließlich ist die gelebte Zeitspanne weitaus größer als die noch zu lebende. Viele versuchen, Bilanz zu ziehen, und oft sieht die dann so aus: „Wenn ich mein Leben noch einmal von vorne beginnen könnte, dann würde ich manches anders machen. Schließlich bin ich um viele Erfahrungen reicher. Heute würde ich dies oder jenes sicher nicht mehr tun.”

Wer so denkt, der leidet unter dem Bruchstückhaften, dem Unfertigen seines Lebens. Er will sich nicht abfinden mit den verpassten Möglichkeiten. Vielen Menschen ist er nicht gerecht geworden. Manches ist er ihnen schuldig geblieben. Schuldlos geht keiner durch ein langes Leben.

Wehmut kann einen da schon mal beim Anblick eines neugeborenen Kindes ergreifen: Du hast es gut. Vor dir liegt noch das Leben mit all seinen Möglichkeiten und Chancen.

„Wie kann einer von neuem geboren werden? Kann er denn wieder zurück in seiner Mutter Schoß?” Verständlich, dass diese Frage schon einen Mann namens Nikodemus beschäftigt hat. Eines Nachts geht er mit dieser Frage zu Jesus. Wir wissen das aus dem Johannesevangelium.

Nikodemus kann nicht glauben, dass der Mensch ein anderer werden kann. Er ist überzeugt: Jeder ist vor Gott das, was einer aus sich macht.

Wenn es das die endgültige Wahrheit wäre, die über mich, die andern, das Leben zu sagen ist: „Du bist, was du aus dir machst” – woher nähme ich dann meine Lebenszuversicht? Zwar könnte ich entgegenhalten: Immerhin habe ich versucht, in der mir gegebenen Lebenszeit etwas aus mir zu machen. Doch realistisch stelle ich fest: Oft ist es bei guten Vorsätzen geblieben.
Was antwortet Jesus dem Nikodemus? Was sagt er einem, der seine Daseinsberechtigung ableitet von dem Maß seines Verhaltens und Tuns?

Er sagt ihm: Du bist ein gelehrter, kluger und frommer Mann. Doch das Wichtigste hast du nicht verstanden: Ein Mensch kann sich selber nicht neu machen. Neues Leben wird uns „von oben”, also durch die Tat Gottes zuteil. Neu geboren – das darfst du, Nikodemus, wie ein Geschenk annehmen. Machen kannst du es nicht selber.

Ich verstehe die Worte Jesu so: Wie ich ohne mein Zutun geboren wurde, so wirkt ohne mein Zutun Gottes Geist an mir – wenn ich es zulasse und dem Geist Gottes vertraue. Dann befreit er mich von der Last der Vergangenheit und schafft, was ich nicht leisten kann.

Vertrauen statt grübeln und zweifeln. Loslassen und sich überlassen - das bewirkt der Geist Gottes. Es ist das Geheimnis eines lebendigen Glaubens. Und das Geheimnis eines vitalen Lebens.

Teil 2
Auch wenn man – wie ich – nicht mehr der Jüngste ist, kann man vital und kraftvoll leben, obwohl manches mühsamer wird und schwieriger wird.

Vital ist in meinen Augen, wer den Spuren der Vergänglichkeit ins Auge schauen kann und das Leben liebt, das sterblich und vergänglich ist. Der ist vital, der sich auf Begegnungen einlassen kann, der sich von neuen Aufgaben herausfordern lässt. Der beten kann: „Herr, zeige mir, welchen Weg ich heute gehen soll, und gib mir den Mut, auf diesem Weg dir nachzufolgen”.

Was ist wichtig, wenn man älter wird? Ich benenne es mit dem Wort „sich versöhnen”. Für mich heißt das: Ich weiß, dass mein Leben bruchstückhaft geblieben ist. Ich weiß, dass ich vieles nicht mehr verwirklichen kann, was ich mir in jüngeren Jahren als Ziel gesetzt habe. Aber ich vertraue darauf, dass ich mit Gottes Barmherzigkeit rechnen darf. Ich hoffe darauf, dass Gott mein bruchstückhaftes Leben auffangen und heilen und vollenden und dass er meinem Leben Sinn und Bestand schenken wird. Und das gibt meinem Leben eine ganz neue Kraft.

Werde ich gefragt: Wie schaffst du das, kraftvoll und nach vorne hin zu leben?, dann kann ich nicht auf meine körperlichen Kräfte verweisen. Die lassen mit zunehmendem Alter nach. Ich kann auch nicht auf meine seelischen Kräfte vertrauen. Mit denen steht es nicht immer zum Besten. Kraftvoll leben - das kann ich, wenn ich im Kontakt mit einer Kraftquelle außerhalb von mir bin. Solch eine Quelle ist für mich der Glaube daran, dass Gott mich nicht festlegt auf meine Vergangenheit. Mag sein, dass ich vieles schuldig geblieben und sicher auch schuldig geworden bin. Aber das Vergangene soll mich nicht für immer belasten.

So kann ich nach vorne hin leben. Ich muss mich nicht jünger und jünger träumen, bis ich bei der Naivität des Kindes angekommen bin. Sondern neu geboren - und das, obwohl ich wie wohl die meisten gezeichnet bin von den Narben des Lebens. Neu geboren – als einer, der manches schuldig geblieben und an anderen schuldig geworden ist. Neu geboren – das verändert den Blick auf das Leben.

Dabei hilft es mir auch, mich daran zu erinnern: ich bin als kleines Kind getauft worden. Zu dem Kind, das ich war und das nach den üblichen Maßstäben noch nichts für die Gesellschaft geleistet hat, zu diesem Kind hat Gott Ja gesagt. Damit hat mir eine unverlierbare Würde gegeben. Deshalb glaube ich: Gott sagt Ja auch zu dem mittlerweile alt gewordenen Menschen. Zu jedem einzelnen von uns – bedingungslos.

Ich wünsche auch Ihnen, dass Sie aus dieser Quelle schöpfen können und Kraft finden für das Leben, das vor Ihnen liegt. Und für heute: einen gesegneten Sonntag. https://www.kirche-im-swr.de/?m=4040
weiterlesen...

SWR4 Sonntagsgedanken

Teil 1
Manchmal müssen die Beine dem Kopf zu Hilfe kommen, nicht nur dem älter und vergesslich gewordenen Kopf. Eben noch war der Gedanke da - und dann ist er einfach weg. Selbst mit angestrengtem Grübeln kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur: es war etwas Wichtiges. Und dann das Erstaunliche: Ich gehe zurück zu dem Ort, wo ich den Gedanken gedacht habe - vielleicht war es am Küchenschrank- ,und dann fällt es mir wieder ein: Das wolltest du tun.

Oder zum Beispiel nachts: Statt noch eine weitere Stunde grübelnd wach zu liegen, ist es ganz nützlich, aufzustehen und sich einfach auf die Beine zu stellen.

Wenn Nachdenken nicht hilft, eine Situation zu bewältigen, kann ich meine Beine gebrauchen: Ich gehe auf die Situation zu und handele. Statt mich mit allen möglichen Phantasien über einen Menschen herumzuschlagen, gebrauche ich meine Beine, gehe auf die Person zu und kläre, was zu klären ist.

Kopf und Beine, Denken und Gehen gehören zusammen. Das war schon im alten Griechenland so, wo bekanntlich das Philosophieren seinen Anfang nahm. Schon der erste Philosoph war Spaziergänger. Thales hieß er. Beim Spazierengehen fiel er zwar in einen Brunnen, weil er mit seinen Gedanken mehr beim Himmel war und vor lauter Nachdenken über den Himmel übersah, was direkt vor seinen Füßen lag. Deshalb lauthals von einer Magd ausgelacht, waren seine Gedankengänge doch erfolg- und einflussreich. Sein Sturz in den Brunnen war alles andere als ein Reinfall.

Ich gehe einen Schritt weiter: Was beim Denken hilft, bringt auch den Glauben in Bewegung. Für Christen ist dabei weniger Thales das treffende Beispiel als vielmehr Jesus, der Wanderprediger.

Um „über Gott und die Welt“ ins Gespräch zu kommen, war er unterwegs zu den Menschen. Mal waren es die Stufen des Tempels, mal der Rand eines Brunnens, wo er sich zum Gespräch niederließ. Mal von einem Fischerboot aus und dann wieder auf einem Hügel im Land redete er von Gott und der Welt, wie sie sein soll. Zum Flaneur und Wanderprediger Jesus passt es, dass er selbst keine schriftlichen Werke hinterlassen hat. Aber sein Weg durchs Land, seine Gespräche auf dem Berg, am Brunnen, auf dem Tempelvorplatz, seine Heilungen kranker Menschen waren so bewegend, dass andere das aufgeschrieben haben. In der Bibel können wir das lesen. Und so bringt Jesus bis heute Menschen in Bewegung. Dass sie aufbrechen aus eingefahrenen Gleisen, dass sie ihm nachfolgen auf dem Weg, den er gezeigt hat und gegangen ist, das war ihm wichtig. Sich in Bewegung setzen, um Gott unter die Menschen zu bringen – das hat Jesus getan. Dazu hat er seine Nachfolger ermutigt.

Teil 2
Dem Glauben auf die Beine helfen - ein alt überliefertes Wort des Propheten Micha benennt es konkret:

Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist
und was Gott bei dir sucht:
Nichts anderes als Recht üben, Freundlichkeit lieben
und aufmerksam mitgehen mit deinem Gott.

Ich finde: das ist ein schönes, sprechendes Bild: „Aufmerksam mitgehen mit deinem Gott“. Manche sagen dazu „Nachfolge“. Bildhafter finde ich aber diese Umschreibung: „Aufmerksam mitgehen mit deinem Gott“. Gott will uns also zu seinen Weggefährten haben. Nicht klein machen will er uns. Wenn Menschen darunter leiden, dass sie sich wegen ihres verfehlten Lebens nicht mehr achten können - Gott achtet uns. Er lädt uns ein, trotz verfehlten Lebens seine Weggefährten zu sein.

„Aufmerksam mitgehen mit deinem Gott“. Also mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben. Nicht abheben in grandiose Träume: Dass ich etwas ganz Besonderes leisten muss, um mein Leben gelingen zu lassen. Zugegeben, manchmal ist es leichter, sich in frömmelnden Phantasien zu verstecken - zum Beispiel: dass ich der größte aller Sünder, der schlimmste Versager sei - und dass deshalb von mir sowieso nichts zu erwarten ist. Manchmal erlebe ich es dann wie eine Zumutung, dass ich mich in die Reihe der Normalen einreihen und schlicht den Weg mit Gott mitgehen, also sein Weggefährte sein soll.

Wie kann das aussehen: mit Gott aufmerksam mitgehen? Ich glaube, das lässt mich manche Dinge neu sehen und anders bewerten. Wer aufmerksam mit seinem Gott mitgeht, fragt nicht: Was ist nützlich für eine bestimmte Interessengruppe? Was dient dem eigenen privaten Glück? Was passt zu einer bestimmten Ideologie oder dem Gedankengut einer bestimmten Partei? Aufmerksam mitgehen mit unserem Gott - dann führt uns der Weg unter Umständen zu den Rechtlosen, deren Würde mit Füßen getreten wird.

Ja, im wahrsten Sinn des Wortes „mit Füßen getreten werden” wie jene Frau in der Nachbarschaft, die spät abends von ihrem betrunkenen, eifersüchtigen Mann auf der Straße zusammengeschlagen und getreten wird. Natürlich ist das kein alltägliches Beispiel. Es macht aber deutlich, dass Gottes Weg mit mir und mein Weg mit Gott manchmal an den Getretenen vorbeiführt. Wie werde ich mich dann verhalten? Werde ich auch dann aufmerksam mitgehen mit meinem Gott? Oder werde ich wegschauen? Werde ich mich dann rechtfertigen: „Ich will es doch nicht mit dem Nachbarn verderben”. „Ich will keine Scherereien haben”. Oder abfällig: „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich”.

Damit das Rückgrat nicht verkümmert, braucht es nicht nur regelmäßiges körperliches Training. Es braucht auch so etwa wie geistliche Fitness, ein spirituelles Training. Nämlich sich trainieren hinzuschauen und das tun, was an der Zeit ist. Nachfolgen also.

Weil Gott mit uns geht, wollen wir mutig genug sein, mit ihm Schritt zu halten. https://www.kirche-im-swr.de/?m=3196
weiterlesen...

SWR4 Abendgedanken RP

Glück und Segen, das wünschen wir uns beim Wechsel der Jahre. Gute Wünsche begleiten uns beim Übergang vom Alten zum Neuen.

Was aber ist Glück? Jenes Glück, das wir uns gegenseitig wünschen, dem wir nachjagen, das wir ein Leben lang suchen?

Als Kind, unmittelbar nach Kriegsende, hätte ich zu benennen gewusst, was Glück ist: Butter dick aufs Brot streichen, nach Belieben ein heißes Bad nehmen und auf keinen Fall mehr diese Stricksachen, die so unangenehm auf der Haut kratzen. Butter und Bad - die waren ein Hochgenuss und eine Quelle von Glück. Das war ein herrlicher Kontrast zum schlichten Alltag. Den schlechten Zeiten von damals traure ich nicht nach. Gut, dass die Jüngeren davon keine Vorstellung mehr haben. Allerdings stehen ihnen Butter und Bad dadurch als Glücksquelle nicht mehr zur Verfügung.

Glück und Segen zum neuen Jahr - heutzutage muss das schon mehr sein als Butter und Bad. Mehr auch als nur „Glück haben”. Denn Glück haben ist etwas anderes als glücklich sein. Wer zum Beispiel im Lotto Glück hatte, muss deshalb noch lange nicht glücklich sein. Andererseits: Wer zwar niemals Glück hatte und dennoch glücklich ist, gilt als Lebenskünstler.

Wer wissen will, wie er denn ein glücklicher Mensch werden kann, der kann heute auf ein breites Sortiment von Ratgeberbüchern zurückgreifen. Die Rezepte für das Lebensglück sind meist von einnehmender Schlichtheit:
Mehr Zeit mit der Familie, mit Freunden verbringen.
Weniger Fernsehen.
Dankbarkeit für die Segnungen des Alltagslebens entwickeln.
Anderen, vor allem aber sich selbst vergeben lernen.
Freunden etwas Gutes tun.
Verheiratete, so heißt es, seien durchschnittlich glücklicher als Singles. Das sei, so erklären das die Glücksforscher, nicht zuletzt ihrem aktiven Sexleben zuzuschreiben.
Kinder würden demnach leider nur in den ersten zwei Jahren - und dann erst wieder nach Verlassen des elterlichen Hauses wesentlich zum Glück beitragen.

Und Religion - ist sie eine Quelle von Glück? In den Glücksratgebern ist Religion allenfalls eine tolerierte Zutat fürs Wohlbefinden. Mehr nicht.

Wer von früh auf zu hören bekam „Der liebe Gott sieht alles”, der hat es schwer, das Glück mit Religion in Verbindung zu bringen. Bei Religion denkt er vielleicht eher an Gehorsam als an die Freiheit des Glaubens; an Demut und Bescheidenheit mehr als an Vitalität und Lebenslust. Doch ich bin überzeugt, dass Gott uns Menschen glücklich und nicht unglücklich gewollt hat. Die Schöpfung, aber auch die Erlösung und Errettung dieser Welt deuten das an.

Teil 2

Produkte gibt es, die versprechen mir, wenn ich sie kaufe, das pure Glück. Schon die Werbung klingt verführerisch. Etwa so: „Greif zu, wickel es aus, schiebe es in den Mund und erfahre das Glück”. Eine sehr wirksame Werbung, weil sie dem glücksuchenden Menschen entgegenkommt: „Ich will Genuss sofort!”

In solch einer Erlebniswelt mit ihren Glücksversprechen nimmt Religion sich ziemlich sperrig aus. Der christliche Glaube jedenfalls kann nicht locken: „Greif zu, wickel es aus, schiebe es in den Mund und erfahre das Glück ...” Eine „Ich-will-Genuss-sofort-Religion” ist der christliche Glaube nicht.

Es stellt sich deshalb die Frage: Hat die Religion zu unserem Glück noch gefehlt? Brauchen wir sie, um glücklich zu sein?

Pauschal kann ich die Frage nicht mit Ja oder Nein beantworten. Mir geht es wie vielen Menschen auch: Ich habe manche Fragen ans Leben, Fragen auch an Gott. Von meinem Glauben her weiß ich, dass ich Antworten unter Umständen erst morgen, erst in einem Monat, nach Jahren vielleicht oder gar erst `am Ende der Zeiten" erhoffen kann. Ich kann nicht sagen, dass ich darüber ein unglücklicher Mensch geworden bin. Denn das weiß ich auch: Mit all dem, was ich nicht verstehen kann, bin ich doch aufgehoben in der Liebe Gottes. Glück besteht für mich also auch darin, mich geborgen zu wissen.

Neben und in der eigenen Lebensgeschichte gibt es bei jedem von uns auch eine Geschichte des Glaubens, die persönliche Geschichte eines jeden mit Gott. Manchmal kann es ganz nützlich sein, den Verlauf des bisherigen Lebens mit seinen Höhepunkten und den Tiefen mancher Krisen auf ein Blatt Papier zu zeichnen, unterlegt von den jeweiligen Jahreszahlen. In dieses Schaubild lässt sich dann eine zweite Kurve zeichnen: die Geschichte meines Glaubens, meiner Gotteserfahrung. Auch da wird es Höhepunkte und Sternstunden geben neben Zeiten von Lebens- und Gottesmüdigkeit.

Dass beide Linien bis heute nicht abgerissen sind, das ist für mich auch ein Stück Lebensglück. Immer hat es etwas gegeben, was mir in meinen mancherlei Einbrüchen und Sinnkrisen auf die Beine geholfen hat. Bei Ihnen ist das ebenso. Denn weder Sie noch ich hätten sonst den heutigen Tag erlebt.

Unglück glaubt man leicht zu erkennen und bejammert es dann flink und zungenfertig. Glück wird oft nicht so schnell als solches erkannt. Das kenne ich auch von mir: Was mir Unglück schien, hat sich im nachhinein als mein Glück herausgestellt. Was ich für Glück hielt, war auf Dauer nicht gut für mich. Nein, da ist nichts mit dem verlockenden Rat: „Wickel es aus, schieb es in den Mund und erfahre das Glück”. Glück wird zum Segen, und das Mittel der Verwandlung heißt Dankbarkeit.


Teil 3
Was ist Glück? Wenn ich erkennen kann, was mir ohne mein Zutun zugefallen ist; und wenn ich das so in mein Leben hineinnehmen kann, dass es auch für die Zukunft wichtig und zum Segen wird.

Nützlich finde ich den Rat des alttestamentlichen Weisheitslehrers:

Genieße das Leben mit der Frau, die du liebst,
alle Tage deines flüchtigen Lebens,
die er dir unter der Sonne gegeben hat ...
Denn das ist dein Anteil am Leben
und an der Mühe, die du dir unter der Sonne machst.
Alles, was deine Hand zu tun findet,
das tue, solange es in deiner Macht steht.

Es scheint also ein Zusammenhang zu bestehen zwischen glücklich sein und tätig werden. Ganz unromantisch und handfest praktisch wird mir empfohlen: „Alles, was deine Hand zu tun findet, das tue, solange es in deiner Macht steht”.

Lebensweisheit, Lebenskunst - zu meinem Erstaunen ist sie gespeist aus der Einsicht, dass das Leben nichtig und vergeblich sei. Wenn das der Weg zum Lebensglück ist, dann ist dieses Glück mehr als freie Zeit und Muße. Nichts gegen das Herumhängen und „die Seele baumeln lassen”. Doch Größeres ist zu gewinnen.

Wenn es eine Chance für das Glück gibt, dann heute. An diesem Tag tun, was an der Zeit ist. Nicht träge auf ein großes Wunder warten. Nur im Märchen hat man bei der Fee drei Wünsche frei. Der Preis kann aber sein, dass man wie Dornröschen vorher 100 Jahre schlafen muss, bis die Erlösung kommt.

Der Weg zum Glück beginnt nicht mit der Frage: Wie habe ich zu sein - etwa als Christ? Was muss ich als Christ tun? Solche Ideale entspringen der menschlichen Sehnsucht, immer besser zu werden, immer höher aufzusteigen, Gott immer näher zu kommen. Ich könnte auch sagen: Dorthin zu kommen, wo das Glück zu Hause ist. Ein mühsamer Weg, ein Weg, der einen oft überfordert, ein Weg, auf dem man leicht krank werden kann.

Nicht wenn wir hohen Idealen nachstreben, sondern wenn wir unseren Alltag bewusst leben und genießen, dann ist dort das Glück zuhause.

„Manchen Menschen bleibt alles Schwere erspart. Sie kennen keine Enttäuschung, keine Angst, kein Leid. Sie sterben auch nicht - sie verdorren wie Früchte, die bei der Ernte vergessen wurden”. Diesen Satz habe ich irgendwo gefunden. Er hat mich nachdenklich gemacht.

„Saft- und kraftlos werden und `verdorren wie Früchte, die bei der Ernte vergessen wurden”, das ist wohl der Preis für ein Leben, das man sich nur als leidensfreies Funktionieren vorstellt und dies dann für Glück hält.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie Ihr vermeintlich kleines alltägliches Glück wert schätzen können und es dankbar als Teil ihres Lebens sehen. Dankbarkeit kann uns den Himmel öffnen und uns aus unseren Ängsten reißen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen Glück und ein gutes Neues Jahr unter dem Segen Gottes. https://www.kirche-im-swr.de/?m=2892
weiterlesen...

SWR4 Abendgedanken RP

Was wären wir ohne unsere Ehrenamtlichen! Kirche,Vereine, Verbände, Initiativen, ja unser gesellschaftliches Leben ruht auf dem freiwilligen Engagement von Frauen und Männern. 23 Millionen Menschen über 14 Jahre sind es in unserem Land, davon allein über eine Million in der evangelischen Kirche.
Es scheint: das Ehrenamt hat Zukunft. Darum geht es im heutigen „Blickpunkt Kirche“.


Teil 1 Vom Ehrenamt und was es bringt

Ob bei der Betreuung von Kindern und Hilfe für alte Menschen, bei der Bewährungshilfe, beim Tierschutz oder in Sportvereinen - ohne den Einsatz freiwilliger und unentgeltlich engagierter Helferinnen und Helfer könnten viele Bereiche des öffentlichen und des sozialen Lebens kaum existieren. Auch die evangelische Kirche wird maßgeblich getragen von Menschen, die ihre Fähigkeiten, ihre Kraft und ihre Zeit ehrenamtlich zur Verfügung stellen - und das nicht nur bei der Telefonseelsorge, der Sterbebegleitung oder der ehrenamtlichen Mitarbeit in der Flughafenseelsorge.
Doch schon der sprachgewaltigste christliche Prediger des 17. Jahrhunderts, Abraham a Santa Clara, hat's gewusst: „Die Ehre ist ein Rechenspiel, bald gilt man nichts, bald gilt man viel“. Sollte das Image der Ehrenamtlichkeit von der augenblicklichen Kassenlage abhängen?
Dabei sind die Ehrenamtlichen ein großes Kapital. Doch nicht deshalb, weil sie Geld sparen. Geld, das man sonst für ein festes Gehalt und für Sozialabgaben hinlegen müsste. Sie sind ein großes Kapital, weil sie etwas Unverwechselbares zu geben haben.
Die besondere Qualität der Laien in der seelsorgerlichen Begleitung und im sozialen Ehrenamt ist eingehend untersucht worden.
Ein Ergebnis finde ich überraschend: Danach bringen die Nicht-Profis in die praktische Arbeit im allgemeinen mehr Enthusiasmus und eine stärkere Motivation ein. Sie haben meist mehr Geduld mit schwierigen Klienten, für die Profis schneller die Hoffnung verlieren. Ehrenamtliche Helfer sind nicht unbedingt auf Veränderung aus, sondern begnügen sich eher damit, schwer Ertragbares tragen zu helfen.
So ist der Dienst der Laien sinnvoll und wertvoll als Ergänzung zur Arbeit der hauptberuflichen Helfer, und mit Recht dürfen sie ein großes Maß an Mitbestimmung erwarten; an Einflussnahme auf das Projekt, an dem sie beteiligt sind.
Wilhelm Busch, der so viel vom menschlichen Wesen verstand, hat das Verhältnis von Ehrenamt und Hauptamt mit einer satirischen Parabel auf den Punkt gebracht. Wer fühlt sich nicht an manche Zustände in der Kirche, aber auch in der Politik erinnert:

Ein dicker Sack - den Bauer Bolte,
der ihn zur Mühle tragen wollte,
um auszuruhn, mal hingestellt
dicht an ein reifes Ährenfeld
legt sich in würdevolle Falten;
und fängt 'ne Rede an zu halten,
„Ich“, sprach er, „bin der volle Sack.
Ihr Ähren seid nur dünnes Pack.
Ich bin's, der euch auf dieser Welt
in Einigkeit zusammenhält.
Ich bin's, der hoch vonnöten ist,
dass euch das Federvieh nicht frisst;
ich, dessen hohe Fassungskraft
euch schließlich in die Mühle schafft.
Verneigt euch tief, denn ich bin Der!
Was wäret ihr, wenn ich nicht wär?“
Sanft rauschten die Ähren:
Du wärest ein leerer Schlauch,
wenn wir nicht wären.

Was tun, damit der ehrenamtliche Einsatz nicht zur Last wird und die Freude verloren geht? – darum geht es gleich.

MUSIK

Teil 2 - das Ehrenamt - Lust oder pure Last?

Kirchen und Sportvereine, Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften, Parteien und öffentliche Ehrenämter in der Kommunalpolitik leben davon, dass Frauen und Männer ihre Zeit, ihr Wissen und ihre Kräfte einsetzen. Ohne Freiwilligkeit wäre unser Zusammenleben arm.
Doch muss ehrenamtliche Arbeit deshalb völlig selbstlos sein? War es richtig, dass wir - besonders in der Kirche - stets ermahnt wurden, uns selbst zurückzunehmen und zuerst dem anderen zu helfen:
dem, der arm ist?
dem, der krank ist?
dem, der alt und gebrechlich ist?
dem, der als Flüchtling zu uns kommt?

Ist es vielleicht das, was manchen Christen zunehmend zu schaffen macht? Diese ständige Überforderung? Dieser nie endende Anspruch an ihre Hilfsbereitschaft, das immerwährende Einfordern ihrer Solidarität? Könnte das ein Grund dafür sein, warum es oft schwierig ist, Menschen fürs Ehrenamt zu gewinnen? Wo Leistung gefordert wird, darf die Anerkennung dieser Leistung nicht ausbleiben.
Das Gebot der Nächstenliebe wird häufig missverstanden. Als ob es
eine einseitige Weisung wäre: Jeder achte auf das Wohl des anderen. Als müssten gute Christen aus lauter Bescheidenheit und Uneigennützigkeit ihr eigenes Wohl zurückstellen. Sich für den Partner, die Kinder, die Eltern, das Geschäft, die Firma aufzuopfern, ist keine Nächstenliebe, wie Jesus sie verstanden hat. Denn er wollte keine Menschenopfer.
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, sagte er. Also darf sich in die liebevolle Fürsorge einbeziehen, wer sich für andere einsetzt. Das Geben und das Nehmen, der Einsatz und der Nutzen dürfen in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. Ehrenamtlich arbeiten, heißt nicht: selbstlos sein.
Die scheinbare Selbstlosigkeit kann leicht dazu führen, diejenigen auszubeuten, für die man da sein will. Denn das ist eine Form von Ausbeutung: von denen Dank und Anerkennung einzufordern, die auf Hilfe angewiesen sind. Braucht etwa der Helfer den Hilfesuchenden? Der Berater den Ratsuchenden?
Menschen, die sich für die Gemeinschaft einsetzen, dürfen etwas von ihrem Engagement haben. Eine Ehrenamtliche bei der Telefonseelsorge hat das so für sich entdeckt: Da bekomme ich etwas, was mir mehr wert ist als eine finanzielle Vergütung: eine unmittelbar einleuchtende Aufgabe; eine gründliche und umfassende Ausbildung; hohe Verantwortung im Dienst am Telefon; spirituelle Begleitung und Fortbildungsangebote. Alles Dinge, die für Geld nicht zu haben sind.

Was dem ehrenamtlichen Engagement seinen Sinn gibt – darum geht es gleich.

MUSIK

Teil 3 Gedanken zum Ehrenamt.

Auch Helfer werden müde. Wenn Sie selber im sozialen Bereich ehrenamtlich engagiert sind, fragen Sie sich vielleicht gelegentlich: Was kann ich denn auf Dauer schon bewirken? Mit leeren Händen lasse ich mich auf den anderen Menschen ein. Ich bewege mich in einem Umfeld, wo andere von Berufs wegen viel in der Hand haben und damit auf ganz andere Weise als ich aktiv sind. Ich kann doch nur „da sein“.
Diesen Zweifeln gegenüber sage ich Ihnen: Allein schon, dass Sie da sind, dass Sie mit dem andern Menschen zusammen tragen wollen, was ihm allein zu tragen zu schwer ist, das ist ein Signal gegen die Resignation und Hoffnungslosigkeit. Wo Außenstehende oft die eigene Haut retten wollen, da helfen Sie einem fremden Menschen, dass er sich, die Welt, das Leben mit neuen Augen sehen kann. Für mich ist das nichts anderes als christliche Seelsorge. Wer das tut - ob nun hauptberuflich oder ehrenamtlich - , der betreibt dieses zwar anstrengende, aber lohnende und die Not wendende Geschäft der Seelsorge. Anstrengend deshalb, weil wir Menschen uns Veränderung wünschen, wenn es uns nicht gut geht. Aber wenn diese Veränderung kommt, macht sie dann auch Angst und stellt vieles infrage, was uns lieb und vertraut war.
Und doch lohnt es sich, einem anderen dabei zu helfen, dass er sich selbst als wertvoll sehen kann. Schlicht deshalb, weil er ein von Gott geliebter Mensch ist und gerade darin einmalig. Wenn wir versuchen, anderen zu helfen, können wir uns immer auf eine Kraft berufen, die nicht von uns selbst ausgeht. Eine Kraft, die zum Glück nicht von unserer Charakterstärke abhängt und auch nicht von unserer Nervenstärke; eine Kraft, die beiden hilft: dem, der hilft und dem, der Hilfe erfährt.
So könnten Ehrenamtliche auch von selbst erfahrener Seelsorge erzählen; davon, dass das Zutrauen zu den eigenen Kräften gewachsen ist; dass sie gelernt haben, eigene Schwächen zu sehen und auszuhalten; dass sie Nähe und herzliche Zuwendung erlebt haben oder erst zu deren Erleben fähig geworden sind. Und sie könnten erzählen, dass sie im Mitarbeiterkreis gelernt und erfahren haben: Zu wichtigen menschlichen Beziehungen gehören auch Auseinandersetzungen und Klärungen.

Beide, Ratsuchende und Helfer, erleben, dass neues Vertrauen, neue Hoffnung im Gespräch, im Hören aufeinander entstehen. Beide können dann in scheinbar ausweglosen Situationen neue Möglichkeiten erhoffen und sehen. Das Leben ist nicht grenzenlos, doch innerhalb der Grenzen ist Leben möglich. Jeden Tag aufs neue. https://www.kirche-im-swr.de/?m=2379
weiterlesen...

SWR4 Sonntagsgedanken

Teil 1
Es soll Leute geben, die sind stolz darauf, dass sie in ihrem Leben noch nie eine Aktie erworben haben. Was mit Geld und Wirtschaft zu tun hat, ist manchen von vornherein verdächtig. Von Finanzen und Wirtschaft verstünden sie nichts, sagen sie, und sie wollten damit auch nichts zu tun haben. Das Thema „Geld“ scheint zu den wenigen noch verbliebenen Tabuthemen unserer Zeit zu gehören.

Warum ist das so? Fachleute haben das Phänomen untersucht. Sie nennen gleich mehrere Ursachen. Zum Beispiel: viele Menschen empfänden es unangenehm, offen über Geld zu reden: Das Gespräch über Geldmangel löse oft Schamgefühle aus, das Reden über zuviel Geld mache neidisch. Das Thema Geld, so die Untersuchung, sei eher Teil der persönlichen Intimsphäre. Außerdem gelte es als oberflächlich und moralisch fragwürdig, sich intensiv mit dem Thema Geld zu befassen. Wer finanziell clever und erfolgreich ist, gerate leicht in den Verdacht, andere zu übervorteilen. Bei Geldgeschäfte heiße es dann oft: „Davon verstehe ich nichts, das macht mein Mann / meine Frau“.

Nun könnten Christen sich auf manch fromme Worte berufen, um ihre Unsicherheit im Umgang mit Geld zu rechtfertigen. Hat nicht Jesus selbst gesagt: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“? Aber derselbe Jesus hat auch geraten: „Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon“. Und sein Rat, „klug zu sein wie die Schlangen, doch ohne Falsch wie die Tauben“ - könnte der nicht auch für den Umgang mit den Finanzen gelten?
Und wenn in dem Evangelium des heutigen Sonntags geraten wird: „Wenn du Almosen gibst, sollst du es nicht vor dir ausposaunen lassen“ und wenn statt dessen empfohlen wird: „Wenn du Almosen gibst, lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut“ - dann werden ja keineswegs diejenigen als moralische Vorbilder hingestellt, die von Wirtschaft und Finanzen keine Ahnung haben.
Aus biblischer Sicht ist Geld weder gut noch böse. Entscheidend ist, wie ein Mensch über Geld denkt: ob es zu einem guten Leben hilft.
Wenn es nach dem Evangelium für den heutigen Sonntag geht, hilft Almosen geben in der Tat zu einem guten Leben. Almosen geben, wir sagen heute „spenden“ dazu, kann man aber nur, wenn man auch Geld hat.

Deshalb kann man schon stolz sein über den erarbeiteten Wohlstand, über technische Errungenschaften und darüber, dass in unserem Land Menschen einen hohen Bildungsgrad erreichen können. Die Frage ist nur: wem soll das dienen? Wer soll dadurch einen Vorteil haben?

Teil 2
Wem hilft, wem nützt der ganze Reichtum? Und wofür soll er eingesetzt werden?

Ist er ein Symbol für das, was ich wert bin? Bin ich das, was ich besitze? Soll für mich als Zielvorgabe dienen, was die Werbung so auf den Punkt bringt: „Mein Haus, mein Auto, mein Boot, mein Pferd“? Wer gesund bleiben will, muss sich diesen Fragen stellen.

Hängt mein Selbstwert von dem ab, was ich besitze, dann muss ich immer in Angst und Sorge leben. Ist der Besitz zu klein, fühle ich mich auf Dauer unterlegen.Ist er sehr groß, muss ich Angst haben, ihn zu verlieren.

Nicht nur Armut, auch Überfluss kann einem Menschen die Seele wegfressen. Das haben schon Menschen in grauer Vorzeit gewusst. Damals hat man sich die Sage vom Lebensschicksal des Königs Midas erzählt: Der wollte über die Maßen reich sein, niemand sollte mehr Gold besitzen als er. So wünschte er sich, dass alles, was er anfasste, zu Gold wurde. Sein großer Lebenswunsch wurde ihm gewährt. Alles, was er berührte, wurde zu purem Gold. Bei märchenhaftem Reichtum ist er schlichtweg verhungert. An seinem Gold ist er gestorben; denn Gold kann man nicht essen. Als er das merkte, war es schon zu spät. Nicht nur die Gemeinschaft hat er zerstört, sondern letzten Endes sich selbst. Man kann sterben, wenn man alle sich bietenden Möglichkeiten nutzt.
Gold kann man nicht essen. Und Reichtum beruhigt zwar, aber macht nicht lebenssatt.

Doch zum Glück gibt es Lebensbrot gegen den inneren Hunger und die Lebensangst. Gegen die Angst, es könne einmal nicht mehr reichen, setzt Jesus das Vertrauen. Gegen die Sorge, das Leben würde seine Berechenbarkeit verlieren, lädt er ein, sich auf ihn einzulassen und sich dem Leben zu überlassen. Teilen und Anteilgeben, hilft dabei. So ist man offen für Gott und die Menschen und gewinnt darüber die eigene Lebendigkeit zurück, Das verspricht Jesus dem, der es probiert.

Wo einer aus seiner berechnenden Grundhaltung von sich aus nicht herausfindet, da spricht er ihn an: Du kannst dir mehr Freiheit leisten, als du glaubst. Du darfst vertrauen, Lass die Angst nicht dein Ratgeber sein. Sie soll nicht dein Handeln, nicht deine Entscheidungen bestimmen. Ich bin überzeugt: wer das probiert, wird entdecken: Das tägliche Brot für den heutigen Tag wird uns zur Verfügung stehen.

Wer Vertrauen hat, kann klar denken. Angst und Habgier hingegen vernebeln die Sinne. Um des klaren Denkens willen sollten Christen sich in Sachen Geld und Wirtschaft sachkundig machen. Für mich ist es kein Ausweis besonderer Frömmigkeit, wenn einer Geld und Wirtschaft pauschal verteufelt. Ich meine, wir sollten stattdessen die richtigen Fragen stellen. Zum Beispiel: Nach welchen Maßstäben bemisst sich der Erfolg einer Geldanlage? Wie ist der Gewinn eines Unternehmens zustande gekommen und wie wird er investiert? Ist wirtschaftlicher Erfolg nicht immer eine Gemeinschaftsleistung aller Beteiligten?

Mit seinem klaren Denken ist zum Beispiel Martin Luther zu der Erkenntnis gekommen: „Gott will nicht, dass man nicht Geld und Gut haben und nehmen soll, oder, wenn man´s hat, wegwerfen solle, wie etliche Narren unter den Philosophen und tolle Heilige unter den Christen gelehrt und getan haben“. https://www.kirche-im-swr.de/?m=2091
weiterlesen...

SWR4 Sonntagsgedanken

Teil 1
Weit zurück liegt die Zeit, als man uns das Kinderlied vom kleinen Hänschen gesungen hat, das voller Neugierde in die Welt hinaus wandert. „Stock und Hut stehn ihm gut, ist auch wohlgemut“. Mittlerweile sind wir selber Eltern geworden, vielleicht schon Großeltern, haben Kinder und Enkelkinder. Doch die Erfahrungen des kleinen Hänschen sind zeitlos. Solange es Kinder gibt, werden sie es dem kleinen Hans nachmachen: wollen entdecken und erforschen, die große unbekannte Welt in Besitz nehmen. Da probieren sie es aus: Wie weit darf ich mich und wie weit kann ich mich entfernen, ohne dass es für mich und meine Eltern schlimm wird? Die sieben Jahre, die der kleine Hans in der Fremde verbringt, sind heute für ein Kind - für eine Kathrin, einen Luca oder Finn - vielleicht ein Vormittag in der Schule, ein paar Stunden im Kindergarten oder auf dem Spielplatz, für den groß gewordenen Hans werden sie später die Ausbildung sein, der Anfang im Beruf oder die Gründung einer eigenen Familie.
Was hilft Hänschen, was hilft Kathrin und Luca, dass sie sich auf den Weg machen können? Am Anfang vielleicht vor allem das Gefühl: Ich kann jederzeit zurück kommen.
„Doch die Mutter weinet sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr“. Der kleine Hans braucht anscheinend diese Vorstellung. Vielleicht kann er irgendwann die Trennung nicht mehr aushalten. Mit dem Bild der weinenden Mutter im Kopf kann er erleichtert in die Geborgenheit zurückkehren: Ich kann meine traurige Mutter doch nicht allein lassen.
Und irgendwann werden die groß gewordene Kathrin, der erwachsene Luca oder Finn ihren Weg gehen und auch das Recht auf den eigenen Umweg beanspruchen. Diese Erfahrungen werden sie verändern.
Wenn sie hin und wieder in ihr altes Zuhause zurückkehren, dann werden sie verändert zurückkommen. Schön, wenn dann eine Kathrin, ein Luca, ein Finn wie der Hans in der ursprünglichen Fassung des Liedes empfangen wird: „Hans, mein Sohn, grüß dich Gott, mein Sohn“. Schön, wenn unsere Kinder von den guten Wünschen derer begleitet werden, die zu Hause bleiben. Statt zu sagen „Du kannst ruhig gehen, aber du wirst schon sehen, was du davon hast“, wünschen wir ihnen das Glück des mitgehenden Gottes: „Du sollst gesegnet sein, wenn du fort gehst und wiederkommst“ (Ps. 121); denn der Herr behütet deinen Ausgang und deinen Eingang. So jedenfalls steht es in einem anderen, noch viel älteren Lied, nämlich in den Psalmen, dem alten jüdischen Gesangbuch. Aus dem Gewohnten weggehen und zurückkommen dürfen und von Segenswünschen begleitet sein, so lernt man das Erwachsenwerden.

2. Teil
Für Eltern ist es manchmal schwer, dem Erwachsenwerden, diesem Entdecken und Erproben, dem Weggehen und dem Wiederkommen der Kinder zuzusehen. Aber ich glaube, wir Eltern müssen es uns nicht so schwer machen. Es genügt, wenn wir unseren Kindern zutrauen, dass sie einen guten Weg im Leben gehen. Es genügt, sie mit guten Gedanken ihren Weg gehen zu lassen, sie also zu segnen.
„Du sollst gesegnet sein, wenn du fort gehst und wiederkommst“ (Ps. 121); denn der Herr behütet deinen Ausgang und deinen Eingang. Was ich da in der Bibel finde, sagt mir: schon immer haben sich Menschen darauf verlassen: Gott wird mit denen gehen, die uns verlassen. Wo wir nichts mehr tun können, da wird er sie begleiten. Das hat ihnen den Abschied leichter gemacht und das Warten. So können auch Eltern sich selbst und ihre Kinder dem Segen Gottes anvertrauen.
Dieser Segen wird zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich konkret. Joachim Scharfenberg, ein Theologe und zugleich Psychotherapeut, erinnert sich:
„Meine Mutter segnete mich, als sie mich an ihre Brust legte oder mir die Flasche gab. Mein Vater segnete mich, wenn er Nein sagte. Meine Geschwister segneten mich, indem sie mir ermöglichten, anders zu sein als sie. Menschen segneten mich, indem sie Vorbild waren, andere, indem sie mir zeigten, was ich nicht sein wollte. Gott segnet mich, indem er elementare Bedürfnisse befriedigt und indem er Nein sagt. Gott behütet mich, indem er mir zeigt, wie ich sein kann und wie nicht. Heißt ein Gesegneter sein vielleicht einfach ich selbst sein können?“
Gott hat mich gesegnet. Wenn Eltern für sich und ihre Kinder darauf vertrauen, dann können sie sich dem Leben anvertrauen. Dann wird einem Kind nicht immer nur das angstvolle alte Lied gesungen. Das geht gewissermaßen nach der Melodie: „Freu dich nicht zu früh, der Ernst des Lebens kommt noch“. Das einzige, was unser Kind lernt, ist dann: Wenn die Freude spärlich bleibt, dann bleiben auch mögliche Enttäuschungen erträglich.
Dagegen können Eltern, die auf Gottes Segen vertrauen, ein anderes, ein neues Lied singen. Sie können ihren Kindern sagen: Du, es stimmt nicht, was manche Leute glauben: „Vögel, die am Morgen singen, holt am Abend die Katz“. Du kannst ganz mutig und fröhlich in jeden neuen Tag gehen. Weder Kinder noch Erwachsene müssen ängstlich mit eingezogenem Kopf durch den Tag laufen. Gott begleitet dich und uns mit seinem Segen.
Natürlich können wir nicht wissen, was auf uns und unsere Kinder im Leben alles zukommen wird. Doch eine Kathrin, ein Luca und ein Finn sollen nicht bloß auf mögliche Niederlagen und Enttäuschungen warten. Wir Eltern und Großeltern können ihnen helfen, auf Gottes Begleitung zu hoffen. Dann werden sie nicht sang und klanglos ihren Lebensweg gehen, sondern einstimmen in die Erfahrung des Psalmbeters: „Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder“. https://www.kirche-im-swr.de/?m=1265
weiterlesen...

SWR4 Abendgedanken RP

Teil I

Vielleicht kennen Sie die berühmte Kreuzigungsszene aus dem Bild von Matthias Grünewald. Neben dem Gekreuzigten steht Johannes der Täufer. Mit einem übergroßen Finger zeigt er auf Jesus. Angeregt durch dieses Bild meinte ein zeitgenössischer Theologe, man sollte einen Christenmenschen heute mit einem übergroßen Ohr malen. Denn nicht das selbstsichere Reden, sondern das übergroße Ohr mache den Christenmenschen. Ich verstehe das so: Wer zunächst „ganz Ohr” ist, kann dann zum Mund werden. Und zwar zum Mund für jene, die täglich immer noch zu Kreuze kriechen müssen.

Einen Menschen „zu Kreuze kriechen” lassen - das ist demütigend und beschämend, des Menschen also nicht würdig. Und doch geschieht es täglich irgendwo in unserer Stadt. Vielleicht sogar in unserer Nachbarschaft. Zum Beispiel in einer Ehe, wo der Partner, der „im Recht ist”, dem andern nach Jahren noch einen Fehltritt vorhält. Der Arbeitssuchende, der sich im Vorzimmer des Personalchefs erniedrigen lässt. Misshandelte Kinder und geschlagene Frauen - so viele, die zu Kreuze kriechen müssen. Es ist immer das Gleiche: Macht wird dazu missbraucht, einen Menschen klein zu machen.

Zuerst kommt das Hören. Was nehme ich wahr, wenn ich ganz Ohr bin? Wenn ich genau hinhöre auf die Geschichte, wie Jesus gekreuzigt wurde, dann wird mir klar: Äußerlich ist Jesus zwar gedemütigt und beleidigt worden. Aber in Wahrheit ist Jesus zu keiner Zeit „zu Kreuze gekrochen“. Denn vor Gott hat Jesus niemals seine Würde verloren, im Gegenteil. Gott war bei ihm bis zum Schluß, Gott hat mit ihm gelitten.

Damit ist Gott ein für allemal zum Anwalt der Gedemütigten geworden. Zum Anwalt derer, die schuldig geworden sind. und derer, die mit ihrer Not nicht wissen wohin. Gott will, dass sie aufrecht gehen können.

Wenn man mit großem Ohr auf die Kreuzigungsgeschichte hört, dann erfährt man: Jesus stirbt den Tod am Kreuz, damit nie mehr ein Mensch zu Kreuze kriechen muss - weder vor Gott noch vor einem Menschen. Menschen sollen den aufrechten Gang lernen trotz aller Schuld, die sie zu tragen haben.

Teil II

Man muss jedem eine neue Chance geben. Neu anzufangen ist möglich. Das ist vernünftig, und das sagt sich leicht, aber es zu leben ist etwas anderes. Was „Gnade” ist, glaubt heute jeder zu wissen. Und wer immer sich als Christ versteht, weiß, dass wir alle von der Gnade Gottes leben. Aber was ist, wenn ein Christ sich öffentlich dafür einsetzt, dass Gnade auch für den von Rechts wegen verurteilten Mörder und Gewalttäter gelten soll?Wenn er fragt, ob einer Begnadigung in jedem Fall die öffentlich bekundete Reue vorausgehen muss? Was, wenn einer mit der frohen Botschaft ernst macht, dass Christus auch für den Mörder und Gewalttäter gestorben ist, und keiner von uns sich sein Leben selber verdankt? Dann spaltet das Evangelium die öffentliche Meinung in verschiedene Lager.

Konkret: Durfte zum Beispiel Brigitte Mohnhaupt nach 24 Jahren vorzeitig aus der Haft entlassen werden? Darf Christian Klar begnadigt werden? Beide zählten sie zum harten und gewaltentschlossenen Kern der einstigen RAF. Zu fünfmal lebenslänglich plus 15 Jahren Haft wurde Brigitte Mohnhaupt damals verurteilt. Sie verbrachte fast ihr ganzes Erwachsenleben im Untergrund oder in der Haft.

Es ist genug gesühnt, sagen die einen. Die andern halten dagegen: Die Morde an Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seinen Begleitern, am Chef der Dresdner Bank Jürgen Ponto und an Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer – diese Morde können ein ganzes Leben nicht gesühnt werden. Die einen treten für Begnadigung ein. Die andern wollen die Täter von einst wirklich ein Leben lang hinter Gittern sehen.

Ich bin kein Jurist und kann den juristischen Tatbestand nicht bewerten. Ich bin Pfarrer und frage: Was eigentlich macht den Menschen zum Menschen? Ist es seine Wohlanständigkeit? Ist es seine moralische Unversehrtheit? Sind es genetische Anlagen? Oder was sonst?

Die Bibel antwortet darauf klar und eindeutig: Die Würde eines Menschen hängt nicht davon ab, was dieser getan hat. Jeder Mensch behält seine Würde, auch wenn er gegen alle Würde verstoßen hat. Deshalb sind auch Menschen wie Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar mehr, als sie selbst aus sich gemacht haben. Und eine Gesellschaft, die sich auf ihre christlichen Wurzeln beruft, bleibt verantwortlich sogar noch für ihre Feinde. Christlicher Glaube hält daran fest: der Mensch ist mehr wert, als er sich durch bürgerliche Anständigkeit erarbeitet hat.

Für uns ist das manchmal schwer zu verstehen. Doch Gott hat sich enschieden, uns Menschen so zu sehen. Gott will nämlich, dass keiner von uns verloren geht. Und wir sollen dafür sorgen, dass Menschen nicht verloren gehen, sondern wieder den Weg in die Gemeinschaft zurück finden.

Teil III

Übermorgen ist Karfreitag - für Christen ein herausgehobener Tag im Kirchenjahr.
Am Karfreitag werden die Verhältnisse wieder vom Kopf auf die Beine gestellt: Wo wir meinen, die Sache sei todsicher, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Denn das letzte Wort steht Gott allein zu. Er bringt in Ordnung, was verfehlt ist. Am Ende können wir nicht sagen: Ich erwarte von Gott die Verurteilung dessen, was ich immer schon verurteilt habe. Ich erwarte von Gott die Rechtfertigung dessen, was ich immer schon bei mir für gerechtfertigt halte. Gottes Urteil steht noch aus. Wir wissen nicht, wie es ausfallen wird und müssen es aushalten, dass wir es nicht wissen.

Bis dahin sollen wir tun, was Gott von uns erwartet: nämlich dafür sorgen, dass Menschen wieder gemeinschaftsfähig werden, die Opfer wie die Täter. Denn beide, Täter wie Opfer brauchen es, erlöst zu werden. Beide sollen in ihrem Schmerz, der Trauer, aber auch in lang schwelender Wut nicht verhärten oder davon aufgezehrt werden. Die Täter wie Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar brauchen es, damit sie die Verantwortung für ihre Taten übernehmen und die betroffenen Familien um Verzeihung bitten können - unabhängig davon, ob die Angehörigen diese Bitte annehmen können.

Manche meinen, es müsse erst genug gesühnt werden. Jedoch: Morde können nicht gesühnt werden. Selbst eine Haftstrafe bis zum Lebensende vermag dies nicht. Und was den Seelenfrieden der Opfer angeht: Stimmt sie wirklich, die Devise: Nach einem harten Urteil ist gut ruhen!? Kommen wir damit zur Ruhe?

Eine der Vaterunser-Bitten Jesu lautet: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern”. Die Fähigkeit, anderen Schuld zu vergeben, ist eng verknüpft mit dem Wissen um die eigene Schuld. Vor Gott sind wir alle auf Gnade angewiesen, vielleicht mehr, als uns bewusst ist. Aber vor Gott sind wir immer auch mehr als das, was wir im Leben getan oder unterlassen haben. Deshalb soll kein Mensch, nicht einmal eine Brigitte Mohnhaupt oder ein Christian Klar bis zum Lebensende „zu Kreuze kriechen” müssen. Jeder und jede darf als ein Mensch Gottes aufrecht gehen.

Ich bin oft fassungslos über das, was Menschen einander antun können. Doch ich möchte mir die Hoffnung bewahren, die Dietrich Bonhoeffer in die Worte gefasst hat:

Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten,
Gutes entstehen lassen kann und will.
Dafür braucht er Menschen,
die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. https://www.kirche-im-swr.de/?m=1085
weiterlesen...

SWR4 Abendgedanken RP

Teil 1
Manchmal jault Nikie im Schlaf. Nikie ist sieben Jahre alt und ein besonderer Hund. Er wird als Therapiehund eingesetzt. Bei so genannten „Großschadenslagen” soll er den körperlich und seelisch stark belasteten Notfallhelfern das Leben und die Arbeit erleichtern. Die sind überzeugt, dass Nikie Außergewöhnliches leistet. Der Hund nehme den Einsatzkräften viel Druck und Stress ab, sagt sein Besitzer. Er weiß: „Es gibt einen besonderen Punkt bei jedem Menschen, an dem ein Tier ihn wieder zum Kind werden lässt”.
So kniet manch gestandener Einsatzhelfer vor Nikie und erzählt ihm, was ihm auf der Seele liegt. Sogar von Trennungen und gescheiterten Ehen erzählen die Helfer in den Einsatzpausen, von Kindheitserinnerungen und natürlich von all den schrecklichen Bildern, die sie bei den tagelangen Extremeinsätzen nicht aus dem Kopf bekommen.
Auch ein Therapiehund kann Stress nicht pausenlos aufnehmen, er muss ihn auch wieder abgeben können. Zum Ausgleich bekommt Nikie nach seinem Einsatz eine Entspannungsmassage und er wird gründlich untersucht. Mit dem Stress wird er offensichtlich gut fertig. Doch nach einem langen Tag, da kommt es schon mal vor, dass Nikie im Schlaf jault. Nicht nur als Zuhörer, sondern auch unter der Stressbelastung verhält sich Nikie ganz menschlich.
So ist das nämlich auch bei den menschlichen Helfern: Für sich allein hält das keiner auf Dauer aus, was er da erlebt. Man muss es sich von der Seele reden können, damit man darüber nicht körperlich und seelisch zu Schaden kommt.
Das Bild des harten Mannes, der mit „zwei Korn, zwei Bier“ auch den härtesten Einsatz bewältigt, gehört zum Glück der Vergangenheit an. Trotzdem gibt es bei Feuerwehr und Rettungsorganisationen einen erhöhten Krankenstand. Viele Einsatzhelfer müssen vorzeitig in den Ruhestand gehen. Der Dienst für die Gemeinschaft ist ihnen im wahrsten Sinn auf die Knochen und an die Nieren gegangen. Darum gibt es eine Notfallseelsorge nicht nur für die Opfer, sondern auch für die Helfer. Dass sie von Seelsorgern wahrgenommen wird, will sagen: Wir brauchen Hilfe von außen, wenn wir Menschen helfen und dabei selbst Mensch bleiben wollen. Quellen außerhalb von uns selbst, denn sonst sind unsere eigenen Ressourcen irgendwann erschöpft. Wie wir füreinander einstehen und dabei sogar, wie Luther sagte, „füreinander zum Christus werden” können, darum geht es gleich nach der Musik

Teil II
Für die mit den Lasten des Lebens Beladenen gibt es berufsmäßige Helfer: für Ratlose gibt es Berater, für Kranke Ärzte, Schwestern und Pfleger, für alte Menschen Sozialarbeiter, für Zweifelnde und Bedrückte Seelsorgerinnen und Seelsorger. Wer an etwas zu tragen hat, ist dankbar, die Hilfe dieser Experten in Anspruch nehmen zu können.
Doch wie viele Schwestern, Pfleger, Pfarrer, Ärzte, ehrenamtlich Tätige können davon ein Lied singen, wie sehr sie als Helfer stark sein sollen – aber für die eigenen Belange finden sie kein Ohr.
Auch wir Seelsorger brauchen die gegenseitige Vergewisserung. Wer sich als Seelsorger auf Gott und die Menschen einlässt, muss damit rechnen, dass er mit der dunklen Seite einer ansteckenden Lebens- und Glaubensmüdigkeit in Kontakt kommen kann. Welche Seelsorgerin kann von sich sagen, sie kenne nicht auch Zeiten, wo ihr der Glaube wie Sand zwischen den Fingern zerrinnt? Deshalb: heute kann ich dir Mut machen. Morgen bin ich vielleicht darauf angewiesen, dass du mir auf die Beine hilfst.
Professionelles Wissen, in langen Berufsjahren erworben und vertieft, bewahrt nicht immer davor, sprachlos und verzagt zu werden. Dann brauchen wir einen, der uns etwas sagt, das uns Mut macht. Martin Luther hat es einmal so beschrieben: einer kann dem andern „zum Christus werden”.
Wer andern hilft - ob hauptberuflich oder im Ehrenamt - braucht auch für sich einen Helfer, der ihm Gehör schenkt und bei dem er sich etwas von der Seele reden kann. Wie sonst können zum Beispiel Seelsorger den Belasteten ihre Last abnehmen und den Bekümmerten neue Lebensmöglichkeiten erschließen?
Da wird zunächst also der gute Zuhörer gebraucht. Jemand, der einen ausreden lässt und einen nicht gleich mit guten Ratschlägen mundtot macht.
Das wäre ja auch keine Hilfe, wenn da einer käme, viele Worte machte, aber sich gerade so heraushielte. ,,Wissen Sie, Sie müssen das so sehen...” Als ob es darum gehen kann, die Dinge richtig zu stellen. Das wäre ja keine Hilfe, wenn man eingedeckt würde mit ,,guten Ratschlägen”: ,,Nun lassen Sie mal den Kopf nicht hängen. Sie müssen doch nicht immer gleich das Schlechteste annehmen”. Es wäre auch keine Hilfe, wenn man das Leid klein reden würde mit dem Satz: ,,Jeder von uns hat sein Päckchen zu tragen”.
Die Erstarrung löst sich in einem wirklichen Gespräch. Meist fängt es an mit der schlichten Frage: „Was ist los?” oder „Worum geht es?” So einfache Fragen - und so notwendig. Im wahrsten Sinn des Wortes ,,die Not wendend”. Wer so fragt, will sich einlassen. Er geht nicht auf Distanz. Er lässt sich treffen und hält stand. Dann kann ein Gespräch beginnen, das heilt.

Teil III
Wäre unser Alltag nur bestimmt von berufsbedingten Beziehungen, dann würden wir zwar funktionieren, aber wir würden kaum noch etwas ausstrahlen von der Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes. Wer nur noch Funktionär ist und sich in seinen Funktionen aufreibt - wie will der glaubhaft die befreiende Botschaft vermitteln, dass Gott kein Gefallen an Menschenopfern hat? Gott will, dass wir leben. Deshalb sind Seelsorger und Helfer jedweder Art auf gute menschliche Beziehungen angewiesen. Warmherzige und spielerische Beziehungen, wo einer für den andern richtig Zeit verschwendet.
Ein einfühlsames Wort, ein aufmerksames Zuhören - die lassen uns die Situation in einem neuen Licht sehen. Wenn einer da bleibt, uns anhört und mit uns spricht, entdecken wir vielleicht Möglichkeiten, die uns beim einsamen Grübeln verschlossen blieben.
Das ist für mich Seelsorge: Wenn sich ein Raum auftut, in dem ich nicht zu lügen brauche. Ein Raum, in dem ich angenommen werde mit meiner Not, meinen Gefühlen, meiner Überforderung. Ich muss nicht verbergen, wie mir zumute ist. All das schafft der Seele Raum. Dann kann ich aufatmen, auch wenn mein Idealbild vom starken, unerschütterlichen Helfer zerbricht. Vielleicht gerade deshalb, weil dieses unbarmherzige Bild zerbricht. Mit ihm zerbricht auch das Bild von einem unbarmherzigen Gott.
Sprechen und Zuhören - beides ist so lebenswichtig wie Ausatmen und Einatmen. Wir kommen zu Wort und uns wird Gehör geschenkt. Solche Erfahrungen sind im eigentlichen Wortsinn „Lebensmittel“: Nahrung für und durch den Tag.
In unserem überschaubaren Lebensbereich können wir viel füreinander tun. Wir können Auge sein in Situationen, in denen andere wegschauen. Wir können Ohr und Mund sein, wenn niemand sonst etwas zu sagen wagt und niemand weiß, wohin es gehen soll. Eines aber können wir nicht: Wir können nicht dem weltweiten Leiden ein Ende machen und den Tod in seine Schranken weisen. Auch mit dem größten Einsatzwillen können wir keine vollkommene Erde erschaffen. Es bleibt eine Grenze, die wir nicht überschreiten können. Die Grenze ist dann besonders schmerzlich zu spüren, wenn ein uns nahe stehender Mensch betroffen ist. Ich kann nicht an seine Stelle treten, nicht stellvertretend für ihn leben. Ich lebe mein Leben und stehe an meinem Platz, der andere lebt sein Leben und steht an seinem Platz. Eines allerdings kann auch die schlimmste Katastrophe und das größte Leid nicht zerstören, wenn wir selber es nicht verloren gehen lassen: dass wir füreinander achtsam sind und uns gegenseitig stützen und auffangen. Dass also einer dem andern „zum Christus wird”.
Ein junger Einsatzhelfer hat dieses Einstehen füreinander so erlebt: „Es ist”, sagte er, „als ob man einen schweren Rucksack einfach abgeladen hat“. https://www.kirche-im-swr.de/?m=835
weiterlesen...

SWR4 Sonntagsgedanken

Nur im Dunkeln sind bekanntlich alle Katzen grau. Bei Licht bese-hen, zeichnen sich die Konturen klar ab. Deshalb finde ich im ei-gentlichen Wortsinn „erhellend”, was ich in der Bibel lese. Ein ge-wisser Johannes schreibt an frühchristliche Gemeinden; an Men-schen, die wissen wollen, woran sie sich als Christen in einer un-christlichen Umgebung orientieren können. Er schreibt ihnen, wie sie den Geist Gottes erkennen und ihn von dem Ungeist unterschei-den können: „Jeder Geist, der bekennt, dass Christus im Fleisch ge-kommen ist, der ist aus Gott”. Und dieser Gott, so sagt Johannes weiter, ist „Liebe”.

Auch ich brauche Orientierung und überlege, wie der Tip des Jo-hannes für meinen Alltag, etwa als Bürger dieses Landes, praktisch sein könnte.

Zunächst einmal: „Gott ist Liebe”. Drei Worte nur. Früher gingen sie mir glatt über die Lippen. „Gott ist Liebe” - so selbstverständ-lich und regen keinen mehr auf. Oder doch?

Ich mußte wohl erst alt genug werden, um die Tragweite der drei Worte zu ermessen. Die weltpolitische Entwicklung hat das ihre dazu beigetragen. Wenn Gott ein Gott der Liebe ist, dann ist er ein anderer Gott als der, für den die Fanatiker aus den unterschiedlich-sten Lagern in den Krieg ziehen! Der Gott der Liebe erlöst uns Menschen von dem Fluch, einander zu bekämpfen und zu vernich-ten. Der Gott der Liebe macht Menschen nicht klein, sondern hat zum Beispiel ein Interesse daran, dass sie lernen und ihren Verstand gebrauchen. Dem Gott der Liebe sind Menschen heilig und keine Prinzipien.

Wenn ich das ausspreche, merke ich, dass Johannes mit seinem Rat, sich an den Gott der Liebe zu halten, den Christen einiges zumutet. In unserer Gesellschaft werden Schwache an den Rand gedrängt und die Starken nehmen, was sie kriegen können. Menschen, die anders sind, finden keinen Platz zum Leben. Ich finde, da dürfen wir Christen unsere Weisheit nicht für uns behalten. Es braucht Mut, sich gegen einen Trend zu stellen, gegenüber Vorurteilen und Klischees wachsam zu sein und klar zu denken. Aber Gott ist Liebe, Versöhnung also möglich. Versöhnung meint: Mit einem Widersa-cher so umgehen, dass er immer noch die Chance behält, als Mensch geachtet zu werden. Es lohnt sich mit dem Andersdenken-den zu leben, statt an der eigenen Gnadenlosigkeit unterzugehen. Gelegenheiten, für andere einzutreten, gibt es genug: Der eine ist mutig genug, sich auf einer Schul-Elternversammlung zu Wort zu melden und für bessere Lernbedingungen einzutreten. Ein anderer bringt den Mut auf, nicht in abfällige oder resignierende Bemer-kungen einzustimmen. Eine Studentin war mutig genug, die frem-denfeindlichen Äußerungen ihres Hochschullehrers nicht hinzu-nehmen, wonach Ausländer für die gleiche Tat härter zu bestrafen seien als Deutsche.

Wer Mut zeigt, ermutigt damit andere, Licht ins Dunkel zu bringen. Dieses Engagement sind wir Christen der Gesellschaft schuldig.

Für Johannes gehört die Unterscheidung der Geister zum Wesen des christlichen Glaubens. Er meint, Christen können den Geist des liebenden Gottes von menschenverachtenden Ungeistern unter-scheiden. Sie können Licht ins Dunkel bringen und haben deshalb für die Gesellschaft Erhellendes beizutragen.



„Gott ist Liebe”. Das ist die biblische Erkenntnis. Solche Klarheit kann Konflikte schaffen. Wer die Geister zu unterscheiden gelernt hat – wer also weiß, welche Folgerungen es hat, wenn wir an den Gott der Liebe glauben - der verunsichert diejenigen, die das Sagen haben in einer Gesellschaft. Deshalb haben die Mächtigen den Christen zu allen Zeiten geraten, sie sollten sich allein um das jen-seitige Heil des Einzelnen kümmern und diese vergehende Welt getrost den Politikern überlassen oder den Technokraten oder den Generälen. Christlicher Glaube sei eine Privatangelegenheit zwi-schen dem Einzelnen und Gott, gut für das innere Gleichgewicht und die seelische Gesundheit. Doch in der Welt geht es anders zu. Da kommt man mit dem Glauben nicht weit. Der Glaube solle die Art und Weise unseres Zusammenlebens getrost den Fachleuten überlassen.

Anders das Evangelium. In wünschenswerter Klarheit stellt es fest: Jesus ist nicht gekommen, um unsere Seelen ins Jenseits zu retten, uns in der Dunkelheit bloß zu beruhigen und uns mit angenehmen Phantasien aus der Realität wegzulocken. Der Glaube muß sich vielmehr dort bewähren, wo Menschen am liebsten die Augen zu-machen möchten, damit sie nicht sehen, wie schrecklich es zugeht in der Welt.

Hoffen trotz schlimmer Erfahrungen, glauben obwohl so viel dage-gen spricht - Glaube macht das Leben also nicht satt und bequem. Manchmal schafft er Konflikte. Doch diese Konflikte unterscheiden sich von fanatischer Gewalt. Anders als fanatische Gewalt sind die-se Konflikte nämlich lebensförderlich, weil sie gute Maßstäbe an die Hand geben. Maßstäbe, die unser Zusammenleben friedlicher machen. Maßstäbe, nach denen alle eine Chance bekommen.

Wer einen guten Maßstab, also auch ein stabiles Fundament für sich hat, der ist standfest. Wer standfest ist, kann sich auf Fremdes und Fremdartiges einlassen. Fanatisierte Menschen können sich nicht auf andere einlassen. Ihre Maßstäbe sind so ausschließlich, dass sie Menschen ausgrenzen, die anders denken, anders glauben, anders leben. Ihre Prinzipien sind ihnen so heilig, dass Menschen ihnen nicht mehr heilig sind.

Die Bibel dagegen zeigt: Wenn Jesus Mensch geworden ist, um un-ser Zusammenleben für die guten Möglichkeiten Gottes zu öffnen, dann werden die Starken für die Schwachen einstehen, dann muss man das Anderssein von Menschen nicht als Gefahr fürchten. Men-schen die anders sind, machen mit ihrer Kultur und Religion das Leben für alle bunt und vielfältig. Wer an den Gott der Liebe glaubt, kann sich über diese Vielfalt seiner Geschöpfe freuen. So wird es hell in der dunklen Welt. https://www.kirche-im-swr.de/?m=637
weiterlesen...