SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

01NOV2006
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Allerheiligen – für viele Menschen ein trauriger Tag. Sie besuchen heute Mittag die Gräber ihrer lieben Verstorbenen, zünden eine Kerze an und denken an die kostbaren Momente, die sie miteinander geteilt haben. Bei manchem ist die Wunde noch frisch, kaum verheilt und unversehens fängt sie wieder an zu bluten. Besonders tief ist der Schmerz bei Eltern, die ihr Kind beerdigen mussten. Noch immer können sie es nicht fassen, dass ihr Kind nicht mehr fröhlich singend zur Tür hereinkommt. Das Haus ist so leer geworden und die Wunde will einfach nicht heilen.
Darum lädt dieser Tag zur Solidarität ein, zur Solidarität mit denen, die trauern. Natürlich kann ich die Trauer einem andern Menschen nicht abnehmen, aber ich kann ihm meine Verbundenheit zeigen.
Christen dürfen darüber hinaus die Gewissheit haben, dass der Tod nicht das Letzte ist. Deshalb steht auf vielen Gräbern ein Kreuz. Es erinnert an Jesus von Nazareth; er ist nach christlicher Überzeugung durch den Tod hindurch ins neue Leben gegangen – in jenes Leben, das keinen Tod mehr kennt. Er macht uns auch gewiss, dass unsere Verstorbenen nicht tot sind, sondern lebendig in neuer Form, nicht mehr gebunden an Raum und Zeit.
Deshalb können manche die Gegenwart ihres Verstorbenen spüren, wie mir eine Witwe sagte: „Ich spüre meinen Mann, hier bei mir; ich spreche mit ihm, ich schimpfe auch manchmal mit ihm. Er hat es ja gut bei Gott, und ich muss mich noch abdackeln hier. Aber dann spüre ich auch wieder, dass er mich ermutigt, ich spüre seine Kraft in mir und ich weiß, dass wir eines Tages für immer vereint sein werden.“
Ich finde es schön, wenn ein Mensch diese Gewissheit hat. Natürlich kenne ich auch andere, die gar nichts spüren. Aber vielleicht werden sie es eines Tages auch spüren, dass ihr Verstorbener ihnen nahe ist. Ich bin sicher: Die Dankbarkeit für das Leben eines Mitmenschen bringt ihn uns auch näher. Denn die Dankbarkeit entspringt der Liebe und die Liebe bringt auch das Unmögliche fertig.





Die katholische Kirche gedenkt heute Nachmittag mit vielen andern Menschen der Verstorbenen, die auf den Friedhöfen begraben sind. Heute Vormittag denkt sie im Gottesdienst an eine besondere Gruppe der Verstorbenen, nämlich an die Heiligen. Sie denkt nicht nur an die bekannten und berühmten; sie haben ja alle einen eigenen Gedenktag wie Hildegard von Bingen oder Franz von Assisi, wie Elisabeth von Thüringen oder Wolfgang von Pfullingen, dessen Gedenktag gestern war.
Sie gedenkt heute auch der vielen Unbekannten, jener unzähligen Schar, die im letzten Buch der Bibel genannt sind. Der Verfasser dieses Buches sieht in seiner Vision zunächst aus den 12 Stämmen Jakobs je 12000 Erwählte, eine symbolische Zahl der Fülle des ersten Gottesvolkes Israel. Danach sagt er: „Ich sah eine unzählbare Menge aus jeder Nation, jeder Rasse und Sprache, die vor dem Thron und dem Lamm standen. Sie waren weiß gekleidet und trugen Palmen in ihren Händen.“ Damit meint der Verfasser jene Heiligen, die vor dem Thron Gottes stehen. Dieser unzählbare Strom der Menschen ist von der Liebe Gottes erfüllt; deshalb das weiße Gewand. Das Lamm, von dem er spricht, ist Jesus Christus, der sein Leben aus Liebe für die Menschen hingegeben hat wie ein Lamm, das geschlachtet wird.
Darum denke ich an Allerheiligen gern an die, die für mich ein Bild der Liebe Gottes geworden sind und die ich schon beerdigt habe. Ich habe an ihnen das gespürt, was für mich einen Heiligen ausmacht: nicht dass er schon auf Erden mit einem Heiligenschein herumläuft und mehr scheinheilig ist als heilig. Nein, ich denke an den, der etwas von der Liebe Gottes für mich durchscheinen ließ, z.B. durch die Offenheit, mit der er mir begegnete, durch sein Engagement für den Mitmenschen, durch seine Liebenswürdigkeit. An solche Menschen denke ich gern, weil sie mir Mut zum Leben machen.
Jesus sagte von ihnen: „Selig ihr Armen im Geiste; euch gehört das Himmelreich.“ Damit meint er nicht die, die geistig beschränkt sind; er meint die, die nicht angeben mit dem, was sie in Händen haben, was sie geschafft und erworben haben. Nein, die sind gemeint, die offene Hände und ein weites Herz haben. Jene Menschen sind gemeint, die unserem Leben Licht und Farbe gaben. In bestimmten schwierigen Situationen waren sie einfach da. Sie haben vielleicht gar nicht viele Worte gesagt. Sie haben uns einfach in den Arm genommen, und der düstere Horizont vor uns ließ einen Sonnenstrahl hindurch. https://www.kirche-im-swr.de/?m=210
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