SWR2 Wort zum Tag

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Immer noch schlagen die Wellen rund um Thilo Sarrazin hoch. Seine Thesen werden diskutiert, seine Lesungen sind proppenvoll. Und immer wieder ist zu hören, dass viele seiner Aussagen richtig seien. Vor allem, wenn es um die Furcht der Deutschen geht, dass sie mehr und mehr fremd im eigenen Land werden.
Was mich verblüfft: Wie aufgeregt das Thema diskutiert wird. Denn gerade Deutschland ist doch ein Land, in dem seit Jahrhunderten verschiedene Kulturen, Religionen und Konfessionen zusammenkommen. Dass sich etwa jahrzehntelang mitten in unserem Land Protestanten und Katholiken bekriegten, dass noch nach dem zweiten Weltkrieg aufrechte Katholiken nur zum katholischen Uhrmacher, echte Protestanten nur zum evangelischen Bäcker gingen, das wissen viele gar nicht mehr. Dass viele Bergarbeiter im Ruhrgebiet aus Polen kamen, ist kaum einem heute noch bewusst. Und dass Baden und Württemberg, dass die Eifel und die Pfalz mit ihren Menschen und Mentalitäten bis in die Gegenwart hinein als total unterschiedliche Kulturkreise gelten, blenden viele aus. Also: Wir waren uns schon unter den scheinbar normalen Deutschen oft genug fremd.
Wie aber der Umgang mit dem Fremden aussehen kann, damit kennen sich Christen wie Juden aus. Denn die gemeinsame Geschichte dieser großen Religionen beginnt als Geschichte in der Fremde. Die ersten Juden sind Sklaven in Ägypten, sind unterdrückt - und, heute würden wir sagen, alles andere als integriert. Dann aber flüchten sie unter der Leitung eines charismatischen Führers und erobern sich ihr eigenes Land. Und immer wenn im Folgenden in der Bibel das Thema Fremdheit auf der Tagesordnung steht, erinnern sich Juden wie Christen an diese Ursprungserfahrung. Interessant dabei ist, dass die Texte immer wieder mahnen: „Vergiss nicht, das auch du fremd im Land warst!" Und daraus leiten die biblischen Texte die Verpflichtung ab, sich um den Fremden zu sorgen.
Perspektivenumkehr heißt das. Und sie hilft mir, das eigene Land auch mit den Augen des Fremden wahrzunehmen. Dann kann ich nicht immer nur fordern: „Du musst dich integrieren!" Dann muss ich mich auch fragen: Was tue ich eigentlich, damit sich Fremde, Migranten, Zugezogene hier integrieren können? Ich muss mich fragen: Wie mache ich mein Land, meine Werte, meine Lebenshaltungen so attraktiv, dass Fremde hineinwachsen wollen und können in meine heimische Kultur? Eine solche Perspektivumkehr löst nicht auf die Schnelle die bestehenden Probleme. Aber sie bietet eine Chance, anders auf die Probleme von Fremdheit und Integration zu sehen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9022
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