SWR2 Wort zum Tag

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Vor 70 Jahren den Nazis entronnen, vor 40 Jahren in Stockholm verstorben - Nelly Sachs in ihren Gedichte und Dramen ist neu zu entdecken. Wenige haben das Leiden so im Licht biblischer Geschichten zu bewältigen versucht, wie sie. Indem sie den Schmerz der Gegenwart bis zum Verrücktwerden zulässt, und spürt, liest sie die Bibel neu. Als schriebe sie von sich selbst, so dichtet sie von dem biblischen König David: „aber im Mannesjahr / maß er, ein Vater der Dichter, / in Verzweiflung/ die Entfernung zu Gott aus, / und baute der Psalmen Nachtherbergen / für die Wegwunden." David , nicht irgendwer, denken wir an den Davidsstern, ein Großer Israels, nach der Überlieferung der Dichter der Psalmen. Die aber sind eben nicht am grünen oder runden Tisch entstanden, sie sind das stotternde Dokument der Vermessung der Welt in Verzweiflung. So groß ist die Entfernung zu Gott geworden, so gottlos das Treiben der Menschen und so weltlos das göttliche Wirken, dass es einen förmlich zerreißt. Bis in die sprachliche Gestalt hinein sind die Gedichte von Nelly Sachs gebrochen. Aber dichtend zwingt sie doch noch zusammen, was vollends auseinander gebrochen ist. Dürfen wir von der Kraft der Sehnsucht sprechen, vom verzweifelten Mut des Glaubens? Die Psalmen der hebräischen Bibel sind in der Lektüre von Nelly Sachs Ausdruck gewagter und bewältigter Verzweiflung, sprachgewordene Gottvermessung , und gerade so „Nachtherbergen für die Wegwunden". Da kann man auf der Flucht ausruhen, da gibt es für einige Stunden wenigstens ein Dach über dem Kopf und einen bergenden Sprachraum. Was Nelly Sachs von den Psalmen Davids sagt, gilt für ihre eigenen Gedichte. Deshalb dürfen sie nicht vergessen werden, gerade unter Christen und Juden nicht. Wo sonst könnte man lernen, die Bibel zu lesen und zu leben? Wo sonst wären die Kraftquellen zu spüren, um das Leben biblisch zu lesen und zu bewältigen ?
Realistisch nennt die Dichterin auch die Verbrechen Davids, immerhin hatte er noch vom Sterbebett aus viele Gegner ermorden lassen. Keine Schönfärberei also bei der Dichterin, aber auch keine Schuldzuweisung an Täter oder gar Opfer. Die Schlussstrophe des Gedichts sagt viel über die Sehnsucht von Nelly Sachs, viel über den biblischen Glauben; denn vom Engel ist die Rede, vom Licht, auch von Gott, von David. „Sterbend hatte er mehr Verworfenes/ dem Würmertod zu geben/ als die Schar seiner Väter- / denn von Gestalt zu Gestalt/ weint sich der Engel im Menschen / tiefer in das Licht!"

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