SWR4 Abendgedanken BW

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Mit welchem Auge beginnen Sie zu weinen?
Bei meiner Tochter ist es auf jeden Fall das linke Auge. Das hat sie mir als wissenschaftliche Erkenntnis vor ein paar Tagen mitgeteilt.
Aber auf ihre Frage, aus welchem Auge denn bei mir die erste Träne kullert, konnte ich ihr keine Antwort geben. Es ist zugegebenermaßen auch schon länger her, seit ich das letzte Mal geweint habe.

„Wenn ich mal wieder weine, achte ich darauf“, habe ich Lena versprochen. „Quatsch!“, hat da mein zweijähriger Sohn gesagt: „Mama weinen nix“.
Und es stimmt: Lena und Jan haben mich, wenn ich mich recht erinnere, noch nie weinen sehen. Für sie ist Weinen eigentlich nur etwas für Kinder.

Ich weine nur, wenn mal eine besonders traurige Szene im Fernsehen kommt, vielleicht noch beim Tod eines geliebten Menschen – aber das habe ich zum Glück bisher nur selten erleben müssen. Ansonsten verkneife ich mir das Weinen eher, auch wenn mir manchmal schon danach ist.

Meine Kinder sind da anders. Lena und Jan sind glückliche und zufriedene Kinder. Aber sie weinen trotzdem oft. Sie weinen, wenn sie wütend oder eifersüchtig sind. Sie weinen, wenn sie sich hilflos fühlen, ungerecht behandelt und natürlich, wenn sie sich stoßen oder verletzen. In solchen Momenten ist ihnen nur ihr Schmerz wichtig, der äußere oder der innere – alles andere um sie herum tritt in den Hintergrund. Und mir scheint immer: das Weinen tut ihnen gut. Als wenn der Schmerz irgendwie weg gespült wird.

Eigentlich dumm von uns Erwachsenen, dass wir das Weinen so verlernt haben. Denn auch die Wissenschaft zeigt: jede ungeweinte Träne ist schädlich für unseren Körper.
Trauertränen oder Wuttränen haben – biochemisch betrachtet – nämlich eine andere Zusammensetzung als die Tränen, die wir beim Zwiebelschneiden oder aus Freude vergießen. Durch Trauertränen verlassen Giftstoffe den Körper. Werden sie nicht geweint, bleiben sie in uns drin.
Und die „Gefühlstränen“ können sogar noch mehr: Sie enthalten eine Substanz, die schmerzlindernd wirkt. Durch das Weinen beruhigt sich unser Körper also selbst. Jede einzelne Träne, die warm und salzig über unser Gesicht läuft, lässt uns etwas loslassen, reinigt uns, heilt uns.

Ich finde: Tränen sind Gottesgeschenke für unsere Seele und für unseren Körper.
Schade, dass wir Erwachsene uns das so oft entgehen lassen.

Vielleicht sollte ich das nächste Mal, wenn ich traurig oder wütend bin, die Tränen einfach fließen lassen.

Und ich werde dann auf jeden Fall darauf achten, aus welchem Auge die erste Träne kullert
– schließlich bin ich meiner Tochter noch eine Antwort schuldig.
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