SWR4 Abendgedanken BW

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‚Wer ist das bloß, den hab ich lang nicht gesehen, hat sich irgendwie verändert.’ Erika sitzt im Bus, sieht ein bekanntes Gesicht. ‚Ja genau, der alte Lehrer von Thomas. Bei dem war ich doch mal, streng war der. Aber gelernt haben die Kinder viel bei ihm’. Sie lächelt in seine Richtung.
Der Mann schaut sie an, irgendwie suchend, fragend, dann dreht er den Kopf auf die andere Seite.
‚Oh je’, denkt Erika, ‚er kennt mich nicht mehr, aber er ahnt, dass er mich kennen müsste. Soll ich hingehen, sagen, wer ich bin, und fragen, wie es ihm geht?’
Sie tut es nicht. Neben ihm ist seine Frau aufmerksam geworden, aber Erika schaut schnell weg, bevor sie von der Frau erkannt wird.
Daheim erzählt sie Erwin davon. „Ich hab nicht gewusst, was ich machen soll. Ich glaub, er ist – wie sagt man? Verkalkt? Nicht mehr ganz da?“
„Dement heißt das“, sagt Erwin, „und du hättest ihn schon grüßen können oder auch ein paar Worte sagen.“
„Ja, aber was hätte ich machen sollen“, sagt Erika, „wenn er mich nicht gekannt hätte, das wäre doch peinlich gewesen. Ich war doch ein paar Mal bei ihm, als der Thomas solche Schwierigkeiten gemacht hat. Da war er eigentlich ganz nett, schon streng, aber auch verständnisvoll. Ach, ich fand das im Bus so schrecklich, eine solche Respektsperson, und dann – man hat es gesehen an seinem Blick, dass er nicht mehr der alte ist.“
„Und wer ist er jetzt?“, fragt Erwin. „Nicht mehr er selber? Und man muss ihn deshalb nicht mehr grüßen? Jetzt hat er doch erst recht ein bisschen Respekt verdient.“
„Genau“, sagt Erika, „ich glaub, ich hab ihn aus Respekt nicht angesprochen, weil ihm selber das vielleicht nur peinlich gewesen wäre. Seine Frau hat auch schon so geschaut. Stell dir vor, die hätte gesagt: Was, du kennst die Mutter von einem Schüler nicht mehr? Zugetraut hätt’ ich der das, so wie die geguckt hat.“
„Nicht ablenken“, sagt Erwin. „Um die Frau geht es jetzt nicht. Es geht darum, ob einer zu einer Nicht-Person wird, wenn er im Kopf nicht mehr so klar ist wie früher. Stell dir bitte vor, ich wäre das. Ich säße mit dir im Bus, und du merkst, wie eine Frau gegenüber mich erkennt, dann zusammenzuckt und wegschaut. Wie wäre das?“
„Meine Güte“, sagt Erika, „sei nicht so streng mit mir. Das mag ich mir nicht vorstellen.“
„Ja“, sagt Erwin, „aber das hilft jetzt gar nichts. Du hättest schon hingehen können und sagen, wer du bist, und dass du das damals so gut gefunden hast, wie du bei ihm warst.“
„Ist gut, du hast recht“, sagt Erika, „beim nächsten Mal denk ich dran. Wenn ichs nicht vergesse!“
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