SWR4 Abendgedanken BW

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Nirgends kann man sich hinsetzen! Erika ist müde vom Einkaufen, sie war in der Stadt, ist gerade in den Bus gestiegen. So viele Leute sind da gar nicht drin, aber manche haben ihre Tasche neben sich auf einem freien Platz liegen. Und ein Mann hat es tatsächlich geschafft, vier Plätze zu belegen. Wie er das macht? Ganz einfach – er hängt schräg auf einer Bank, und auf der anderen gegenüber steht groß und breit seine Tasche.
Erika drückt sich neben eine junge Frau, die ihren Rucksack an sich zieht und betrachtet den jungen Mann. Schwarze Lederjacke, Jeans, riesige Schuhe, mindestens Größe 48, denkt Erika. Unsympathischer Mensch.
Wie könnte sie dem beibringen, dass man das nicht tut? Soll sie das überhaupt? Nachher wird er noch unverschämt. So spielt sie im Kopf durch, was sie ihm sagen könnte: Junger Mann, sehen Sie nicht, dass Sie hier gleich vier Plätze belegen, und da vorne müssen andere Leute stehen? Die haben genauso ihre Buskarte bezahlt wie Sie – wenn er überhaupt bezahlt hat, geht ihr durch den Kopf.
Sie könnte auch zu ihm sagen: Zu meiner Zeit war es noch üblich, dass junge Leute aufgestanden sind, wenn eine Frau in meinem Alter keinen Platz hatte. Gut, das gibt es heute fast nirgends mehr, das will ich von Ihnen gar nicht verlangen, aber Sie könnten sich gerade hinsetzen und die Tasche auf den Boden stellen, das gäbe Platz für drei Leute.
Der Bus bremst, Unfallklinik, sagt die Stimme, von der man nie weiß, wo sie herkommt. Die Frau neben ihr steigt aus, und auch der junge Mann bereitet sich aufs Aussteigen vor. Endlich, denkt Erika. Da sieht sie, dass er große Schwierigkeiten mit dem Aufstehen hat. Laufen geht noch schlechter, irgendwas ist mit seinen Beinen. Seine Tasche tragen kann er gar nicht allein, zum Glück hilft ihm einer. Erika schaut hinter ihm her und sieht jetzt auf einmal einen kranken und vor allem sehr ängstlichen, unsicheren jungen Mann. Der vielleicht einen Unfall gehabt hat oder operiert worden ist, und das hat Probleme gegeben, und er muss noch mal in die Klinik. Wie muss das sein für so einen – noch so jung, und so unfertig, der kann doch gar nicht damit umgehen. Ob er eine nette Freundin hat, wenigstens. Und Arbeit? Dürfte schwierig sein. Hoffentlich können sie ihm helfen in der Klinik.
„Verzeihung, ist hier noch frei?“ Erika erschrickt. „Entschuldigung“, sagt sie, zieht ihre Tasche auf den Schoß und macht Platz für eine junge Frau, die sie freundlich anlächelt. „Sie waren so in Gedanken“, sagt die, „das ist man manchmal.“
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