SWR3 Worte

SWR3 Worte

Man denkt sich das Leben gern als einen Strom, der aus der Quelle entspringt und dann, immerfort wachsend, weiterfließt, bis er im Meer endet. Das Bild ist gut, es sagt aber nur die Hälfte der Wahrheit. ... Mit jedem Erwachen beginnt etwas Neues; ein Tag, der noch nie war. Wir vergessen das leicht. Wir sagen: Drei Tage, zwanzig Tage, hundert Tage, als ob es gleichmäßige Zeitmünzen wären, die man beliebig zählen kann; in Wahrheit gibt es jeden Tag nur einmal. In Wahrheit geht das Zählen nur auf der Oberfläche; den Kern zählen wir nicht. Denn es ist ja ein Lebenstag, mein Lebenstag, deiner, und eines jeden von uns. Der war noch nie und wird nie wiederkommen; ist anders als alle anderen und durch keinen zu ersetzen.

Romano Guardini, Nähe des Herrn. Betrachtungen über Advent, Weihnachten, Jahreswende und Epiphanie, Werkbund-Verlag: Würzburg 31964, 65f
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