SWR4 Abendgedanken BW

SWR4 Abendgedanken BW

Es scheint kein Einzelfall zu sein.
Da sitzt das alte Ehepaar am Tag der Goldenen Hochzeit am Frühstückstisch. Und die Frau denkt: Jetzt habe ich fünfzig Jahre lang Rücksicht genommen und immer ihm das knusprige Oberteil des Brötchens überlassen. Heute will ich es genießen.
Und sie schmiert sich die obere Hälfte und gibt die untere ihrem Mann.
Und der ist hocherfreut, gibt ihr einen Kuss: Liebling, du machst mir heute die größte Freude.
Und ich hab immer gedacht, du würdest die untere Hälfte so sehr mögen!

Es scheint kein Einzelfall zu sein. Denn jemand hat sich sehr viel Mühe gegeben und ein Brötchen erfunden, das man drehen und wenden kann, wie man will: Jede Seite ist oben.
Im August soll es auf den Markt kommen, zumindest mal in Nürnberg.
Jetzt müsste aber auch noch jemand das Brötchen erfinden, das nur untere Hälften hat.

Natürlich kann man auch andere Lösungen finden: Man könnte zum Beispiel das Brötchen senkrecht teilen. Man könnte zu der bewährten Regelung greifen, dass der eine teilt und der andere wählt. Aber das funktioniert natürlich nur, wenn der, der wählt, auch den Teil wählt, den er wirklich will.
Eigentlich ist klar: man sollte darüber reden – statt nur zu vermuten, welche Vorlieben oder Abneigungen der andere hat. Fragen ist besser als vermuten. Wünsche aussprechen ist besser, als sie zu unterdrücken.
Es fängt damit an, dass ich meine Wünsche – die großen und die kleinen, die normalen und die eher ausgefallenen – bei mir selbst wahrnehme und mir eingestehe.
Und dass ich mir zutraue, sie zu äußern. Das heißt ja noch nicht, dass ich sie auf alle Fälle durchsetzen will oder dass der andere sie erfüllen müsste.
Ich traue mir und dem anderen zu, dass jeder zu seinen Wünschen und Vorlieben stehen und doch auch Abstand zu ihnen gewinnen kann.

Dafür ist das Gebet eine gute Schule. Denn jeder, der betet, lernt, zu seinen Wünschen zu stehen und sie zu äußern, vielleicht sogar die Wünsche, die einem ein bisschen peinlich sind oder deren man sich schämt. Warum sollte ich sie vor Gott verschweigen, der ja in mein Herz sieht. Aber vor ihm prüfe ich meine Wünsche: Will ich das wirklich? Was verspreche ich mir davon? Wem könnte es schaden?
Vor Gott verlieren meine Wünsche ihre Absolutheit und ich kann Abstand zu ihnen gewinnen und damit ein Stück Freiheit – meinen Wünschen gegenüber, mir selbst gegenüber. Und so werde ich auch offener für die Wünsche des anderen und lerne, nach ihnen zu fragen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=4337
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