SWR4 Abendgedanken BW

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Hast Du mal Zeit? Wenn ich diese Frage gestellt bekomme, muss ich meine Antwort erst mal mit dem Terminkalender abstimmen. Der Blick in den Kalender entscheidet, ob ich einen Termin ab oder zusagen kann.
Filofax, Terminplaner oder Kalender - egal, wie ich es nenne, unsere Kultur hat Techniken entwickelt, die Zeit einzuteilen und zu planen. Es gibt sogar Seminare, bei denen ich lernen kann, wie ich am effektivsten mit der Zeit umgehe und Zeit spare.
Das heißt zum Beispiel, dass ich Tätigkeiten, bei denen ich konzentriert sein muss, in die besten Zeiten des Tages lege, und in Zeiten, wo ich nicht ganz so fit bin, staubsauge, einkaufen gehe oder eben was Leichteres tue. Sport ist abends dran, natürlich einige Zeit vor dem Schlafengehen. Ich kann den ganzen Tag so durchstylen und wenn ich es gut mache, dann plane ich sogar Freizeitaktivitäten, Pausen und Zeiten mit Freunden mit ein. Es hat Zeiten gegeben, da war ich richtig perfekt drin. Der Clou ist nur: Ich habe so zwar viel Zeit gespart, aber bei der Zeit ist es eben so: Je mehr ich von ihr spare, desto weniger habe ich. Das macht sich bemerkbar, wenn mal was Ungeplantes dazwischenkommt oder der Einkauf länger dauert als geplant, weil die Schlange an der Kasse lang ist oder weil der Kunde am Postschalter vor mir noch ein paar komplizierte Fragen hat. Ich merke, wie ich dann innerlich ungeduldig werde und umplanen muß…
Zeit sparen durch perfektes Einteilen bringt also nicht mehr Zeit, sondern eher weniger! Außerdem bin ich so immer unflexibler, weil ich ja keine Möglichkeit habe, spontan mal was zu unternehmen und eine Lücke im Tag auszufüllen.
Seit ich das weiß, bin ich zwar kein Trödler geworden. Zeit ist für mich immer noch etwas Heiliges. Es ist ja meine Lebenszeit! Aber meine Lebenszeit besteht nicht nur in der Zeit, die ich mir abspare, sondern auch in der Zeit, in der ich arbeite, einkaufe, aufräume und sogar in der Zeit, in der ich in einer Schlange anstehe und warte. Es gelingt mir zwar nicht immer, aber ich versuche jetzt, Wartezeiten bewußt in Kauf zu nehmen und mich daran zu freuen, dass ich Zeit habe. Denn mit meiner Ungeduld mache ich diese Zeiten ja nicht kürzer oder schöner. Stattdessen versuche ich durchzuschnaufen und mir Gedanken über zu dieses und jenes zu machen. Also auch eine Zeit, in der ich lebe - einfach nur so! Und das hat noch einen Nebeneffekt: Indem ich so mit meiner Zeit umgehe, behandle ich sie auch wie etwas Kostbares, Heiliges. Nicht nur, wenn ich sie mit anspruchsvollen Dingen fülle. Sondern, weil ich sie gerade nicht verplane.
Am deutlichsten spüre ich das wenn ich an der Kassenschlange jemand vorlasse, Wenn ich da sage „Gehen Sie ruhig vor, ich habe gerade Zeit!“, ernte ich erstaunte Blicke und bewundernde Kommentare: „Das gibt’s auch selten. Sie müssen ja ein glücklicher Mensch sein“. Und recht haben sie, denn wenn mir das gelingt – und es gelingt mir auch nicht immer – dann bin ich wirklich ein entspannter und damit glücklicher(er) Mensch.
(In diesem Sinne: Eine glückliche Zeit an diesem Abend!)
https://www.kirche-im-swr.de/?m=3410
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