SWR2 Wort zum Tag

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24SEP2020
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„Immer dieses Leiden“, sagt jemand aus der Wandergruppe, als wir auf dem Gipfel des Raschötz in Südtirol stehen.

Das Gipfelkreuz zeigt in moderner Darstellung einen geschundenen Jesus. Eindrücklich erhebt sich das Kreuz mit dem in sich verkrümmten Corpus in den strahlend blauen Himmel. Ringsum sind die schönsten Gipfel der Dolomiten zu sehen. Ein Bild voller Kontraste.

‚Immer dieses Leiden…‘ Seit jeher haben sich Menschen am Kreuz gestoßen. Muss so ein Zeichen im Zentrum des christlichen Glaubens stehen?

Schon in der Bibel wird das Kreuz ein Ärgernis und eine Torheit, wörtlich: ein Skandal genannt. Die früheste Kreuzesdarstellung, die wir kennen, ist das so genannte Spottkreuz auf dem Palatin in Rom. Darauf wird Jesus mit einem Eselskopf dargestellt. Ein leidender Gottessohn – das war in der Antike anstößig – und in Ansätzen ist das bis heute so.

Das Kreuz hat ja auch etwas Kränkendes. Gerade beim Gipfelkreuz merke ich das. Wir haben einen Berg erklommen und haben mühsam Höhenmeter um Höhenmeter zurückgelegt. Aber selbst oben angekommen stehe ich nicht über allem. Da ist immer noch einer über mir – und dann auch noch solch eine leidende Figur!

Der leidende Jesus. Manche sagen: Solche Darstellungen machen den Menschen klein. Sie stellen ihn nur als schwach und verletzlich dar und idealisieren das Leiden.

Das widerspricht vielem, was wir erleben: Besonders wenn ich auf einen Berg wandere, spüre ich, was ich schaffen kann. Ich fühle mich vielleicht müde, aber stark und lebendig. Die Aussicht, die herrliche Landschaft – mein Gefühl ist: Hier oben bin ich dem Himmel ganz nah!

Aber es gibt eben auch die anderen Seite: Wenig später erzählt jemand von der Diagnose, die er bekommen hat und wie sie das Leben verändern wird. Mehrfach reden wir auf unserer Wanderung auch über die vielen Toten, die der erste Weltkrieg in den Dolomiten gefordert hat.

Als Menschen sind wir stark – und sehr verletzlich. Mit dem Kreuz gehört beides auch zu Gott: Jesus hat sich eingesetzt für die Menschen und er starb geschunden und verletzt. In ihm hat Gott selbst menschliches Leid erlebt und er hat es überwunden. Egal, wie schlecht es mir geht – das letzte Wort behält nicht das Leiden, sondern das Leben. Dafür steht das Kreuz.

Für mich macht es den Menschen deshalb nicht klein. Im Gegenteil: Es macht Gottes Menschlichkeit groß.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31729
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