Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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23SEP2020
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In diesem Sommer wurde in meiner Straße ein Haus abgerissen. Seit einiger Zeit stand es leer. Und es verfiel immer mehr, bis es nun abgerissen wurde. Die Erwachsenen und die Kinder, die zuhause waren, nutzten jede Gelegenheit, den Abriss zu beobachten. Mit dem Dach ging es los. Ziegel, Holzlatten, Mauern und Steine wurden abgetragen. Stockwerk für Stockwerk. Die Jungs am Straßenrand durften sogar die Fenster mit Steinen einwerfen. Zuletzt wurden die Fundamente ausgegraben. Drei, vier Tage dauerte das Ganze und dann war das Haus einfach verschwunden. Die Lastwagen haben eine Ladung nach der anderen weggefahren.

Ich habe in diesen Tagen oft an meine frühere Nachbarin gedacht. Mir vorgestellt, wie sie ihr Leben in diesem Haus verbracht hat, mit ihrem Mann und den Kindern. Die letzten Jahre hat sie alleine darin gewohnt, bis sie es ausgeräumt hat und ins Seniorenheim gezogen ist. Für das Haus hat sie geschuftet und gespart. Sie hat es geputzt und renoviert, darin geschlafen, gekocht, gestritten, gelacht und gebetet. In dem Haus wurden Geburtstagsfeste gefeiert und Wasserrohrbrüche behoben. Vor Freude eine Kissenschlacht gemacht und voller Trauer geweint. Hier wurde abends den Kindern im Bett vorgelesen, unzählige Kuchen für alle möglichen Feste gebacken, Schürfwunden versorgt und das Gemüse, das aus dem Garten kam, mit Freude verarbeitet. Und sicherlich wurde manches Mal auch die Tür zugeschlagen, wenn alles zu viel wurde.

Das Haus ist jetzt zwar verschwunden. Aber all das Erlebte bleibt! Es bleiben die Erfahrungen, die meine Nachbarin an ihre Kinder weitergegeben hat. Der Trost, den sie gespendet und die Werte, die sie vermittelt hat. Es bleibt die Liebe, die sie verbreitet hat. Und all das wirkt weiter, selbst wenn Mauern längst abgerissen und die Steine weggeräumt sind.

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