SWR2 Wort zum Tag

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15SEP2020
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„Zeige deine Wunde“ - das ist ein Leitsatz, der heutzutage auffällig oft zitiert wird. Versteck nicht länger, was dich schmerzt und verletzt, sondern teile dich mit.  Vulnerabilität lautet das Stichwort, erspüre deine Widerstandskraft und zeige sie. Vor 40 Jahren, als der Künstler Joseph Beuys dazu eine Installation machte, war das noch exotisch. Aber inzwischen haben viele Abschied genommen vom Leitbild des unverwundbaren Menschen. In jeder Verletzung steckt vielmehr, wird sie wirklich angeschaut und mitgeteilt, die Chance auf neue Lebensenergie. Jede wunde Stelle im Leben birgt auch Schätze der Entwicklung. Ohne sich Blößen zu geben, wird man schwerlich weiterkommen. Und vor allem: wer kein Gespür für das Schmerzende und Wunde im eigenen Leben hat, wird sich schwerer tun mit Empathie und Mitleiden mit anderen. Also „zeige deine Wunde“- mach dich berührbar, dadurch wird es wärmer in der Welt und liebevoller für andere.

Deshalb wird heute in der katholischen Liturgie der Schmerzen von Maria gedacht, der Mutter Jesu. Da wird keine strahlende Madonna angeschaut, sondern die trauernde Mutter eines verhaltensauffälligen Sohnes. Wie hat sich doch dieser Jesus riskiert und angreifbar gemacht. Schon der Evangelist Lukas interessiert sich deshalb auch für das Schicksal der Mutter Jesu. „Deine Seele wird ein Schwert durchbohren“ (Lk 2,35), so lautet da die Prognose. Die schmerzhafte Mutter Jesu ist für unzählig viele Menschen zur Trösterin geworden. Wie viele Skulpturen der Pieta waren und sind Orte des Gebetes. Dass Maria das alles durchgestanden hat, ihrem Sohn treu auf der Spur, wird gar Anlass zur Hoffnung schon mitten im Leiden.

„Zeige deine Wunde“ - vielleicht gibt es keine Religion, die die Gewalt- und Leidensgeschichten so in den Mittelpunkt stellt wie das Christentum. Der österliche Jesus bleibt für immer erkennbar an seinen Wundmalen. So sehr hat er sich berührbar gemacht für Gott und die Mitmenschen. In seinem Namen braucht man die eigenen wunden Stellen nicht länger zu verbergen, und man kann beim anderen erspüren, was ihm oder ihr fehlt. Die Schmerzen Marias dürfen sein, und unsere eigenen auch. Sie können zu Orten heilender Begegnung werden.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31643
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