SWR2 Lied zum Sonntag

SWR2 Lied zum Sonntag

05JUL2020
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Psalm 130. Einer der bekanntesten Psalmen. Zumindest die ersten Zeilen klingen sicher vielen vertraut: "Aus den Tiefen rufe ich, Herr, zu dir: Mein Herr, höre doch meine Stimme!" Eine Bitte, die nahe geht. Eine Bitte, die auf viele Situationen der Not passt. Da weiß ich nicht, ob mein Job noch sicher ist in Corona-Zeiten. Da reicht das Geld vorne und hinten nicht. Da wird ein geliebter Mensch krank. Da passt es nicht in der Partnerschaft oder mit den Kindern und Enkelkindern. Situationen, für die es keine einfache oder schnelle Lösung gibt.

 

  1. Aus der Tiefe rufe ich zu dir: / Herr, höre meine Klagen. / Aus der Tiefe rufe ich zu dir: / Herr, höre meine Fragen.

 

Der wiederkehrende Vers "Aus der Tiefe rufe ich zur dir" greift die erste Zeile von Psalm 130 auf. Doch während der Psalm von hier aus weiter denkt, konzentriert sich der Text von Uwe Seidel auf diesen Ruf aus dem Abgrund: "Aus der Tiefe rufe ich." Da ist jemand ganz unten - und er ringt darum, dass er gehört, erhört wird. Nur einige wenige Worte deuten diesen Ruf aus. So bleibt das Lied ein offener Raum, in dem alle, die singen, ihre eigenen Abgründe und Tiefen sehen können.

 

  1. Aus der Tiefe rufe ich zu dir: / Herr, öffne deine Ohren. / Aus der Tiefe rufe ich zu dir: / Ich bin hier ganz verloren.

 

Psalm 130 hatte eine enorme Wirkungsgeschichte. Eines der berühmtesten Lieder von Martin Luther - Aus tiefer Not schrei ich zu dir- ist eine Nachdichtung dieses biblischen Gebetes. Und die musikalischen Auseinandersetzungen mit dem Psalm sind kaum zu zählen. Sicher auch, weil er eine universale Situation beschreibt: Die Erfahrung, zu versinken, immer tiefer - und keinen Ausweg, kein Licht, kein Oben zu finden. Johann Sebastian Bach hat diese Ohnmacht in der Kantate Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir(BWV 131) in unglaublicher Weise verdichtet.

 

Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir

Johann Sebastian Bach / BWV 131

 

Flehentlicher kann man wohl kaum singen. Kein Wunder, dass manche vermuten, dass Bach den Psalm für einen Begräbnisgottesdienst geschrieben hat. Und trotz dieses Abgrunds: In meinen Ohren klingt der Anfang der Kantate Bachs auch tröstlich. Denn da singt niemand allein. Da verzahnen sich Stimmen, ergänzen sich, greifen sich sozusagen musikalisch unter die Arme. Das ist auch eine Erfahrung, die Menschen seit langem mit diesem Psalm machen. Indem ich ihn bete, schöpfe ich Hoffnung, erfahre Trost.

 

  1. Aus der Tiefe rufe ich zu dir: / Nur dir will ich vertrauen. / Aus der Tiefe rufe ich zu dir: / Auf dein Wort will ich bauen.

 

Ganz schlicht illustriert der Komponist Oskar Gottlieb Blarr den Text. Der Melodiebogen von "Aus der Tiefe" steigt tatsächlich aus der Tiefe empor, hat seinen höchsten Punkt in der Mitte der Zeile und fällt dann langsam wieder in die Tiefe. Flehentlich, sehnsüchtig ruft hier ein Mensch nach Gott. Aus aller Tiefe. Und dieser Mensch erfährt: Auch im tiefsten Abgrund bin ich nicht allein. Ich bin getragen von einer Melodie, anderen Stimmen – und der Hoffnung, dass ich gehört werde.

 

 

Aus der Tiefe rufe ich zu dir

Text: Uwe Seidel / Musik: Oskar Gottlieb Blarr

aus: Wenn der Stacheldraht blüht, 1981, LC 05648 / Länge 3:19

© tvd-Verlag Düsseldorf

 

Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir

Johann Sebastian Bach / BWV 131

aus: Collegium Vocale, Ghent / Philippe Herreweghe: JS Bach. Cantatas 39, 73, 93, 107, 131

CD 1, Track 1, Länge 04:20

Errato /Veritas x2 / LC 7873

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31221
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