SWR4 Abendgedanken

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23JUN2020
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Auf den ersten Blick gibt es keine Gemeinsamkeit. Zwischen Heiner Wilmer, dem katholischen Bischof von Hildesheim, und meiner 15-jährigen Tochter. Trotzdem haben beide genau dieselben Fragen gestellt; zur selben Zeit. Jetzt, während der Corona-Pandemie. Sie lauten: „Welche Relevanz hat die Kirche?“ und „Wozu sind Christen eigentlich da?“
Bischof Wilmer hat sehr früh vor einer „Fixierung nur auf die Eucharistie“ gewarnt. Weil es eine Flut an Gottesdiensten gegeben hat, die im Internet übertragen wurden. Ich habe das gut nachvollziehen können; denn wenn etwas in den Medien über Kirche während Corona berichtet wurde, dann ging es meist darum, wann und wie Gottesdienste unter welchen Auflagen gefeiert werden können. Was viel weniger Beachtung gefunden hat: in diesen Corona-Monaten ist ganz viel unterhalb des Sichtbaren geschehen; denn: Christen sind Experten für Seelsorge und Hoffnungsarbeit. Sie haben Kranke und Sterbende in Kliniken und Hospizen begleitet, sie haben unter den Fenstern von Seniorenheimen musiziert, sie haben für Familien Ostertüten gepackt. Für Obdachlose gekocht. Telefondienste eingerichtet. Einkaufshilfen organisiert. Die Liste ist lange.

Die Kirchen sind aktuell fast leer, vor Corona waren sie auch nicht voller. Welche Relevanz hat die Kirche noch? Neben allem, was im Einzelfall reformiert werden muss, braucht es noch eine grundsätzliche Antwort, findet der Hildesheimer Bischof: Warum machen wir das alles überhaupt? Warum Kirche, warum Glaube? Auch mich beschäftigt das. Und ich merke eine Antwort fällt mir nicht leicht: Ich glaube, dass meine ganze Lebensweise eine Antwort sein muss: wie ich mich benehme, wie ich Menschen begegne, mit welcher Haltung. Wo ich einkaufe und wie ich mit der Natur umgehe. Und noch etwas – und das ist der schwierigste Part: Als Christ muss ich zeigen, dass ich glaube. Dass ich vertraue. Auf Gott und seine Gnade. Ich kann mir selbst kein perfektes Leben machen. Ich muss etwas offenlassen. Ich muss mir erlauben nach dem zu suchen, das über das Materielle hinausweist. Der Theologe Eckhardt Nordhofen nennt es das „übernatürliche Brot“. Darüber sprechen zu können, empfinde ich als große Herausforderung.
Vielleicht sind meine Antworten und das, was ich vorlebe, für meine Tochter noch nicht konkret genug. Aber ihre Reaktion auf den amerikanischen Präsidenten Donald Trump zeigt mir: eine Ahnung davon, wie man einen Christen beschreiben kann, ist mindestens bei ihr angekommen. Wegen eines Pressetermins hatte Trump eine Demonstration gegen Rassismus und Gewalt mit Tränengas auflösen lassen. Anschließend hat er eine Bibel in die Hand genommen und hat sie in die Höhe gereckt. Meine Tochter hat es mit den Worten kommentiert: „Das hat ja jetzt wohl gar nichts mit Gott zu tun!“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31154
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