SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

22JUN2020
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Manchmal stehe ich ganz früh auf. Sehr früh, noch bevor die Sonne aufgeht. In diesen Wochen ist das gegen 5.00 Uhr. Diese Tageszeit ist normalerweise überhaupt nicht meine Sache. Freiwillig früh aufgestanden bin ich bisher nur, wenn wir in den Urlaub gefahren sind, um den Staus aus dem Weg zu gehen. Und dann habe ich den ganzen Tag gemurrt, weil ich müde war.

Warum habe ich es in den letzten Monaten trotzdem getan? Warum bin ich losgefahren oder gelaufen, mit meinem Rucksack und dem Fotoapparat? Raus aufs Feld oder zum Trauf der Schwäbischen Alb? Ich habe es mir selbst erst im Nachhinein beantworten können.
Weil ich ab und zu einen neuen Anfang suche. Und die Corona-Zeit hat so einen Anfang geradezu herausgefordert. Wie so viele andere Familien bin auch ich mit meinen Kindern über Wochen fast überwiegend im Haus gewesen. Es ging gut. Anfangs holperte es etwas, wie sollte es auch anders sein. Wir mussten erst lernen, wie Schule zuhause gut gehen kann. Und wie wir uns organisieren müssen, damit meine Arbeit nicht ganz liegen bleibt, die Wäscheberge trotzdem kleiner werden und täglich drei Mal Essen auf dem Tisch steht. Aber eines haben wir über die drei Monate ohne Schule und feste Zeiten im Büro nach und nach verloren: unseren Tagesrhythmus. Wir haben alle keinen Wecker gestellt, abends wurde es oft spät; morgens auch. Die Tage sind alle ähnlich abgelaufen und dahingeschlichen. Wir mussten sogar aufpassen, dass wir die Feiertage nicht verpasst haben.

Es gibt viele Möglichkeiten, den Anfang eines Tages zu gestalten: Für die einen ist es das Gebet oder die Meditation am Morgen. Für andere der Kaffee draußen, auf der Terrasse. Mancher Anfang beginnt auch am Abend. Mit dem Blick zurück auf den vergangenen Tag. Oder mit dem Griff zum Buch, noch ein paar Seiten lesen vor dem Einschlafen. Neu anfangen heißt nicht zwingend, das Leben neu auszurichten. Sondern sich auf diesen besonderen Moment wirklich einzulassen.
Auf der Suche nach dem Anfang ist mir die Natur in den letzten Monaten eine Hilfe gewesen. Die Verbindung mit der Schöpfung hat mich dem Ur-Anfang, wieder nahegebracht. Und damit auch Gott.
In diesen Momenten unter freiem Himmel habe ich seine schöpferische Kraft gespürt: Wenn das Licht den Schatten verschiebt. Wenn die Dämmerung nach und nach die Farben freigibt. Es ist die heilsame Kraft des Anfangs, der uns bei Gott immer offen steht. Diese Anfänge am frühen Morgen haben mir Ruhe verschafft, für mich und für meine Familie. Und der Rhythmus der Schöpfung hat meinen eigenen Rhythmus neu justiert.

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